Gegründet 1947 Freitag, 31. Januar 2025, Nr. 26
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 23.12.2024, Seite 11 / Feuilleton
Landlust

Weihnachtsmarkt

Aus der Provinz
Von Jürgen Roth
imago786029944.jpg
Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche auf dem Berliner Breitscheidplatz (16.12.2024)

Warum suchen sich Attentäter gerne Weihnachtsmärkte aus, um mit ihren Fahrzeugen in Menschenmengen zu rasen? Was die Antwort sein dürfte, zeigt unser Autor in seiner vor dem Anschlag von Magdeburg verfassten Kolumne. (jW)

Ich bin ganz derlechert», sagte meine Mutter. Übersetzt: Ich bin extrem unterhopft.

«Ich auch», sagte ich. «Zum Glück wurde grade der Weihnachtsmarkt eröffnet.»

Ich ging hinüber zum Sternplatz und lugte nach einem Stand, der Bier anbot. Johannes lungerte in der Bude der Reservistenkameradschaft herum und winkte. Ich interpretierte das als unmissverständliches Zeichen und kaufte bei ihm einen Glühwein mit Schuss, so dass mein Bierbegehr erst mal «nach hinten priorisiert» (Iris Sayram, «Tagesschau», 9. Dezember) war.

Am Stehtisch konsumierten bereits die Posterer Alkohol. Kein Wunder, dass die nur Rechnungen in unseren Briefkasten werfen. Dafür trug Johannes eine Wollmütze mit Playboy-Bunny-Emblem, und aus dem Verschlag daneben, jenem des Reitvereins, lächelten vier bildhübsche Damen herüber, und eine von ihnen hatte sich ungelogen mit Playboy-Bunny-Ohren geschmückt.

Um halb vier begann der Posaunenchor zu spielen, der älteste Bayerns, in den mein Vater als Bub eingetreten war. Ich hockte mich auf den einzigen Merkel-Poller, ein Stück Baumstamm, nippte am Glühwein und hörte zu.

Die Posaune ist das Instrument der Tiefe, der Wärme und der Melancholie. Ich habe ihren Ton immer geliebt, und jetzt legten die Musikanten in dieser Saukälte einen gefütterten Mantel um mein Gemüt. Mir kamen die Tränen, nicht zuletzt angesichts des ergreifenden Bemühens, eine Tradition am Leben zu erhalten. «Ich steh’ an deiner Krippen hier.»

Ich holte mir einen zweiten Glühwein. «Selfies mit dem Christkind. Es is’ so gaga», sagte Johannes. Der Bürgermeister Schmoll, der in seiner Rede vorbildlich für «würzig duftende Heißgetränke» geworben hatte, lief vorbei und saugte an einer Zigarette. Schützenverein Edelweiß, die Dorfgemeinschaft Wollersdorf-Watzendorf (die weder Stollen noch Dubai-Schokolade offerierte), die Gotzendorfer Ölmühle, Feuerwehrverein – ich aber steuerte den tristen Tresen des FCN-Fanklubs Schell 7 an, um die Getreuen der Loser zu ärgern. Die ließen dann allerdings meine lästerlichen Bemerkungen an sich abprallen.

Drei Tage vorher hatte André im Seven Bistro geschimpft: «Es g’winna immer die Auswärtigen. Lichtenau, Windsbach und Heilsbronn! Diese Arschlöcher!» – «Das werden wir ja sehen», hatte ich gemeint, «ich hab’ knapp zweihundert Lose ausgefüllt.»

Am Sonntag um 18 Uhr war der Auftrieb exorbitant. Bürgermeister Schmoll betonte, die Lotterie des Gewerbeverbandes sei «die letzte Verlosung, die es im Landkreis überhaupt noch gibt». Pünktlich setzte Schneeregen ein, und die braven Steppkes auf der Showbühne langten reihum in die Trommel.

Die ersten sechzig Gewinne wanderten nach Windsbach, Wolframs-Eschenbach, Ziegendorf, Wernsbach, Heilsbronn, Nürnberg (!), Wicklesgreuth und so fort. Da war mein «Vertrauensbruch bereits schon über die Türschwelle gegangen» (Rolf Mützenich, 16. Dezember), und als die Adlerschwingen-Eibe im Wert von 140 Euro (9. Preis) in Reuth landete, strich ich mental endgültig die Segel.

Ich mein’, zudem beim Vogeladventskalendertip liege ich gegen meine Mutter praktisch chancenlos 0:2 hinten. Wie viele Niederlagen muss man hinnehmen, bevor man so richtig auf den Tisch haut?

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!

Mehr aus: Feuilleton