Den Schuss hören
Von Jens MehrleEinmal mehr beschließt ein Berliner Senat – diesmal geführt von CDU und SPD – Sparauflagen. Für soziale, ökologische, schulische, kulturelle, künstlerische, für alle gesellschaftlich wichtigen Zwecke. Verantwortlich dafür macht er eine Schuldengrenze, sinkende Einwohnerzahlen, eine falsche Politik in der Vergangenheit, aber auch gestiegene Energiekosten und den Krieg in der Ukraine.
Der Intendant des Berliner Ensembles, Oliver Reese, erklärte bei den auf die Ankündigung des Senats folgenden Debatten: »Wir haben den Schuss gehört. Wir ergreifen Sparmaßnahmen.« Obgleich er zu den verdienstvollen Initiatoren der Proteste gegen die Kürzungen gehört und sein Satz das Verständnis einer Weggabelung ausdrückt, die zu Entscheidungen zwingt, könnte, den Schuss wirklich zu hören, zu anderen Konsequenzen führen, als Sparmaßnahmen zu ergreifen. Um das zu erkennen, wäre allerdings nötig, den oft ausgeblendeten Zusammenhang zwischen Geschichte und Gegenwart herzustellen. Die Angriffe der Regierung laden dazu ein.
Das Verhältnis von Theater und Gesellschaft, mithin zur Politik, ist ein besonders unmittelbares, findet Theater doch ausschließlich in der Öffentlichkeit eines Publikums statt, was bereits die Wahl des Gegenstandes der Bühnenhandlung beeinflusst. Es bedarf bestimmter Apparaturen: des Raums, der Akteure und der Zuschauer. Zwar ist alle Kunst für die Öffentlichkeit, doch Theater ist die öffentliche Kunst. Daher ist es, obgleich die angedrohten Kürzungen einen Angriff auf die gesamte Gesellschaft darstellen, lohnend, genauer die Reaktion der Theater zu betrachten. Auch spricht die Aufmerksamkeit, die die Proteste erhalten, für eine fortwährende Potenz von Theater, die ihm von seinen Produzenten selbst oft nicht mehr zugetraut wird.
Weltstadt der Bühnen
In Berlin wurde die direkte Abhängigkeit des Theaters von der Politik im 20. Jahrhundert materiell spätestens spürbar, als die Theater mit der von Goebbels im August 1944, also vor 80 Jahren, verkündeten »Theatersperre« geschlossen wurden, um alle Kräfte für den faschistischen Krieg zu mobilisieren. 1945 lagen sie dann zu großen Teilen in Trümmern. Einige Häuser erstanden nie wieder, wie das Lessing-Theater, das Komödienhaus am Schiffbauerdamm, die Krolloper, das Rose-Theater oder das Schauspielhaus, das man zwar wieder aufbaute, aber als Konzerthaus.
Brecht sprach 1951 nach seiner Rückkehr aus dem Exil in den USA und nach seiner Entscheidung für die DDR, in der er die Gelegenheit erhielt, das Berliner Ensemble zu gründen, auf dem gesamtdeutschen Kulturkongress in Leipzig auch von den geistigen Trümmern, in denen die Theater lagen: »Daß die Beschädigung an den Theatergebäuden soviel sichtbarer war als die an der Spielweise, hängt wohl damit zusammen, daß die erstere beim Zusammenbruch des Naziregimes, die letztere aber bei seinem Aufbau erfolgte.« Die Kunstmittel des Theaters, »welche so lange Zeit zu ihrer Ausbildung brauchen«, seien »so gut wie zerstört durch den Geist des Rückschritts und der Abenteuer«. Aus dieser geistigen, künstlerischen und materiellen Depression leitet er als rettendes Programm für die Theater ab, sich zu überfordern und sich eben der Wirklichkeit auf neue Weise zuzuwenden: »Unzulänglich in sich selbst, als Theater, mußte es sich anstrengen, auch noch seine Umwelt zu verändern. Es konnte hinfort seine Abbildungen der Welt nur noch zu gestalten hoffen, wenn es mithalf, die Welt selbst zu gestalten.« Dass Brecht glaubte, dieses sei auf neue Weise im Sozialismus möglich, wird deutlich, wenn er erklärt, diese Anstrengungen des Theaters würden auch für den anderen Teil Deutschlands unternommen. Bereits 1948 hatte er geschrieben: »Die Bourgeoisie wirft die Kunst gemeinhin als erstes über Bord, wenn ihr Schiff zu sinken beginnt, und nicht nur, weil die besten Künstler schon vordem begonnen haben, an der Senkung des Schiffs mitzuarbeiten. Das Proletariat ruft sie zu sich, wenn es die Herrschaft übernimmt.« Und er fand dafür die Sorgfalt der frühen Sowjetregierung für die Kunst so beispielhaft wie den Vorgang, dass im »eroberten Berlin der Sowjetkommandant schon in den allerersten Tagen anordnete, daß die Theater geöffnet würden, die Hitler geschlossen hatte.« Der neue Staat rief tatsächlich die Künstler, viele kamen, und die Arbeiter bauten die Staatsoper und die Volksbühne wieder auf, die einst von Arbeitern als ihr Theater finanziert worden war, im Bewusstsein, künftig selbst in Oper und Theater zu gehen.
Wie anders der gegenwärtige Bürgermeister von Berlin, der die »Verkäuferin im Supermarkt, die wahrscheinlich eher selten in die Staatsoper« gehe, von der Last, »mit ihrem Steuergeld die Eintrittskarten allesamt« mitzusubventionieren, entlasten will, also fordert, die Kartenpreise zu erhöhen, auf dass sie künftig gewiss nie mehr in die Oper gelangt. In der DDR-Hauptstadt Berlin, in der Verkäuferinnen sich die Oper nicht nur leisten konnten, sondern auch besuchten, wurden mit dem Berliner Ensemble, dem Maxim-Gorki-Theater, der Komischen Oper Felsensteins, dem Theater der Freundschaft, dem ersten staatlichen Kindertheater, später dem Puppentheater und dem Theater im Palast sechs Häuser mit jeweils eigenen Ensembles neu gegründet. Derart herausgefordert, entstanden auch in Westberlin neue Gebäude: für die Staatlichen Schauspielbühnen das Schiller-Theater, ebenso für Deutsche Oper und Freie Volksbühne. Später wurde die private Selbstgründung der Schaubühne von Beginn an mit Subventionen unterstützt.
Beide, Westberlin und die Hauptstadt der DDR, entwickelten sich jeweils zu Kunst- und Bildungszentren, allerdings auf Basis eines langen Prozesses und verschiedener Einflüsse, die die Stadt mit beginnendem Imperialismus zu einer Weltstadt des Theaters gemacht hatten. Auch Westberlin profitierte vielfach vom unbestrittenen Glanz des DDR-Theaters in Berlin und vom Kampf um die kulturelle Hegemonie, der zwischen beiden deutschen Staaten geführt wurde.
Von der Regierung der DDR lässt sich nicht behaupten, was Brecht der Bourgeoisie nachsagte: dass sie als erstes die Kunst über Bord werfe. Noch in ihrem Niedergang förderte sie unvermindert Kunst und Kultur, allein in der Spielzeit 1988/89 stellte man 130 Millionen Mark für die Theater in Berlin bereit. Es waren keine Etatkürzungen, die in dieser Phase die Künstler direkt politisch agieren ließen. Im Oktober 1989 gab es wenige Theater, an denen keine Diskussionen zur Lage im Lande, zu den vielen Menschen, die in dieser Zeit die DDR verließen, zur fehlenden Presse- und Meinungsfreiheit, zu Übergriffen der Staatsgewalt auf Demonstranten stattfanden, und es fand sich kaum ein Theater, das keine Petition an Staats- und Parteiorgane verfasst hätte. In den heute naiv anmutenden Forderungen nach bürgerlicher Demokratie zeigte sich, wie sehr ein Bewusstsein des Sozialismus verlorengegangen, wie wenig er aktiv mitgestaltet worden war, aber in der Art der Aktion und der Freude darüber gleichzeitig, wie real er bereits war. Auf der Protestdemonstration am 4. November 1989, die von einer Initiativgruppe und einer Vorbereitungsgruppe gewerkschaftlicher Vertrauensleute der Theater vorbereitet worden war, an denen keine Intendanten beteiligt waren, traten neben Politikern und Schriftstellern auch neun Schauspieler auf die Bühne, die der Bühnenbildner Henning Schaller auf die Ladefläche eines Lkw hatte zimmern lassen, sie stellten damit die zahlenmäßig größte Berufsgruppe unter den 26 Rednern.
Auch wenn Geheimdienstaktivitäten im Hintergrund zu vermuten sind, wurde doch nicht die Wiedereinführung des Kapitalismus gefordert. Die meisten Beiträge zielten auf eine, wenngleich kaum vorhandene, Konzeption einer veränderten, nicht jedoch abzuschaffenden DDR. Dennoch warfen auch die Theaterleute in den kommenden Monaten, schon durch fehlende Gegenwehr, ihren Staat mit über Bord.
Schließungen
Die Gegenseite dankte es ihnen nicht. Keineswegs zu einer Zeit, in der das Schiff sinkt, wie Brecht behauptet hatte, sondern zwei Jahre nach ihrem höchsten Triumph begann die Bourgeoisie der BRD, sich der Kunst und auch der Theater in Berlin zu entledigen. Weder übernahm die Regierung die Finanzierung der ehemaligen Staatstheater, noch wollte der Berliner Senat zur Schließung einer Finanzlücke im Etat auf Kürzungen im Kulturhaushalt verzichten. Die Schauspielbühnen im Osten Berlins, die als Wegbereiter der Proteste gegen die Regierung der DDR galten und dafür gelobt worden waren, sollten, mit Ausnahme des Theaters im Palast, vorerst von Schließungen verschont bleiben. Der Senat entledigte sich statt ihrer zu Beginn der 1990er Jahre eines Großteils der Westberliner Theaterensembles. So wurden die Freie Volksbühne und das Schiller-Theater mit seinen etwa 80 Schauspielern und einem Etat von 40 Millionen geschlossen. Von den Schauspielbühnen Westberlins, die über ein eigenes Ensemble verfügten, blieb nur die Schaubühne übrig. Weitere Eingriffe folgten: die Umwandlung des Berliner Ensembles in eine GmbH, die Zusammenlegung von Orchestern, das Ende des Tanztheaters der Komischen Oper, die Schließung des Metropoltheaters als einzige Operettenbühne Berlins, die Schließung des Puppentheaters als Bühne mit Ensemble. Es waren Eingriffe in die Struktur. Und wenn auch etliche Spielstätten neu entstanden, so sind deren Bespieler als freie Theater auf Förderungen und somit die jeweiligen Kuratoren und kulturpolitischen Kriterien deutlich stärker angewiesen als jedes Stadttheater, während schlechte Arbeitsbedingungen zur Entprofessionalisierung und Marginalisierung dieser freien Theater beitrugen.
Wenn der Intendant des Berliner Ensemble im bereits zitierten Gespräch über Zwecke und Folgen der Kürzungen nachdenkt und fragt: »Soll vielleicht die Ensemble- und Repertoirestruktur abgeschafft werden? Das wäre das Herzstück unserer Theaterkultur«, dann übersieht er, dass wesentliche Ensembles längst abgeschafft sind und dass das von ihm geleitete Berliner Ensemble kaum noch mit jenem vergleichbar ist, das Claus Peymann geleitet hat. Die Theater haben keine Ensembles mehr, die unter verschiedenen Intendanten fortbestehen und sich zu entwickeln vermögen, sondern temporäre Truppen von Gnaden des jeweiligen Intendanten. Der Schuss war also viel früher gefallen und wer ihn in diesem Bewusstsein vernimmt, könnte Raum und Strukturen für neue Ensembles fordern, denn Berlin verfügt über Häuser, die nur noch gastweise bespielt werden, und über Künstler, die Ensembles bilden könnten. Das Protestkonzert der Berliner Künstler gegen die Kürzungen fand am 19. November 2024 statt, in jener vor etwa 30 Jahren geschlossenen Volksbühne, dem heutigen Haus der Berliner Festspiele, dessen Leiter sich solidarisch erklärte, ohne die Geschichte des Hauses, das aus den Mitteln des Vereins der Freien Volksbühne errichtet worden war und an das Erwin Piscator 1963 zurückkehrte, mit einem Wort zu erwähnen.
Widersprüchliche Proteste
Die in den gegenwärtigen Protesten verwendete euphemistische Losung »Berlin ist Kultur«, mit der der Eindruck erweckt werden soll, Berlin sei eine einzigartige Welthauptstadt des Theaters, ignoriert die jüngste Geschichte wie die Gegenwart und Wirklichkeit der Stadt. Sie behauptet, etwas bewahren zu wollen, das so nicht existiert. In der Petition der Berliner Abteilung des Bühnenvereins, der von den Intendanten repräsentiert wird, heißt es: »Berlin lebt von Kultur. Die Kultur bildet die Gesellschaft und schafft Lebensqualität. Sie ist der entscheidende Standortfaktor Berlins.« Kultur wird hier als das Andere, Unökonomische in eine ökonomische Diskussion eingeführt. So erklärt Thomas Ostermeier, Intendant der Schaubühne, die Berliner Theater seien »Inseln im Meer von Gentrifizierung und Prekarisierung«, auf denen »darüber nachgedacht wird, was es heißt, Mensch zu sein«, und kündigt flugs, unter Hinweis auf die zu erwartenden Kürzungen, eine Erhöhung der Kartenpreise für die von ihm geleitete Insel an.
Ein eigens hergestellter Protestsong proklamiert gar: »Kultur ist der Klebstoff unserer Gesellschaft.« Wenn hier zwar nicht von Kunst, sondern von Kultur die Rede ist, so bleibt die Argumentation dennoch signifikant für das Selbstverständnis von Kunst in der aktuellen Gesellschaft: auseinanderdriftende Teile verbinden, Gegensätze wie Arm und Reich zum Beispiel. Nicht Kritik, sondern bindende Affirmation. Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist das Ideal, das zu bewirken man sich erbötig zeigt. Brecht hingegen wusste, dass das in der kapitalistischen oder gar imperialistischen Gesellschaft eine gefährliche Illusion ist, dass es vielmehr darum geht, gesellschaftliche Widersprüche aufzuzeigen, Wirklichkeit mit Möglichkeiten zu konfrontieren. In seiner Dankesrede für die Verleihung des Stalin-Friedenspreises verwies er auf den strukturellen Zusammenhang von Krieg und Kapitalismus, in welchem keineswegs »ein zerstörerisches Element immer wieder die friedliche Produktion« unterbreche, »sondern die Produktion selbst (…) sich auf das zerstörerische kriegerische Prinzip« gründe. Und er führt aus: »Das ganze Leben kämpfen die Menschen im Kapitalismus gegeneinander. Die Eltern kämpfen um ihre Kinder, die Kinder um das Erbe, der kleine Händler kämpft um seinen Laden mit dem anderen kleinen Händler, und alle kämpfen sie mit dem großen Händler. Der Bauer bekämpft den Städter, die Schüler kämpfen mit dem Lehrer, das Volk kämpft mit den Behörden, die Fabriken kämpfen mit den Banken, die Konzerne kämpfen mit den Konzernen. Wie sollten da am Ende nicht Völker mit den Völkern kämpfen?« Erst »eine sozialistische Wirtschaft« könne dieses zerstörerische Prinzip überwinden.
Änderungen sind nötig
Über die Klebstoffprogrammatik ging das Ensemblebündnis, ein Zusammenschluss Berliner Schauspieler, bereits hinaus, als die Teilnehmer auf der Demonstration am Brandenburger Tor und beim Protestkonzert in der ehemaligen Freien Volksbühne Rio Reisers Lied vom Ändern der Welt (»Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?«) sangen, durchsetzt von Teilen aus Wolfram Lotz› »Rede für ein unmögliches Theater«. Ivan Nagel berief sich 1993 auf den Realismus, als er vorschlug, das Schiller-Theater durch eine Halbierung von Etat und Personal und die Schließung des Maxim-Gorki-Theaters zu retten: »Ich glaube nicht, dass die Bundesregierung auf die Entsendung deutscher Truppen nach Somalia, auf Agrarsubventionen oder nur auf überflüssige Regierungsbauten verzichtet, um das Schiller-Theater zu retten. Ich glaube auch nicht, dass Berlins Senat bei seinen neuen Einsparungen von 1,7 Milliarden den Kulturetat verschonen, das heißt, im Verhältnis zu anderen erhöhen wird.« Doch dieser Realismus, der letztlich Konzepte für den Abbau liefert, half nichts, das Schiller-Theater wurde geschlossen.
Was utopisch scheint, Änderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse, ist nötig, um Schließungen und Kürzungen zu verhindern. Abmilderungen, Verbesserungen des Kapitalismus hingegen sind unrealistisch, utopisch, Illusion.
Die Ziele des aktuellen Protests werden unterschiedlich radikal formuliert: von einer Rücknahme über Milderung bis zu Gesprächen über Kürzungen mit dem Senat. In der Petition heißt es auch: »Der Bühnenverein steht solidarisch mit allen Bereichen der Kultur in Berlin. Wir lassen uns nicht in Verteilungskämpfe treiben.« Die Aufforderung des Kultursenators, stärkere Schultern mögen nun die Schwächeren tragen, könnte für die gewiss vorerst geretteten größeren Bühnen heißen, nun für die Künstlerkollegen zu kämpfen, auch zu streiken. Die Intendantin des HAU, Annemie Vanackere, brachte so die Schließung aller Theater ins Gespräch.
Erst nachdem eine neuerliche Liste Entspannung für die großen Theater versprach, bei größeren Belastungen für die freien Theater und bildenden Künstler, ist in einer neuen Erklärung von der Solidarität mit allen betroffenen gesellschaftlichen Bereichen zu lesen. Wer jedoch einerseits das Sparen überhaupt akzeptiert und andererseits fordert, in seinem Bereich nicht zu kürzen, akzeptiert, dass bei anderen gekürzt wird. Generelles Einverständnis mit Kürzungen widerspricht wirklicher Solidarität. Das zeigt die hilflose Äußerung des Regisseurs Barrie Kosky: »Wir sagen nicht, spart bei den Schulen, den Krankenhäusern, aber nicht an der Kultur. Das ist nicht unsere Haltung. Wir sind nur schockiert, dass wir so eine Kürzung binnen so kurzer Zeit stemmen sollen.«
Gemeinsam handeln
Darin, dass die Kürzungen praktisch alle relevanten Bereiche der Gesellschaft betreffen, besteht aber auch eine Chance, die bereits erkannt und ergriffen wird. Entgegen der Zersplitterung der Individuen können die Kürzungsmaßnahmen des Senats, von denen Tränengas und Gummiknüppel als Teil der inneren Sicherheit wohl ausgenommen sind, wieder zur Erfahrung und zur Bewusstheit einer Ganzheit führen. Musiker oder Schauspieler, in ihren Berufen von den Kürzungen betroffen, können als Bewohner der Stadt in ihrer Person erfahren, dass das Klima ohne Elektrobusse schlechter wird, dass ihre Kinder nicht mehr betreut werden, dass Lehrer und Erzieher fehlen, dass sie in Krankenhäusern unzureichend behandelt werden, dass sie mit öffentlichem Nahverkehr nicht mehr ans Ziel kommen, dass die Mieten weiter steigen, dass das Elend in den Straßen und unter den Brücken immer weniger übersehen werden kann.
Ein solcher Mensch, der sich all dessen bewusst geworden ist, ist kein Zerrissener mehr, sondern in seinen verschiedenen Rollen als Opfer der Verhältnisse mit sich wieder identisch, sofern dagegen handelnd. Eine Konsequenz wäre, die Proteste zu verbinden, wie neuerdings in der Initiative »unkürzbar«. Neben dem Erhalt der Arbeitsbedingungen sollte es auch darum gehen, sie zu verbessern, was nicht nur von den Kulturbehörden, sondern auch von den im Protest mit ihren Künstlern verbundenen Leitungen der Theater zu fordern ist. Die Zusammenarbeit von Initiativen, Gewerkschaften, Institutionen ist wesentlich wie die Solidarisierung mit allen Betroffenen und eine gemeinsame Forderung zur Rücknahme aller Kürzungen.
Schließlich sind sie dringender Anlass, gegen die Militarisierung der Gesellschaft aufzutreten. Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen der Bundeswehr, von denen allein drei das Finanzproblem Berlins lösten, wären als Kredite eines Krieges, in den die BRD längst involviert ist, zu erkennen und für humanistische Zwecke zu beanspruchen. Die Theaterleute sollten auch hier, 80 Jahre nach Goebbels‹ Theatersperre, an ihre Häuser und Bühnen denken, die schwer wieder aufzubauen sein werden. Die Berliner Theater haben Gebäude, Technik und Bühnen, die für Streiks, Besetzungen und Aktionen genutzt werden und Raum bieten könnten, den vielen bereits organisierten Betroffenen der Stadt, von denen auch zu lernen ist, wie von dem Busfahrer der BVG, der auf der Demonstration der Initiative »unkürzbar« klar und bildhaft vom Kuchen sprach, der immer größer werde, von dem immer weniger unten ankomme. Auch die von der Akademie der Künste angeregten Minutenstreiks sind erste Formen, wenn sie sich nicht auf Kultur beschränken. Theater bilden mit ihrem Publikum einen Teil der Stadtöffentlichkeit, die auf dieser Kunst, je mehr sie auf ihre je eigene Weise die Welt als änderbare erfasst und vorstellt, bestehen und auch gegen die Erhöhung der Kartenpreise streiten wird.
Theaterleute, die vor 35 Jahren in Berlin die größte Protestdemonstration ihres Staates organisierten, haben mit diesem Staat auch jene materiellen und geistigen Bedingungen ihrer Kunstproduktion verloren, von denen Brecht sprach. Heute können sie ihre weitaus schwächeren Bedingungen nicht erfolgreich verteidigen, ohne den Staat anzugreifen und die Verhältnisse letztlich gemeinsam mit allen anderen Betroffenen radikal zu ändern.
Die gegenwärtigen Proteste Berliner Künstler, insbesondere jener der Theater, verdienen bei aller Kritik weder Spott noch Schadenfreude, sondern Ermunterung und die Solidarität aller, in dem Maße, in dem sie diese mit allen anderen zu erweitern üben. Die Lage ist so grauenhaft, wie die Gelegenheit günstig, das Nachdenken auch über das eigene Tun, die eigene Kunst neu zu beginnen.
Jens Mehrle ist Regisseur. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. November 2020 über das Kommunismusbild von Peter Hacks.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael M. aus Berlin (20. Dezember 2024 um 07:07 Uhr)Ein kleiner Hinweis: Nicht »man« baute das Berliner Schauspielhaus wieder auf. Es waren die Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik, die Arbeiter- und Bauernmacht, die das Schauspielhaus wieder errichteten. Der Autor ist freilich noch recht jung und kann das nicht wissen. Schön’ Gruß von einem ehemals Werktätigen M. Meier von Rouden, Berlin.
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