Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Ausgabe vom 23.12.2024, Seite 12 / Thema
Namibia

Ottos Krönung

Serie. Namibia gestern und heute (Teil 1). Traditionen, die sich bewahrt haben. In Fransfontein wird feierlich ein neuer Gaob eingesetzt
Von Ursula Trüper
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»Inauguration of our Gaob C. W. ǀUirab« (Fransfontein, 5.10.2024)

Fransfontein ist ein kleines Nest in Namibia, hundert Kilometer südöstlich des berühmten Naturreservats Etosha-Pfanne. Jetzt, um diese Jahreszeit, ist es dort heiß und trocken, und es hat schon lange nicht mehr geregnet. Auf dem Weg dorthin fährt man an nichts als Sand, Steinen und verdorrten Büschen vorbei, kein grünes Blatt weit und breit.

Dann kommt man in Fransfontein an. Der Name des Ortes bedeutet »Quelle des Franz«. Und da ist sie schon. Ein wunderbares Wasserloch, ein kleiner Bach, der mitten durch den Ort fließt. Rund um die Quelle stehen riesige schattenspendende Bäume. In manchen Gärten gibt es dank eines ausgeklügelten Bewässerungssystems Bäume und Grünpflanzen. Hier bauen die Fransfonteiner Gemüse an.

Fransfontein ist die Heimat der Nama-Gemeinschaft Swartbooi, in Nama: ǁKhau-ǀgõan.¹ Ihre Geschichte ist ziemlich gut dokumentiert, denn seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lebte ein Missionar unter ihnen, Franz Heinrich Kleinschmidt. Kleinschmidt schickte regelmäßig Berichte an seine Missionsgesellschaft. 1845 hatte der Nama-Gaob Willem Swartbooi (Huiseb Haobemab) gemeinsam mit seinem Missionar südlich von Windhoek die Ansiedlung Rehoboth gegründet. Von dort waren sie in den 1860er Jahren durch feindliche Nama-Gemeinschaften vertrieben worden. Danach waren sie, auf der Suche nach einer dauerhaften Bleibe, immer weiter in den Norden gezogen. Schließlich ließen sie sich an der bereits erwähnten Quelle nieder, Fransfontein, weit, weit entfernt von ihrem angestammten Gebiet. Ende des 19. Jahrhunderts kam ein neuer Missionar zu ihnen. Eine Kirche aus Lehmziegeln wurde erbaut, Schulunterricht erteilt und Messen abgehalten. Andere Menschen aus der Umgebung ließen sich ebenfalls in Fransfontein nieder. 1895 zählte der Missionar dort etwa 450 Menschen.²

Unter der Apartheid

Seit dieser Zeit leben in Fransfontein sowohl Angehörige der ethnischen Gemeinschaft Nama als auch der Damara. Beide Volksgruppen sprechen die gleiche Sprache, Khoekhoegowab, und ursprünglich interessierte sich niemand dafür, wer zu welchem »Stamm« gehörte. Dies änderte sich mit dem Odendaal-Plan. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde das heutige Namibia, die ehemalige Kolonie Deutsch-Südwestafrika, von Südafrika verwaltet. Und wie dort herrschte in Namibia Apartheid. In den 1960er Jahren wurden im Rahmen des Odendaal-Plans überall in Namibia Reservate für »eingeborene Stämme« eingerichtet, sogenannte Homelands, auch »Bantustans« genannt. Fransfontein lag nun plötzlich mitten im Homeland »Damaraland«, das ausschließlich für die Damara reserviert war. Die Behörden versuchten, die Swartbooi ins Nama-Reservat »Gibeon« im Süden umzusiedeln. Doch die Dorfältesten weigerten sich. »Nur wenn ihr dafür sorgt, dass wir die Quelle, die Gärten und den Friedhof von Fransfontein mitnehmen können, werden wir umsiedeln«, erklärten sie den Verwaltungsbeamten.³ Daraufhin ließ man die Swartbooi zwar in Ruhe, doch sie waren in keiner beneidenswerten Situation. Jobs oder staatliche Unterstützung gab es nur für Damara. Wer, wie die Swartbooi, zu den Nama gerechnet wurde, musste sehen, wo er blieb.

Inzwischen sind diese Zeiten lange vorbei. Dass ich mich derzeit in Fransfontein aufhalte, liegt daran, dass an diesem Wochenende die offizielle Inauguration des neuen Gaob von Fransfontein stattfinden soll. Ein Gaob ist das, was man früher abwertend »Häuptling« genannt hat. Heute nennt man dieses Amt »Omahona« bei den Ovaherero und »Kaptein« bzw. »Gaob« bei den Nama. Dem Gaob beratend zur Seite steht ein Gremium, das man »Traditional Authorities« nennt.

Namibia ist seit der Unabhängigkeit ein modernes Land mit gewählten Politikern, einer modernen Verwaltung und einer unabhängigen Gerichtsbarkeit. Aber daneben gibt es die »Traditional Authorities«, die schon lange vor der Kolonialzeit existiert haben. Sie bilden ein Gremium der angesehensten Männer (und nicht selten auch Frauen), die in ihrem Einflussbereich Streitigkeiten schlichten, ihre Mitbürger beraten und überhaupt eine Brücke bilden zwischen den Organen des modernen Staates und den traditionellen Strukturen.

Zwar ist ihre Macht begrenzt. »Jede Sitte, Tradition, Praxis oder jeder Brauch, die diskriminierend sind oder die Rechte einer Person, wie sie durch die namibische Verfassung oder ein anderes Gesetz garantiert sind, beeinträchtigen oder verletzen oder das nationale Interesse beeinträchtigen, sind nicht gültig«, so ist es im »Traditional Authorities Act« festgelegt.⁴ Aber vor allem auf dem Land haben sie noch immer großen Einfluss. Jede Regierung tut gut daran, sich ihrer Unterstützung zu versichern. Sie könnten erheblichen Sand ins Getriebe streuen, wenn sie mit deren Politik nicht einverstanden wären.

Auch ich bin eingeladen, an den Krönungsfeierlichkeiten teilzunehmen, außer mir auch noch andere Weiße aus Deutschland, Namibia und Südafrika. Denn wir sind allesamt verwandt mit dem künftigen Swartbooi-Gaob Otto |Uirab.

Dass wir Otto überhaupt kennengelernt haben, war schierer Zufall. Im Internet sind wir auf die Homepage fransfontein.org gestoßen. Dabei handelt es sich um den Abschlussbericht zweier deutscher Ethnologen, die 2003 in Namibia Feldforschung unter den Swartbooi betrieben haben. In diesem Rahmen hatten Julia Pauli und Michael Schnegg mehrere Fransfonteiner zu ihren Vorfahren befragt. »Ich bin Charles Otto Williams |Uirab, ein Sohn der Erde von Fransfontein, in der Kunene-Region in einem Land, genannt Namibia«, ist auf der Homepage zu lesen. »Emma |Uiras, Mädchenname Sabatha, ist meine Mutter. Väterlicherseits gehört sie zu der Königsfamilie der Swartbooi, die zur ethnischen Gruppe der Nama gehört. Meine Großmutter war Rebecca Kleinschmidt, die Enkelin von Missionar Heinrich Kleinschmidt (deutsch).«

Ich hielt den Atem an, als ich das las! Missionar Kleinschmidt ist auch mein Vorfahr. Offensichtlich war der Autor dieser Zeilen mit mir verwandt. Aber wie genau?

Umgehend nahm ich Kontakt mit Otto |Uirab auf. Er antwortete: »Die Geschichte handelt von meiner Urgroßmutter, Ouma Rebecca Pietersen, geborene Richter. Geboren am 15. Januar 1858 in Rehoboth. Ihr Nama-Name: ǁGâua Geis. Sie arbeitete im Haus der Kleinschmidts in Otjimbingue. Während sie bei den Kleinschmidts arbeitete, wurde sie schwanger. Ein Junge kam zur Welt und er wurde getauft auf den Namen Ludwig Kleinschmidt. Nach der Taufe wurde er ihr weggenommen, um zu verbergen, was geschehen war im Haus der angesehenen Kleinschmidts …«⁵ Der Vater des Jungen: Mein Urgroßonkel Ludwig Kleinschmidt, ein Sohn meines Ururgroßvaters Franz Heinrich Kleinschmidt. Ludwig hat die Mutter seines Sohnes nie geheiratet, obwohl das damals, in den 1870er Jahren, lange vor der deutschen Kolonialzeit, noch möglich gewesen wäre. Um die Vaterschaft dennoch anzuerkennen, vererbte er seinem Sohn nicht nur seinen Vor-, sondern auch seinen Nachnamen.

Eine Geschichte, wie sie oft in Namibia erzählt wird. Praktisch alle Schwarzen⁶ Namibier, die ich kenne, haben irgendeinen Weißen Vorfahren in ihrem Stammbaum. Oft handelte es sich dabei um Vergewaltigung oder sexuelle Erpressung, es gab aber auch echte Liebesgeschichten. Dies war wohl auch im Falle von ǁGâua Geis und meinem Urgroßonkel Ludwig der Fall. Ja, er heiratete die Mutter seines Sohnes nicht. Ja, er ließ zu, dass seine Familie ihm das Kind wegnahm. Aber er verleugnete sie auch nicht. Offen lebten die beiden als Paar zusammen. Doch die Beziehung hielt dem Druck, den die anderen Weißen und insonderheit Ludwigs Familie auf die beiden ausübte, nicht stand. Ludwig fing an zu trinken. ǁGâua Geis, eine Swartbooi, verließ ihn schließlich und zog zu ihrer Familie nach Fransfontein. Ludwig heiratete keine andere – Weiße – Frau, wie es seine Familie sicher gern gesehen hätte. Am Ende seines Lebens muss er sehr einsam gewesen sein. ǁGâua Geis hingegen fing in Fransfontein ein neues Leben an und heiratete einen anderen Mann, einen Nama, wie sie selbst. Später kam dann auch ihr ältester Sohn, Ludwig Kleinschmidt jun., nach Fransfontein. Seine Tochter Rebecca ist Ottos Großmutter.

ǁGâua Geis ist eine direkte Nachkommin von Willem Swartbooi, dem Gründer von Rehoboth. Otto ist also nicht nur mit uns verwandt, er ist auch in mütterlicher Linie verwandt mit dem legendären Gaob Willem Swartbooi. Diese Tatsache qualifiziert ihn zum Gaob der Swartbooi.

Der Präsident sagt ab

2. Oktober. Als wir zwei Tage vor dem Fest in Fransfontein ankommen, ist die Stimmung gedrückt. Der Staatspräsident hat abgesagt. Das damals noch amtierende Staatsoberhaupt Nangolo Mbumba musste unverhofft nach Deutschland reisen. Ausgerechnet. Dabei hatte er fest versprochen, er würde ganz bestimmt kommen und der Krönungsfeierlichkeit ein entsprechendes Glanzlicht aufsetzen. Nun die kurzfristige Absage. Und da er nicht kommt, hat auch der deutsche Botschafter abgesagt.

Der Familienrat wird einberufen, ungefähr zehn Familienmitglieder von Otto, die an den erheblichen Vorbereitungen der Feierlichkeiten mitgewirkt haben. Die beiden Brüder von Otto, David und Bisey, beide entschiedene SWAPO-Anhänger, erklären die aktuelle Situation. Danach tritt betretenes Schweigen ein, etwa eine Viertelstunde, bis wieder einige Worte gewechselt werden. Es wird diskutiert, ob alles um 14 Tage verschoben werden soll, diesen Termin würde der Ministerpräsident dann auch wieder fest zusagen. Bei näherem Überlegen ist es allerdings kaum möglich, die Veranstaltung abzusagen. Es werden 800 bis 1.000 Gäste erwartet, und die meisten von ihnen kommen von weit her und sind bereits auf dem Weg. Alle Vorbereitungen sind getroffen, zwei große Zelte aufgestellt, die Bestuhlung besorgt, Rinder und Hühner geschlachtet.

Nun kommt die Frage auf, wer den Ministerpräsidenten vertreten soll. Es wird hin und her telefoniert, mit dem Büro des Präsidenten, mit einigen Ministern. Mittlerweile ist es zehn Uhr abends. Erst am nächsten Morgen gibt es Klärung: Ein Minister kommt als Vertretung.

Für uns Europäer ist es überaus erstaunlich, dass diese Familie solch einen leichten Zugang zu den hohen Ebenen der namibischen politischen Klasse hat – und dann noch zu dieser späten Stunde. Langsam dämmert uns, dass wir es offensichtlich mit der seit der Unabhängigkeit sich neu gebildeten Schwarzen Oberschicht zu tun haben. Ottos Brüder haben eine Karriere gemacht, die erst mit der Unabhängigkeit möglich wurde. Beide haben studiert und angesehene und gutbezahlte Posten bekleidet. Jetzt sind sie im Ruhestand. Und nun, so mögen sie gedacht haben, ist auch mal ihr kleiner Bruder Otto dran, der auf dem Dorf zurückgeblieben ist. Sie waren es vermutlich, die die Verbindung zum Ministerpräsidenten hergestellt haben.

3. Oktober. Wir wohnen in Khorixas, einer Lodge ungefähr 26 Kilometer von Fransfontein entfernt. Denn im Ort selbst wird es in den nächsten drei Tagen keine Möglichkeit zum Übernachten geben. Wir schauen noch mal kurz bei den ǀUirabs rein. Otto kommt und gesteht, dass er aufgeregt ist. Manda, Ottos Frau, erzählt mit leuchtenden Augen, dass ihre Tochter endlich Arbeit gefunden hat. Sie hat Physik studiert und war nach dem Examen arbeitslos.

In Namibia ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch: 33 Prozent insgesamt, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt gar 46 Prozent. Wie man an Ottos Tochter sehen kann, liegt das keineswegs nur, wie oft behauptet wird, an der mangelnden Qualifikation der Namibier. Auch für Akademiker ist es sehr schwer, Arbeit zu finden. Und nun hat sie sogar einen richtig guten Job gefunden, bei Hyphen, der »grünen« Wasserstoffirma.⁷ Nächstes Jahr soll sie für ein Jahr nach Deutschland gehen, nach Stuttgart, zur Fortbildung.

Hyphen. Dieses Wort werde ich in nächster Zeit noch öfter hören. Es steht für das ambitionierte Wasserstoffprojekt der deutschen Regierung, die gemeinsam mit Namibia die »grüne« Energietransformation voranbringen will. Viele Namibier sind extrem begeistert von diesem Projekt. Es gibt aber auch kritische Stimmen.

Wir bleiben nicht lange. Die ǀUirabs sind extrem beschäftigt. Wir sollen am nächsten Tag um 16 Uhr wiederkommen.

Die Hymne

4. Oktober. Wir kommen zu früh an. Im Hof der ǀUirabs haben sie Zelte aufgebaut, um uns vor der gnadenlosen Sonne zu schützen. Für uns, den Weißen Zweig der Familie, wurde ein eigener Tisch reserviert. Wir sind die einzigen Weißen weit und breit und fallen ziemlich auf. Offensichtlich sollen auch wir Ottos Krönung ein Glanzlicht aufsetzen.

Zuerst gibt es für uns alle etwas zu Essen. Ungefähr 300 Gäste sind anwesend. Ottos Bruder David betätigt sich als Conferencier. Er erklärt, dass er jetzt umlernen müsse, weil sein jüngerer Bruder neuerdings sein Boss sei. Nach dem Essen gibt es Livemusik. Vor allem die Älteren, Frauen wie Männer, beteiligen sich begeistert an den ziemlich komplizierten traditionellen Tänzen. Otto und Manda ziehen sich früh zurück. Morgen wartet ein harter Tag auf uns alle. David bittet die Jüngeren, dass sie wach bleiben, weil immer noch Gäste anreisen, zum Teil mit Bussen. Zum Abschluss werden die Nationalhymne von Namibia und die der Afrikanischen Union gesungen.

Für uns Deutsche ist es seltsam, mit welcher Inbrunst die Anwesenden ihre Nationalhymne singen. Das ist keine Hymne wie unser »Lied der Deutschen«, gedichtet von einem Antisemiten und Fremdenfeind, blutbefleckt in der Nazizeit, von der man zwei Strophen weglassen muss, damit sie überhaupt erträglich ist. Diese Hymne ist ein Symbol der Befreiung, sie wurde von dem namibischen Musiker und Dichter Axali Jakobus Doëseb gedichtet, nachdem das Land unabhängig geworden und die Apartheid abgeschafft worden war. »Namibia, Land der Tapferen / Wir haben den Freiheitskampf gewonnen«, fängt sie an. »Ruhm deinem Mut / dessen Blut unsere Freiheit begossen hat.«⁸ Vermutlich kann sich jeder der älteren Gäste noch gut an die Apartheid und den Bürgerkrieg in Namibia erinnern. Entsprechend bewegt wird die Hymne gesungen.

5. Oktober. Wir sind, wie geheißen, um acht Uhr da, aber außer uns noch niemand. Das Festzelt ist direkt neben der Quelle aufgebaut. So gegen zehn Uhr geht es dann los. Wir vom Weißen Zweig der Familie haben wieder reservierte Plätze. David betätigt sich erneut als Zeremonienmeister. Zuerst wird die Flagge der Afrikanischen Union und die von Namibia gehisst. Zwei Polizisten stehen sehr zackig, mit der Hand am Helm, stramm. Sie sind von der Familie ǀUirab dazugebeten worden. Sie symbolisieren die Staatsmacht. Außerdem weiß man nie, ob es bei so vielen Leuten nicht vielleicht Ärger gibt. Die Swartbooi-Fahne (rot mit weißen Punkten, mit der Bibel und einer Taube) ist schon zuvor gehisst worden. David trägt, wie alle Swartbooi heute, ein rotes Hemd mit weißen Punkten. Die meisten Swartbooi-Männer tragen so ein Hemd oder zumindest eine solche Borte am Hut. Die Frauen und Mädchen haben ebenfalls weißgepunktete rote Kleider und weiße Kopftücher. Auf vielen ist Otto abgebildet. Inschrift: »Inauguration of our Gaob Otto C. W. ǀUirab«.

David begrüßt uns. Sagt, dass Fransfontein eine sehr gemischte Bevölkerung hat. Eine Art Mini-UNO, wie er sich ausdrückt. Und dass sie alle willkommen sind und in Frieden miteinander leben: Nama, Damara, Ovambo. Die Erinnerung an die Apartheid und das Ausspielen der verschiedenen »Stämme« gegeneinander ist offensichtlich nicht vergessen.

Es sind eine Menge »Traditional Leaders« anwesend, die aus dem weit entfernten Süden Namibias angereist sind, um ihren künftigen Kollegen zu inthronisieren und in ihrer Mitte willkommen zu heißen. Sie sind nicht allein gekommen, sondern immer mit einer mehr oder weniger großen Gruppe aus ihrem Clan. Wie ich erfahre, kann man an den Farben der Teilnehmer sehen, wer zu welchem Clan gehört: weiß mit schwarzen Punkten beispielsweise tragen die Witbooi, der Clan des berühmten Kämpfers gegen die deutsche Kolonialmacht, Hendrik Witbooi, der auch auf den Zehn- und Hundert-Namibia-Dollar-Scheinen zu sehen ist. Es gibt auch ganze Clans, Frauen und Männer, die in Gelb erschienen sind, und in Blau und in Grün.

Eine Neuerung weist diese Inauguration auf: Der ehemalige Gaob Daniel Luiperdt hat schon zu Lebzeiten sein Amt an einen jüngeren Mann übergeben. Er kann also selbst an den Krönungsfeierlichkeiten seines Nachfolgers teilnehmen. Er sitzt vorne auf dem Podium, neben ihm Otto und Manda.

Selbstverständlich in Nama

Eine Menge Reden werden gehalten. Dazwischen immer wieder Kultur. Manche Kinder warten stundenlang in der glühenden Sonne auf ihren Auftritt. Kleine Mädchen, die einen Nama-Tanz aufführen. Ein Ovambo-Tanz von Jugendlichen. Später sogar eine Gruppe von Ovaherero-Jungen, die eine Truppenspielerperformance zeigen, also ein militärisches Exerziermanöver, das in Ovaherero-Kreisen vornehmlich von erwachsenen Männern durchgeführt wird in Uniformen, die denen der deutschen Schutztruppen nachempfunden sind. Die Jungs tragen keine Uniformen, sondern lediglich graue Hosen. Und sie schwingen, auch wenn sie den Stechschritt imitieren, aufs anmutigste ihre Hüften bei ihren Bewegungen.

David weist ein weiteres Mal darauf hin, dass all diese Kulturen in Fransfontein wohlgelitten seien und ihren Platz hätten. Bisey berichtet ein wenig über den historischen Hintergrund von Fransfontein. Ein Mister Franz Frederick habe die Quelle entdeckt und später mit Hilfe von Dynamit verbreitert. Der Gründer der Swartbooi-Gemeinschaft, Gaob Kanabeeb, irgendwann im 17. Jahrhundert, sei außergewöhnlich schwarz gewesen. Er wurde Swartbooi genannt (was »Schwarzer Junge« bedeutet), daher der Name.

In der Zwischenzeit kollabiert der über 90jährige alte Gaob in der Hitze und muss mit dem Krankenwagen weggebracht werden. Wie wir bald darauf erfahren, erholt er sich aber rasch wieder. Er kann sogar am abendlichen Fest teilnehmen.

Dann wieder viele, viele Reden. Die meisten werden in Nama gehalten. Dies zeugt von einem neuen Selbstbewusstsein. Während der Apartheid wurde Kindern in der Schule gelegentlich der Mund mit Seife ausgewaschen, wenn sie Nama sprachen. Dieses Fest ist eine einzige Feier der Nama- bzw. der Swartbooi-Kultur.

Vermisst irgend jemand den Ministerpräsidenten oder gar den deutschen Botschafter? Mein Eindruck ist: nein.

Dann folgt endlich die offizielle Krönung, durchgeführt von den traditionellen Gaobs. Auch diese Ansprache findet in Nama statt. Otto, der schon während der gesamten Zeremonie erbärmlich geschwitzt haben muss in seinem schwarzen Anzug, bekommt nun feierlich einen roten Mantel umgehängt, dazu einen roten Hut und einen Stock. Dann kniet er nieder und seine Kollegen gießen ihm etwas Öl auf den Kopf. Ein sehr feierlicher Augenblick.

Im Anschluss hält er eine kurze Rede. Dass er das Amt annimmt. Dass er die Anrede Gaob bevorzugt. Dass er die Swartbooi gut führen wird. Ausdrücklich dankt er seiner »schönen Frau Manda«. Sie sei eine starke Frau. Er bittet sie, ihre Schultern breit zu machen und ihn zu unterstützen. Er dankt auch seinen Kindern. Nicht ohne die Ermahnung: »You are now Gaob Children, you must behave«, eine Bemerkung, mit der Ottos Sohn im Verlaufe des Tages noch oft aufgezogen wird.

Eine Wahlkampfrede

Danach noch eine Ansprache einer stellvertretenden Ministerin. Man merkt, sie ist Profi. Routiniert geht sie auf ihren High Heels über den unebenen Boden zum Rednerpult. Auch sie beschwört Einigkeit, außerdem Frieden und Fortschritt. Eine Wahlkampfrede. Dann endlich, um 16 Uhr, kommt der Tagesordnungspunkt »Refreshments and entertainment«. Wir Weißen dürfen mit den Celebritys und der »Royal Family«, wie David sich ausdrückt, unser Essen einnehmen.

Das wichtige Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Veranstaltung zieht: Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen. Und: Wir stehen loyal zur SWAPO-Regierung. Das ist ein wichtiges politisches Statement, denn gerade in Nama- und Ovaherero-Kreisen hört man immer wieder Kritik, dass die SWAPO-Regierung, die vor allem aus Abgeordneten aus dem Ovamboland besteht, ihre Heimatregion bevorzuge und den Süden und die Mitte Namibias, wo die Nama und Ovaherero leben, vernachlässige. Das könnte auch ein Grund gewesen sein, dass der Ministerpräsident sich bereit erklärt hatte, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. 800 bis 1.000 loyale Zuhörer bekommt er nicht jeden Tag zusammen. Die Wahl am 27. November ist nah.

Nach Abschluss der Feierlichkeiten geht es noch mal richtig ab: Die jungen Leute übernehmen das Kommando über die Musikanlage und fangen an, ausgelassen zu tanzen. Auch ohne den Ministerpräsidenten (und erst recht ohne den deutschen Botschafter) haben wir alle uns gut amüsiert.

Am darauffolgenden Wochenende erscheint in der wichtigsten Tageszeitung Namibias, The Namibian, ein Riesenartikel und eine komplette Seite mit Fotos: Titel »The break of an new dawn« – der Anbruch einer neuen Morgendämmerung.⁹ Na ja, denke ich mir.

Anmerkungen:

1 Die Zeichen ǀ, ǁ, ǂ und ǃ stehen für die vier Klicklaute in der Nama-Sprache Khoekhoegowab. Wer in diese Sprache hineinhören will: www.youtube.com/watch?v=Nz44WiTVJww

2 Walter Moritz: Die Swartboois in Rehoboth, Salem, Ameib, Fransfontein, Windhoek 1987, S. 32 (Aus alten Tagen in Südwest, Heft 7)

3 Interview von Otto ǀUirab mit der Autorin im März 2017

4 https://t1p.de/Authorities

5 E-Mail von Otto ǀUirab, 14. November 2012

6 Um anzudeuten, dass die Bezeichnung für Hautfarben »Schwarz« und »Weiß« keine biologischen Tatsachen, sondern politisch-kulturelle Zuschreibungen sind, schreibe ich im folgenden die entsprechenden Adjektive groß.

7 Offizieller Werbefilm für dieses Projekt: hyphenafrica.com/namibia

8 Vollständiger Text: »Namibia land of the brave, / Freedom fight we have won, / Glory to their bravery / Whose blood waters our freedom. / We give our love and loyalty / Together in unity / Contrasting beautiful Namibia / Namibia our country / Beloved land of savannahs / Hold high the banner of liberty. / Chorus: Namibia our Country / Namibia motherland / We love thee.«

9 The Namibian, 11. Oktober 2024

Ursula Trüper schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. November 2024 über Mohamed Husen, den »Treuen Askari«.

Solidarität jetzt!

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (22. Dezember 2024 um 22:04 Uhr)
    »Incomparable scalability, due to high land availability – 100% owned by GRN: Namibia is a vast and sparsely populated country (the second least populated country globally) meaning there are large swathes of uninhabited and undeveloped land, with co-located solar and wind resources. Lower capital costs compared to many other globally competitive green hydrogen potential countries: Thanks to Namibia’s political stability, investor-friendly landscape, clear Government strategy and strong governance framework, Namibia is one of the most stable, well run and lowest risk countries in Africa and is well positioned from a global risk perspective in comparison to other green hydrogen production potential countries.« Zitiert gemäß Anmerkung 7: https://hyphenafrica.com/namibia/ , GRN: Government of the Republic of Namibia GRN »Deepl: Unvergleichliche Skalierbarkeit aufgrund der hohen Landverfügbarkeit - 100 % im Besitz von GRN: Namibia ist ein riesiges und dünn besiedeltes Land (das am zweitwenigsten besiedelte Land der Welt), was bedeutet, dass es große Flächen unbewohnten und unbebauten Landes gibt, auf denen sich Solar- und Windressourcen befinden. Geringere Kapitalkosten im Vergleich zu vielen anderen weltweit wettbewerbsfähigen Ländern mit grünem Wasserstoffpotenzial: Dank der politischen Stabilität Namibias, der investorenfreundlichen Landschaft, der klaren Regierungsstrategie und des starken Governance-Rahmens ist Namibia eines der stabilsten, am besten geführten und risikoärmsten Länder Afrikas und im Vergleich zu anderen Ländern mit Potenzial für die Produktion von grünem Wasserstoff aus einer globalen Risikoperspektive gut aufgestellt.«

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