Kaiser des Kopfsteinpflasters
Von Gerrit HoekmanRadsportfreunde weltweit trauern um den Belgier Rik Van Looy. Der zweimalige Straßenweltmeister starb in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, am Freitag wäre er 91 Jahre alt geworden. Er wurde an seinem Geburtstag im engsten Familienkreis beigesetzt. »Er war eine Ikone des Sports, ein großer Champion«, würdigte Eddy Merckx seinen Freund und Landsmann in der belgischen Presse. 1966 schloss sich Merckx als Jungprofi der Mannschaft von Van Looy an. Wenig später schwang sich Merckx zum Herrscher im Radsport auf, auf dessen Thron bis dahin Van Looy saß, der »Kaiser von Herentals«, wie er wegen seines Wohnorts genannt wurde.
Van Looy war ein begnadeter Sprinter. Seine Spezialität waren die Eintagesklassiker. Dreimal gewann er auf dem Kopfsteinpflaster von Paris–Roubaix, der berüchtigten »Hölle des Nordens«, deren Name aber nicht etwa vom harten Untergrund auf der Strecke herrührt, sondern von den schrecklichen Verwüstungen, die der Erste Weltkrieg überall in der Region angerichtet hatte. Zweimal fuhr Van Looy bei der Flandern-Rundfahrt als Erster durchs Ziel, je einmal bei Mailand–San Remo, der Lombardei-Rundfahrt, Lüttich–Bastogne–Lüttich und beim Flèche Wallonne, dem Wallonischen Pfeil.
Bei den großen Rundfahrten, dem Giro d’Italia, der Vuelta a España und der Tour de France, gewann er zwar insgesamt 39 Etappen, aber der Gesamtsieg blieb ihm stets verwehrt. Im August 1960 durfte sich Van Looy aber bei den Profis zum ersten Mal das Regenbogentrikot des Weltmeisters auf der Straße überstreifen. Die WM fand auf dem legendären Sachsenring bei Hohenstein-Ernstthal in der DDR statt. 32mal mussten die Radsportler den 8,7 Kilometer langen, anspruchsvollen Kurs umrunden. Der Legende nach gab Van Looy danach seinem Reihenhäuschen in Herentals den Namen »Villa Sachsenring«. 1961 verteidigte er in Bern seinen Titel erfolgreich.
Nicht nur Rik Van Looy fieberte 1960 dem internationalen Großereignis entgegen, sondern ebenso die ganze DDR. Damit sich die Stars aus dem In- und Ausland auf dem Kurs wohlfühlten wurde der Sachsenring gehörig aufgepeppt. »Die größte, jemals an einer Rennstrecke aufgestellte Zuschauertribüne mit 20.000 Plätzen wird am Start und Ziel errichtet«, verkündete die Broschüre »Wegweiser für alle Gäste« stolz. »Um alle Zuschauer vom Renngeschehen bestens zu orientieren, werden 20 Tonsäulen und 53 Druckkammerlautsprecher aufgestellt.«
Die Staatsamateure der DDR waren bei den Profis natürlich nicht am Start. Sie hatten 24 Stunden vorher bereits ihren großen Tag. Mindestens 300.000 Radsportbegeisterte säumten den Sachsenring, um Adolf-Gustav »Täve« Schur, den großen Favoriten, zum dritten Mal hintereinander siegen zu sehen. Aber es kam anders. »In der 14. Runde wird’s gefährlich! Acht Fahrer sind davon: drei Italiener, zwei Belgier, und nur Bernhard Eckstein von uns!« berichtete die Junge Welt damals. Wenig später setzte sich der Belgier Willy Vanden Berghen alleine an die Spitze und sah bereits wie der sichere Sieger aus – bis die DDR-Asse Schur und Bernhard Eckstein gemeinsam zur Aufholjagd ansetzten.
Täve Schur war der populärste Sportler des Arbeiter- und Bauernstaats. Eckstein hatte sich 1959 bei seiner ersten Internationalen Friedensfahrt als dessen loyaler Wasserträger erwiesen und mitgeholfen, dass Schur zum zweiten Mal Gesamtsieger wurde. Das hatte dieser auf dem Sachsenring offenbar nicht vergessen. Er nahm Eckstein ins Schlepptau und tatsächlich erreichten sie Vanden Berghen vier Kilometer vor dem Ziel. Während Schur beim Belgier blieb, zog Eckstein alleine auf und davon.
Hinterher fragten sich alle, warum der Belgier Eckstein ziehen ließ. Die Antwort: Er unterlag einer Fehleinschätzung. Er rechnete damit, dass Schur selbst irgendwann die Verfolgung aufnehmen würde. Als er endlich merkte, dass Täve keine Anstalten machte, sondern selbstlos seinem Mannschaftskameraden Eckstein den Sieg gönnte, war es für Vanden Berghen zu spät. »Schur sorgte auf den Sachsenring dafür, dass Eckstein Weltmeister wurde und nicht ich. Das trage ich ihm nicht nach. Ich habe ihn als einen Rennfahrer mit bewundernswertem sportlichem Geist kennengelernt«, sagte Vanden Berghen der Internetseite Cycling4Fans später.
Für den Belgier blieb am Ende nur Platz drei, denn auch Schur ließ ihn im Endspurt stehen. »Ein kaum zu fassender Triumph für den Radsport der DDR!« jubelte die »Aktuelle Kamera«. Und die Junge Welt titelte: »Das war die Radsport-Sensation«. Der Coup gilt bis heute als taktische Meisterleistung. »Ach Gustav, wie soll ich dir nur danken?« schluchzte Eckstein laut der Leipziger Volkszeitung mit Tränen in den Augen. »Was heißt hier danken, du bist Weltmeister, komm’, gib mir mal ein Autogramm!« scherzte dieser. Täve Schur wurde endgültig zur Legende, in dessen Schatten Ecksteins Leistung leider ein wenig verblasste. Schur, Eckstein, Vanden Berghen und jetzt Van Looy – von den Protagonisten jener Zeit lebt heute nur noch der 93 Jahre alte Täve, den wir an dieser Stelle herzlich grüßen wollen.
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