Typisch Russisch
Von Ulrich Heyden, MoskauZweieinhalb Millionen Russen hatten am Donnerstag zum alljährlichen Bürgerdialog mit Präsident Wladimir Putin Fragen eingereicht. Für die russische Führung hat die Fragestunde einen doppelten Sinn. Zum einen wird gezeigt, dass man für Kritik offen ist; zum anderen ist man daran interessiert, die schwachen Punkte in der eigenen Politik ausfindig zu machen, wohl auch um den administrativen Mittelbau – wo es oft stockt – auf Trab zu bringen.
Seit der russischen Invasion in die Ukraine ist es mit dem ungezwungenen Meinungsaustausch schwieriger geworden. Über das Thema sprechen Russen in der Öffentlichkeit nicht. Niemand braucht in dieser angespannten Zeit, wo Städte auch im Hinterland der Russischen Föderation – zuletzt Kasan an der Wolga – von ukrainischen Drohnen beschossen werden, noch den Streit unter Kollegen und Freunden. Und niemand möchte riskieren, falsch verstanden oder als »Gegner« Russlands verleumdet zu werden – mit vielleicht sogar strafrechtlichen Konsequenzen.
In der Hoffnung, doch noch ein paar mutige Menschen zu finden, machte ich mich auf in ein Einkaufszentrum westlich des Moskauer Stadtzentrums. Auf einer Bank sah ich einen Mann sitzen, Anfang 60. Ich setzte mich neben ihn. Auf meine Fragen reagierte er erst misstrauisch, doch bald war das Eis gebrochen. Ja, die viereinhalb Stunden lange Fragerunde mit Putin habe er fast vollständig im Fernseher gesehen.
»Ich hoffte, dass ich meine Frage zur Ukraine dort höre.« Die genaue Formulierung wollte er mir nicht verraten, aber soweit ich ihn verstand, wollte er wissen, an welchem Punkt für Russland das Ziel der »Spezialoperation« erreicht sei. Immerhin seien im Krieg viele russische Soldaten gestorben. Eine offizielle Zahl wurde bisher nicht genannt. Die Gefahr, dass Russland sich auf einen »faulen Kompromiss« einlässt, war nach Ansicht des Mannes offensichtlich nicht völlig ausgeschlossen. Immerhin sei Russland schon oftmals hintergangen worden, und es habe auch »Verräter« in der Führung gegeben, wie Boris Jelzin, der sich in den USA habe feiern lassen.
Das Verhältnis des Mannes zur politischen Führung war typisch russisch. Man ist nicht mit allem zufrieden, lässt die Macht aber machen. »Unsere Ideen werden von niemandem berücksichtigt. Sie (die Macht) hat ihre eigenen Gedanken. Wir gucken von unten. Und sie gucken von oben und sehen wesentlich mehr. Das Volk geht nur auf die Barrikaden, wenn es schlecht lebt, wenn der Lohn gering ist und es nichts zu essen gibt. Während der Pandemie hat man uns wie eine Herde behandelt.«
Die deutsche Presse behaupte, Putin habe einen Riesenhunger auf neue Territorien, erzählte ich dem Mann. Auch Deutschland sei angeblich bedroht. Mein Gesprächspartner schüttelte verständnislos den Kopf. »Russland will nur seine Erde. Die Ukraine, das ist unsere Erde. Kiew ist die Mutter der russischen Städte. Die Ukraine muss sich freiwillig dem russischen Staatsverband anschließen. Das ist alles, was man von ihnen fordert. Die Stadt Odessa wurde von Katharina der Großen gegründet.«
Etwas später traf ich einen Bankangestellten, Mitte 20. Nein, die Fragestunde mit Putin habe er nicht geguckt. Ob er Angst vor der Mobilisierung zur Armee habe? Er überlegte einen Augenblick und sagte: »Wenn es eine Gefahr gibt, dann bin ich vielleicht bereit. Zur Zeit sehe ich eine solche Gefahr nicht.« Er habe »den Eindruck, dass 70 bis 80 Prozent der russischen Soldaten freiwillig an die Front gegangen sind«. Der junge Mann sagte, er habe »progressive, rechte Ansichten«. Eine der offiziellen Parteien in Russland unterstütze er nicht. Wie er sich informiere? Über VPN gucke er private Videokanäle mit geringer Reichweite. Fernsehen schaue er nicht. Auf Youtube gucke er sich beide Seiten an. »Informationsquellen auf Youtube sind nicht verboten. Sie sind nur unerwünscht.« Dass ausländische Youtube-Angebote im russischen Internet verlangsamt werden, begründete Putin in der Fragerunde damit, dass der Youtube-Mutterkonzern Google nicht mit den Behörden zusammenarbeite und unerwünschtes Videomaterial anbiete.
Zum Abschluss meinte der junge Mann: »Wenn der Westen und Russland aufeinander gehört hätten, dann hätte man den Konflikt in der Ukraine vermeiden können.« Die Antworten meiner beiden Gesprächspartner sind typisch, jeweils für die ältere und jüngere Generation in Moskau.
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