»Die Arbeit war ein Abenteuer«
Von Philip TassevWie erklären Sie den schnellen Zusammenbruch der Assad-Regierung?
Der rasche Zusammenbruch von Assads Herrschaft war nicht überraschend. Die Gründe dafür haben wir in den vergangenen zwei Jahren in unserer Parteizeitung Kassioun dargelegt. Der springende Punkt ist, dass Assad ständig versucht hat, zwischen dem Westen und dem Osten zu spielen, zwischen den USA und Europäern auf der einen Seite und den Russen, Iranern und Türken auf der anderen. Die Spielräume wurden mit der Verschärfung des internationalen Konflikts immer enger, so dass wir schon im Vorhinein erwartet haben, dass die Zeit, die für dieses Spiel bleibt, schnell abläuft.
Die Astana-Dreiergruppe – Russland, Türkei, Iran – konnte von 2016 bis Ende 2019 die Kämpfe vor Ort beenden und eine relative Stabilität erreichen, die den Weg für eine politische Lösung und die Umsetzung der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats öffnete. In dieser Resolution wird ein Dialog zwischen Regierung und Opposition gefordert, der zu einer Übergangsphase führen soll, an deren Ende eine neue Verfassung und demokratische Wahlen stehen. Von Assad wurden zwei Dinge verlangt: Erstens eine politische Lösung anzustreben und zweitens mit russischen und iranischen Garantien eine Einigung mit der Türkei, die die längste Grenze zu Syrien hat, zu erzielen. Assad weigerte sich jedoch, beides zu tun. Auch wenn es noch immer eine Blackbox voller unbekannter Informationen gibt, die in nächster Zeit wohl nur schwer zu öffnen sein wird, kann man sagen, dass die Astana-Länder die Initiative ergriffen haben, um diese Phase zu beenden, nachdem sie die Hoffnung verloren hatten, dass Assad auf sie reagieren würde, da er die ganze Zeit auf eine Einigung mit den Amerikanern und möglicherweise auch mit den Israelis gezählt hatte.
Hinzu kommt, dass die Armee und diejenigen, die als »Loyalisten« Assads bezeichnet werden, keine Motivation mehr hatten, das Regime zu verteidigen. Die rücksichtslose Liberalisierung, die Assad in den letzten Jahren durchgesetzt hat, führte in Verbindung mit westlichen Sanktionen dazu, dass mehr als 90 Prozent der Syrer hungerten und ein Leben in Armut fristeten. Viele sahen keinen Ausweg mehr aus der Krise. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, das Land zu verlassen.
Von wo aus operieren Kassioun und Ihre Partei?
Die Partei des Volkswillens arbeitet in den verschiedenen Regionen Syriens, und das schon seit 14 Jahren. Einige Genossen befanden sich im Ausland, weil sie aufgrund der umfangreichen internationalen Intervention dort politische Arbeit leisten mussten. Darüber hinaus waren einige unserer Kader gezwungen, das Land aufgrund einer Kombination von politischen, sicherheitspolitischen, militärischen und wirtschaftlichen Bedingungen vorübergehend zu verlassen, so wie Millionen von Syrern. Die Hauptkräfte der Partei waren und sind jedoch nach wie vor im Land tätig. Unser Parteiorgan Kassioun ist beinahe die einzige Zeitung, die nach der Covid-Krise weiterhin gedruckt und in Tausenden von Exemplaren in ganz Syrien verbreitet wird. Ein Großteil der anderen Zeitungen hat den Druck seit 2020 eingestellt.
In welchem Umfang konnten Kommunisten während der Herrschaft von Al-Assad in Syrien politisch arbeiten, sich organisieren, öffentlich auftreten?
Während der Assad-Ära war das Niveau der politischen Freiheiten immer niedrig, und politische Arbeit, nicht nur für Kommunisten, sondern für alle politischen Kräfte Syriens, war immer ein unkalkulierbares Abenteuer. Im Laufe vieler Jahrzehnte wurden große Opfer gebracht, unsere Partei zu erhalten, eine Partei, die in den 1950er Jahren eine der stärksten des Landes war und die den ersten kommunistischen Abgeordneten in ein arabisches Parlament brachte. (Die Partei des Volkswillens sieht sich als Nachfolger der 1944 gegründeten Syrischen KP, jW)
Wie schätzt Ihre Partei die zukünftige Entwicklung in Syrien ein?
In unserer Partei glauben wir, dass das, was bisher geschehen ist, nur die erste Phase eines revolutionären Prozesses ist und dass sich der Horizont eines breiten politischen Kampfes in Syrien nun weit geöffnet hat und dass das syrische Volk voller Hoffnung ist, die Initiative zu ergreifen und sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Wir verfügen über ein grundlegendes Instrument für einen reibungslosen Übergang zu einer neuen Realität, nämlich die UN-Resolution 2254: die politische Lösung auf der Grundlage eines Dialogs zwischen allen syrischen Parteien. Wir haben aber ein noch mächtigeres Instrument, nämlich die Arbeit vor Ort, unter der Bevölkerung, unter den Arbeitern und in den Gewerkschaften. Wir sind voller Zuversicht, dass wir vor einer neuen Welle des Kampfes stehen, ein Kampf, der seine Leiden und Schwierigkeiten haben wird, aber letztlich Teil der weltweiten Welle von Volkskämpfen ist, die sich stetig in Richtung radikaler Veränderungen des Systems auf globaler Ebene bewegt.
■ Mohannad Dlykan ist Sekretär der kommunistischen syrischen Partei des Volkswillens (Ḥizb Alirāda aš-Šaʿbia) und Redakteur des Parteiorgans Kassioun)
Hintergrund:
Legal und illegal
Syrien ist eines der wenigen Länder im Nahen Osten, in denen die kommunistische Bewegung über einen langen Zeitraum ein einflussreicher politischer Faktor war. Die Syrische Kommunistische Partei (SKP) ging 1958 aus der Teilung der Kommunistischen Partei Syriens und des Libanon (KPSL) hervor, deren Anfänge in den 20er Jahren liegen. Die SKP war nie eine Massenpartei, aber von Anfang an eine multiethnische Organisation: Unter den führenden Funktionären waren Armenier, Kurden, arabische Christen und Muslime. Die dominierende Persönlichkeit der Partei war jahrzehntelang der Kurde Khaled Bakdash (1912–1995), Generalsekretär seit 1937. Trotz großer Anstrengungen gelang es der Partei nie, eine Massenbasis unter der muslimischen Bevölkerungsmehrheit außerhalb der Städte zu gewinnen. In der Geschichte der SKP wechseln sich Phasen der Legalität mit langen Perioden der Halblegalität und Illegalität ab, die in der Hauptsache durch die wechselhaften Beziehungen zur nationalen Bourgeoisie und zum arabischen Nationalismus, in dem es immer eine starke, in vielen Ländern dominierende antikommunistische Strömung gab, bestimmt waren. Vor allem Bakdash war es zu verdanken, dass die Partei sich in der ersten Phase der Annäherung zwischen arabischen Nationalisten und der UdSSR nicht – wie in Ägypten und Algerien – auflöste. Nach dem Putsch des linken Flügels der Baath-Partei 1966 war die SKP – die zunächst weiter verboten war, aber nun geduldet wurde – mit einem Minister an der Regierung beteiligt, und Bakdash kehrte aus einem mehrjährigen Exil zurück. Nach der Machtübernahme von Hafiz Al-Assad zunächst wieder an den Rand gedrängt, konnte die Partei erst ab 1986 wieder vollständig legal auftreten. Seit den 70er Jahren gab es innerhalb der Partei Auseinandersetzungen um das Verhältnis zur Assad-Regierung, wobei Bakdash für eine Linie der Unterstützung der »patriotischen« und »progressiven« Regierung stand. 1972 und 1986 kam es deswegen zu Ausschlüssen bzw. Spaltungen. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre existierten in Syrien zwei namensgleiche kommunistische Parteien, die sich auch in ihrer Beurteilung der Entwicklungen in der UdSSR unterschieden: Bakdash lehnte die Perestroika ab, die andere Richtung unterstützte Gorbatschow. Beide Parteien waren allerdings bis zuletzt Teil der sogenannten Nationalen Progressiven Front und mit einigen Abgeordneten im Parlament vertreten. Die 2012 gegründete Partei des Volkswillens ist aus einer älteren Abspaltung von der SKP (Bakdash-Richtung) hervorgegangen. Sie war nicht Teil der Nationalen Progressiven Front, aber als Oppositionspartei legal und nach 2012 einige Jahre im Parlament vertreten. (np)
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