Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 30.12.2024, Seite 12 / Thema
Abolitionismus

Unterm Berg

Das Gefängnissystem der USA steht für die Kontinuität der Sklaverei und die Unterdrückung armer, schwarzer und indigener Menschen sowie von Frauen
Von Mumia Abu-Jamal und Jennifer Black
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Abgeschottet von allem, was die Würde des Menschen ausmacht. 1,8 Millionen Menschen sind in den USA inhaftiert, davon mit weitem Abstand mehrheitlich Schwarze und Angehörige anderer Minderheiten. Protest gegen die Abschaltung der Heizungen im Metropolitan Detention Center Brooklyn, New York (2.2.2019)

Im Sommer 2024 erschien in den USA das Buch »Beneath the Mountain. An Anti-Prison Reader« im Verlag City Lights Books aus San Francisco. Wir veröffentlichen hier die Einleitung des Bandes mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Herausgegeben wurde der Reader von dem seit 43 Jahren inhaftierten Journalisten und Ex-Black-Panther Mumia Abu-Jamal und der Wissenschaftlerin und Prison Radio-Aktivistin Jennifer Black. Er soll ein Leitfaden sein für alle, die verstehen wollen, warum die Bewegung der »Prison Abolitionists«, die das Gefängnis generell abschaffen wollen, in den USA so stark ist. In einer Sammlung von historischen und aktuellen Essays nehmen 32 Autorinnen und Autoren Stellung zu dem, was sie selbst »unter dem Berg« erlebt haben. »Der Titel dieser neuen Zusammenstellung ist ›Beneath the Mountain‹, denn dort haben wir diese Freiheitskämpfer und Widerstandskämpfer gefunden: unter einem Berg von Unterdrückung«, erklärte Abu-Jamal am 16. September 2024 in seiner jW-Kolumne. Die Essays seien »zunächst handschriftlich auf Papierfetzen, Zeitschriften, Briefumschlägen, Toilettenpapier oder Bibelseiten verfasst, mit eingeschmuggelten Stiften oder einer Kugelschreibermine« niedergeschrieben, »heimlich auf Kassibern kopiert und von Trakt zu Trakt weitergegeben« worden, um sie für heutige und künftige Generationen zu bewahren.¹ Paul Le Blanc, Historiker an der La Roche University in Greater Pittsburgh und sozialistischer Aktivist, schrieb in seiner Rezension: »Diese Sammlung vermittelt einen überzeugenden Eindruck von aufständischen Geistern und kritischen Köpfen, die Gefangenschaft und sogar den Tod durch die Hand mächtiger Unterdrücker ertragen haben.« Le Blanc lobte den Reader als »eine inspirierende Quelle für Aktivisten, Wissenschaftler und alle, denen soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte am Herzen liegen«. (jW)

Für das bessere Verständnis der US-amerikanischen Geschichte ist es von zentraler Bedeutung, das US-Gefängnissystem zu verstehen. Seit ihren Anfängen waren die Vereinigten Staaten ein Ort, an dem der gesellschaftliche Status eines Menschen durch Ethnie, Geschlecht und Landbesitz bestimmt wird. Wer Eigentum besaß, herrschte. Wer besitzlos war, war entbehrlich. Zu letzteren gehörten indigene Völker, Menschen afrikanischer Herkunft, verarmte europäische Einwanderer und Frauen aller Ethnien. »Eigentum gleich Macht« könnte das Motto der neuen Siedlerkolonie gewesen sein.

Die päpstliche Unterstützung für den afrikanischen Sklavenhandel begann bereits 1452, als Papst Nikolaus V. von König Alfons V. von Portugal die Erfüllung der »christlichen Pflicht« verlangte, alle Nichtchristen, also auch Menschen aus Afrika, zu versklaven. Dies markierte einen Wendepunkt in der westlichen Geschichte: die Entstehung eines staatlichen Systems der Gefangenschaft zur Kontrolle über die Freiheit der Schwarzen und zur Ausbeutung schwarzer Arbeitskräfte. Versklavung und Einsperren gingen Hand in Hand. Deshalb müssen alle Erörterungen über die Entstehung der Gefängnishaft in den Vereinigten Staaten mit der Sklaverei beginnen.

Völkermord mittels Vertreibung

Wenn wir vom »Carceral System«² sprechen, beziehen wir uns nicht nur auf Polizei und Gefängnisse, sondern auch auf die Gesamtheit der Beziehungen, die Sklaverei und Gefangenschaft moralisch akzeptabel machten. Da wir auf dem nicht anerkannten Land der Lënape³ schreiben, beziehen wir die Vertreibung, das Abschlachten und die Zwangsunterbringung indigener Ureinwohner in Reservaten in den Begriff des »Carceral System« mit ein. Reservate wurden geschaffen, um die Pläne zur »Umsiedlung der Indianer« umsetzen zu können. US-Präsident Andrew Jackson (1767–1845) verfolgte die dazu notwendige gesetzgeberische und juristische Agenda, während er gleichzeitig den Völkermord mittels Vertreibung durch militärische Gewalt, einseitige Verträge und die Expansion des Siedlertums beschleunigte. »Crazy Horse«⁴ starb bei dem Versuch, aus dem Freiluftgefängnis zu entkommen, in das die USA ihn umsiedeln wollten. Die Pine Ridge Reservation diente ursprünglich als Internierungslager für indigene Kriegsgefangene. Heute haben die in Reservaten lebenden amerikanischen Ureinwohner die niedrigste Lebenserwartung im ganzen Land, die höchste Armuts- und die niedrigste Beschäftigungsquote. Für Afrikaner, die gewaltsam aus ihrer Heimat verschleppt wurden, wurde der gesamte Süden der Vereinigten Staaten zu einem riesigen Gefängnis, in dem Folter und Tod auf diejenigen warteten, die genau das suchten, was die sogenannten Gründerväter als die »Rechte aller« bezeichneten – Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

In seinem 1853 erschienenen Buch »Stroud’s Slave Laws« (»Strouds Sklavengesetze«) schildert Rechtsanwalt George M. Stroud (1795–1875) die von einem halben Dutzend Sklavenstaaten verabschiedeten Gesetze und die entsetzlichen Grausamkeiten, die schwarzen Gefangenen im 18. Jahrhundert zugefügt wurden. Diese Grausamkeiten sind Ausdruck der Skrupellosigkeit einer Gesellschaft von Sklavenhaltern. Stroud gibt einen Einblick in das Wertgefühl der Gesellschaft, die die Menschen »gezüchtet«, gehandelt und aus Profitgründen versklavt hat: »Wo das Leben des Sklaven derart schwach geschützt wird, ergeht es dessen Körperteilen, wie zu erwarten, nicht besser. Ich zitiere erneut aus dem Gesetz von 1740 in South Carolina. ›Wenn jemand vorsätzlich einem Sklaven die Zunge herausschneidet, ein Auge aussticht, ihn kastriert, ihn grausam verbrüht, verbrennt oder ihm Gliedmaßen entfernt oder ihm eine andere grausame Strafe zufügt als das Auspeitschen oder Schlagen mit einer Pferde- oder Rinderpeitsche, einer Rute oder einem Stöckchen oder das Anlegen von Eisen oder das Einsperren eines solchen Sklaven, so verwirkt er für jedes derartige Vergehen die Summe von hundert Pfund der gängigen Währung.‹ Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hat dieser Abschnitt vom Jahr 1746 bis zum heutigen Tage Schande über das Gesetzbuch gebracht.«

Wir wissen, dass versklavte Schwarze kein Recht hatten, die von Weißen an ihnen verübten Misshandlungen anzuzeigen. Das Fehlen solcher Rechte war die Vorstufe zu den Jim-Crow-Gesetzen, einem System rassistischer Unterordnung, das People of Color in den Vereinigten Staaten auch weiterhin sozial und wirtschaftlich ausgrenzte.

Unter anderem Namen

In seinem Buch »Slavery by Another Name« (»Sklaverei unter anderem Namen«)⁵ beschreibt Douglas A. Blackmon, wie in den 1860er Jahren beginnend »und beschleunigt nach der Rückkehr der weißen politischen Herrschaft im Jahr 1877« jeder Südstaat »Gesetze erließ, die im wesentlichen darauf abzielten, das Leben der Schwarzen zu kriminalisieren«. Die »Anti-Vagabundier-Gesetze« (»Anti-Vagrancy Laws«) waren so vage, dass eine schwarze Person aus fast jedem Grund verhaftet werden konnte. In mehreren Staaten war es Schwarzen untersagt, ohne Erlaubnis den »Arbeitgeber« zu wechseln, so dass sie die Plantagen der Weißen, für die sie arbeiteten, nicht verlassen konnten. Durch das System der Verpachtung von Strafgefangenen (Convict Lease System) wurden inhaftierte Schwarze gezwungen, unbezahlt für Privatunternehmen zu arbeiten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten die Gefängnisse auch als Orte der »Sozialreform« für »problematische« europäische Einwanderer aus Italien und Irland. Obwohl sich das Strafvollzugssystem in den Südstaaten in erster Linie gegen schwarze Männer richtete, stammte die Mehrheit der Gefangenen aus der Mehrheitsbevölkerung: weiße, aus der Arbeiterklasse stammende nicht angelsächsische Protestanten aus Süd-, Mittel- und Osteuropa sowie Iren.

Die ethnische Demographie des Strafvollzugssystems änderte sich in den 1960er und 1970er Jahren dramatisch, als der Ausbruch schwarzer Freiheitskämpfe, gepaart mit sozialer Unzufriedenheit, den Staat vor eine neue Aufgabe stellte: der sozialen Kontrolle einer Gemeinschaft, die gegen die Vorherrschaft der Weißen rebellierte. In dieser Zeit vollzog sich ein Wandel im Gefängnissystem, das nun die ideologische Funktion erhielt, die Befreiungsbestrebungen der Schwarzen zu diskreditieren. In diese Zeit fällt auch das Aufkommen des sogenannten Krieges gegen die Drogen, der als Maskerade zur Rechtfertigung der staatlichen Überwachung und Kriminalisierung ganzer Gemeinschaften dient. Während in den USA unaufhörlich eine Rhetorik von Freiheit und Liberalität propagiert wurde, blieb die Unfreiheit das Los von Millionen von Afrikanern und ihrer dunkelhäutigen Nachkommen. Es wurden große Anstrengungen unternommen, um das drakonische Ausmaß der Masseninhaftierung in den heutigen Vereinigten Staaten von Amerika zu erreichen. Dazu bedurfte es eines überparteilichen politischen Willens und einer gezielten Methodik, um eine Bevölkerungsgruppe ins Fadenkreuz zu nehmen, die als »problematisch« angesehen wird.

Die Würfel waren gefallen, als die Regierung von Richard Nixon (1913–1994) den »Krieg gegen die Drogen«, einschließlich Marihuana, begann. Im ganzen Land suchte der Staat mit Razzien die schwarzen Gemeinden heim, kriminalisierte Schwarze und sperrte sie ein. »Kifferwahn« und Drogenkriegshysterie nahmen jedoch in dem Maße ab, wie die sich ausbreitende massenhafte Abhängigkeit von Opioiden unter Weißen in ländlichen und vorstädtischen Gebieten Rehabilitation statt Inhaftierung zur Behandlungsmethode der Wahl werden ließ.

Bis in unsere Tage hinein behauptet das rechtsgerichtete weiße Amerika, dass die Freiheit und das Leben farbiger US-Amerikaner eine Bedrohung für den Status quo darstellen. Das fortwirkende Erbe der »Anti-Alphabetisierungs-Gesetze«⁶ zeigt sich heute in der faschistischen »Anti-WOKE-Gesetzgebung«⁷, den Bücherverboten und den Verboten, an Schulen die Geschichte farbiger US-Amerikaner zu lehren. Lynchmorde werden heute nicht durch den Strick, sondern durch den polizeilichen Würgegriff, das Knie im Nacken und den langsamen Tod in der Haft vollzogen. Politische Macht hängt von starken bewaffneten Kräften ab, um die Kontrolle aufrechtzuerhalten, aber sie hängt auch von der Fähigkeit ab, die Freiheit von Einzelnen und Gruppen einzuschränken, Menschen an ihrem Platz zu halten: buchstäblich in Ketten und Käfigen – und strukturell durch die Aufrechterhaltung starrer gesellschaftlicher Hierarchien auf der Grundlage von Ethnie, Geschlecht und Klasse, die durch Doktrin, Brauch, Gesetz, Terror und Gewalt durchgesetzt werden.

Anti-Gefängnis-Lesebuch

In »Beneath the Mountain« präsentieren wir eine Auswahl von Schriften unfreier Radikaler – versklavter Menschen, politischer Gefangener, inhaftierter Revolutionäre, von Arbeiteraktivisten, inhaftierten indigenen Aufständischen –, die zum Kanon des zeitgenössischen Denkens derjenigen beitragen, die das Gefängnis abschaffen wollen und sich dafür organisieren. Die in diesem Buch versammelten Stimmen sollen die Organisierung der Abolitionistenbewegung stärken, die bereits auf den Straßen, in den Kerkern und in den Schulen stattfindet. Sie zielen darauf ab, eine vertiefte Perspektive zu eröffnen, die über eine vereinfachende Gleichung von »Sklaverei gleich Gefängnis gleich Profit für die Gefängnisinhaber« hinausgeht. Es besteht ein unbestreitbarer Zusammenhang zwischen den Institutionen der Sklaverei und des Gefängnisses und ihrem verhängnisvollen Erbe. Wir hoffen jedoch, dass die Leserinnen und Leser einen Einblick in die umfassendere gesellschaftliche Rolle erhalten, die Gefängnisse bei der Aufrechterhaltung von Hierarchien und gesellschaftlicher Kontrolle spielen, einschließlich des ihr innewohnenden Anpassungsdrucks. Die Aktivistin und Wissenschaftlerin Ruth Wilson Gilmore erinnert uns daran, dass Gefängnisse zu »Allheilmitteln für soziale Probleme« geworden sind. In der Einleitung zu ihrem 2007 erschienenen Buch »Golden Gulag« stellt sie fest: »Gesetze wandeln sich, je nachdem, was in einer sozialen Ordnung als Stabilität gilt und wer in ihr kontrolliert werden muss«.⁸

Wir nennen diese Publikation ein »Anti-Gefängnis-Lesebuch«, um zu verdeutlichen, dass die Entwicklung eines Anti-Gefängnis-Bewusstseins für das größere Projekt der Befreiung und Umgestaltung sozialer und politischer Beziehungen grundlegend ist. Dazu gehört notwendigerweise der Übergang von den gegenwärtigen Formen der Polizeiarbeit, der gesellschaftlichen Überwachung und des Gefängnisses zu neuen Formen der Gerechtigkeit, die auf Bildung, gegenseitiger Hilfe und Gemeinschaftssinn beruhen. Letztlich geht es darum, Menschen zu befreien. Die Abolitionisten der Vergangenheit waren Visionäre, die sich eine Zukunft ohne Sklaverei vorstellten und dafür kämpften. Heutige Abolitionisten stellen sich eine Zukunft vor, in der Vergeltung und Gefängnisse keine »Lösung« mehr sind. Wie es Assata Shakur in ihrem Gedicht zum Ausdruck bringt: »Wenn ich überhaupt etwas weiß, / dann, dass eine Mauer nur eine Mauer ist / und sonst gar nichts / Sie kann niedergerissen werden.«⁹

»Die Rebellen gingen ins Gefängnis«, schreibt Joy James in »Imprisoned Intellectuals«¹⁰, »und während sie die Haft durchliefen und überlebten, schrieben sie als geächtete Intellektuelle ihre einzigartigen und kontroversen Erkenntnisse über Idealismus, Kriegführung und soziale Gerechtigkeit auf«. Die gesetzlosen Rebellen in »Beneath the Mountain« haben wichtige Lehren zu vermitteln, insbesondere für einen Staat, der wirtschaftlich benachteiligte Menschen, indigene, schwarze und hispanische sowie nicht-binäre Menschen verfolgt. Sie lehren uns etwas über das Wesen von Strafe und Disziplin, darüber, wie Staaten Macht ausüben, warum es lebenswichtig ist, sich zu Themen wie Befreiung, Mut, Einigkeit, Handlungsfähigkeit und den Widersprüchen der Ungleichheit selbst öffentlich zu äußern. Sie zeigen uns, wie wir uns organisieren können, wie uns eine Weltanschauung Leitlinien für unser Handeln liefern kann und warum »revolutionäre Liebe« und Hoffnung notwendig sind, um unsere Freiheitsträume zu verwirklichen.

Revolutionäre Liebe

»Revolutionäre Liebe« bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir einander schützen, respektieren und stärker machen, während wir uns dem Staatsterror entgegenstellen. Ihre Präsenz wird in diesen Texten als notwendiger Bestandteil hervorgehoben, der hilft, die Angst zu vertreiben und die Solidarität und Einheit zu fördern, die für die Organisierung in gefährlichen Zeiten und an gefährlichen Orten unerlässlich sind. Fehlt sie, ist das eine Tragödie. »Revolutionäre Liebe« hält weder den Staat davon ab, uns zu töten, noch ist sie ohne Strategie und Taktik wirksam. Aber sie ist die Kraft, die uns antreibt, trotzdem mit anderen Schulter an Schulter zu kämpfen. Vielleicht kann sie Berge versetzen.

Da wir beiden Herausgeber aus Pennsylvania stammen, ist Philadelphia unser Hauptbezugspunkt. Um die historischen und regionalen Umstände der staatlichen Repression und des Terrors, mit denen wir am meisten vertraut sind, zu verdeutlichen und die Art und Weise, wie der Staat versucht, uns zu spalten, zu bekämpfen, drücken wir es im Philadelphia-Stil aus – mit der Ermutigung, dass wir voranschreiten und uns mit »Love, Not Phear«¹¹ organisieren.

Jeder Autor in »Beneath the Mountain« hat auf die eine oder andere Weise Gesetze, Brauchtum und Normen in Frage gestellt, die in ihrer jeweiligen Epoche die Ungleichheit förderten. Einige haben dafür mit ihrer Freiheit bezahlt, andere mit ihrem Leben. Jeder von ihnen hat zur kollektiven Entwicklung eines radikalen Bewusstseins gegen das Gefängnissystem beigetragen, auch wenn sie sich selbst nicht als »Gefängnisgegner« oder »Abolitionisten« bezeichneten, da diese Kategorien in der jeweiligen Zeit nicht immer in der gleichen Weise existierten, wie wir sie heute verstehen. Die Worte, die aus ihren Kämpfen hervorgingen, belegen die Kontinuität des emanzipatorischen Bewusstseins über viele Generationen hinweg und weisen gleichzeitig in eine gerechtere und egalitärere Zukunft.

Wir bemühen uns, ihre ungefilterten Stimmen für sich selbst sprechen zu lassen, da die Selbstdarstellung entscheidend ist. In einigen Fällen war dies nicht möglich, und die Aussagen wurden von einem Autor oder Reporter wiedergegeben. Der Inhalt ist jedoch ein Wert an sich, auch wenn wir zugeben, dass die Vermittlung die Möglichkeit einer falschen Darstellung und Verzerrung zulässt, egal wie wohlmeinend oder genau der Verfasser gewesen ist.

Es gibt noch viel mehr Kämpfer, Liebende und Revolutionäre, die unter dem Berg gefangen sind. Dieses Buch ist ein guter Ausgangspunkt, aber wir müssen weiter lesen, lehren, Strategien entwickeln und uns organisieren. Wichtige Offenbarungen finden wir unter den Erniedrigten und Beladenen, den Machtlosen und im Stich Gelassenen, den Armen, den Unterdrückten und den Unfreien. Unser Kampf für die Befreiung ist ein Geschenk an die Menschheit. Wir können nicht alle künftigen Herausforderungen vorhersehen, aber wir wissen, dass Gefängnisse kein unvermeidliches und dauerhaftes Merkmal der Gesellschaft sein müssen.

Freiheit für die Gefangenen

Im Juni 1972 sprachen die Geschworenen Angela Davis nach 16 Monaten Untersuchungshaft vom Vorwurf der Verschwörung, des Mordes und der Entführung frei. Wenige Tage nach ihrem Sieg im Gerichtssaal hielt Angela eine Rede in Los Angeles, in der sie sagte: »Martin Luther King sprach einst von dem, was er sah, als er auf den Gipfel des Berges ging. Er erzählte uns von den Visionen einer neuen Welt der Freiheit und der Harmonie; er erzählte uns von der Schwesternschaft und Brüderlichkeit der Menschheit. Dr. King hat das viel eloquenter beschrieben, als ich es je versuchen könnte. Aber es gibt auch den Fuß des Berges und die Regionen unter der Oberfläche. Ich kehre gerade von einem Abstieg zurück, den ich zusammen mit Tausenden und Abertausenden unserer Schwestern und Brüder in die hässlichen Tiefen der Gesellschaft vollzogen habe. Ich möchte versuchen, euch ein wenig von diesen Regionen zu berichten. Ich möchte versuchen, euch davon zu überzeugen, euch dem Kampf anzuschließen, um denjenigen Leben und Atem zu geben, die abgeschottet von allem leben, was die Würde des Menschen ausmacht.«

Mehr als ein halbes Jahrhundert später erscheinen uns diese Worte, als wären sie erst heute geschrieben worden. Die Regionen, von denen Angela spricht, die beklagenswerten Tiefen, die im Widerspruch zur Möglichkeit der Befreiung stehen, bleiben eine seelische Hölle für diejenigen, die dazu verurteilt sind, sie zu ertragen. Die Freiheit der inhaftierten, enteigneten, ausgestoßenen und missachteten Menschen, die unter dem Berg gefangen bleiben, zu erkämpfen – und die Möglichkeit eines solchen Schicksals für die Generationen der Zukunft abzuschaffen –, ist die ultimative Aufgabe, der dieses Buch gewidmet ist. In love, not phear.

Anmerkungen

¹ Mumia Abu-Jamal: Unter einem Berg von Unterdrückung. Übersetzung: Jürgen Heiser, junge Welt, 16. September 2024, S. 6

² »Carceral System« wäre mit »Gefängnis- oder Strafvollzugssystem« nur unzureichend übersetzt. Der Begriff entstammt dem soziologischen und philosophischen Kontext akademischer und politischer Kritik, meist in der Literatur zur Abschaffung der Gefängnisse als Mittel umfassender sozialer und politischer Kontrolle durch Strafe, Sühne oder Rache im Rahmen polizeilicher und justizieller Staatspolitik.

³ In weiten Teilen Pennsylvanias lebten vor der Kolonialisierung die indigenen Lënapeyok bzw. Lëni Lënape (Lenni Lenape oder Delawaren; kurz Lenape oder Delaware), die ihr Land zu keiner Zeit freiwillig der britischen Krone oder einer US-Regierung übertragen haben. Die heutige Bewegung des »Territory Acknowledgement« bzw. »Territorial Acknowledgement« bekennt öffentlich, auf gestohlenem Land zu leben, das von den Ureinwohnern niemals freiwillig übergeben wurde. Die bei Vorträgen und anderen Veranstaltungen oder in veröffentlichten Schriften wie hier benannte »Anerkennung des Territoriums« soll die Präsenz indigener Völker und ihre Landrechte sowie die Geschichte des Kolonialismus im Alltag bewusst machen. Siehe beispielsweise: native-land.ca/resources/territory-acknowledgement (kanadisch).

⁴ »Crazy Horse« (um 1839–1877), in Lakota eigentlich Tȟašúŋke Witkó (Aussprache: »Tchaschunke Witko«; deutsch »Sein Pferd ist verrückt«), war Anführer der indigenen Oglála (einer der sieben westlichen Sioux-Unterstämme; Selbstbezeichnung: Lakota, in Abgrenzung zu den benachbarten Nakota und den östlichen Dakota).

⁵ Für »Slavery by Another Name: The Re-Enslavement of Black Americans from the Civil War to World War II« (New York 2008) wurde Douglas A. Blackmon 2009 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Janet Maslin schrieb im April 2008 für die New York Times, Blackmon habe mit diesem Buch »eine der Grundüberzeugungen der US-Amerikaner zunichte gemacht« – nämlich jene, »dass die Sklaverei in den USA mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg endete«.

⁶ Zwischen 1740 und 1867 untersagten die »Anti-Literacy Laws« in den USA Sklaven sowie auch »freien Schwarzen« das Erlernen des Lesens und Schreibens. Die weißen Eliten sahen darin eine Bedrohung für die Institution der Sklaverei.

⁷ Der »Stop WOKE Act«, ausgeschrieben »Stop Wrongs to Our Kids and Employees Act«, umbenannt in »Individual Freedom Act«, ist ein Gesetz des US-Bundesstaates Florida, das es Schulen und Unternehmen verbietet, bestimmte Inhalte in bezug auf Ethnie, Geschlecht, Rassismus und Privilegien zu unterrichten.

⁸ Ruth Wilson Gilmore: Golden Gulag. Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, Berkeley 2007, S. 12

⁹ Assata Shakur: Assata. An Autobiography, London 1987, S. 2

¹⁰ Joy James (Hg.): Imprisoned Intellectuals. America’s Political Prisoners Write on Life, Liberation, and Rebellion, Lanham 2003, S. 4; siehe für das Zitat u. a. auch Joy James: Seeking the Beloved Community. A Feminist Race Reader, New York 2013, S. 154

¹¹ Mit »Liebe, ohne Furcht«; das Kunstwort »phear« setzt sich zusammen aus »Philadelphia« und »fear« – Abu-Jamal und Black verweisen dabei auf ihren »Philly Style«. Siehe auch Mumia Abu-Jamal: Liebe als revolutionärer Akt. Übersetzung: Jürgen Heiser, junge Welt, 4./5. März 2023, S. 7

Mumia Abu-Jamal, Jennifer Black (Hg.): Beneath the Mountain. An Anti-Prison Reader. City Lights Books, San Francisco 2024, 496 Seiten, 17,47 US-Dollar

Daraus: »Introduction« © 2024 Mumia Abu-Jamal und Jennifer Black. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Jürgen Heiser.

Mumia Abu-Jamal und Jennifer Black werden auf der 30. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar 2025 in Berlin sprechen.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gion H. aus H. G.M. La Habana (30. Dezember 2024 um 05:44 Uhr)
    Vielen Dank für diesen außerordentlich eindrücklichen - und beinahe erdrückenden - Artikel. Man sollte ihn zur Pflichtlektüre machen! Es macht überaus deutlich und klar, wieso es christliche Zionist*innen gibt und wieso die US-Regierungen sowie die Bundesregierung so absolut hinter den faschistischen zionistischen Regierungen Israels stehen und Waffen liefern. Weil dieser jetzige zionistische Völkermord in Palästina auch ihr eigener whitesupremacy Völkermord ist, den sie, nicht nur innerhalb der USA, sondern in vielen weiteren Ländern der Welt verübt haben und immer noch tagtäglich verüben!

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