Beijing auf Innovationskurs
Von Jörg KronauerEin Begriffstrio hat im Jahr 2024 in den Planungen für Chinas wirtschaftliche Entwicklung eine wichtige Rolle gespielt: »Produktivkräfte neuer Qualität«. Das dritte Plenum des 20. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas, das – wie bei den dritten der gewöhnlich sieben ZK-Plena seit je üblich – ökonomischen Grundsatzfragen gewidmet war, räumte ihm, als es im Juli zusammenkam, einen speziellen Stellenwert ein. Die chinesische Industrie solle künftig, das beschloss das Plenum, ganz gezielt auf die Produktivkräfte neuer Qualität orientieren, um der Volksrepublik auf diesem Feld global zur Führung zu verhelfen. Worum ging es genau? Nun, genannt wurde – und wird meistens – eine große Bandbreite modernster Technologien von der Produktion von Elektroautos über die Fertigung von Halbleitern bis zur künstlichen Intelligenz (KI).
Die chinesische Wirtschaft steckt in einem tiefen Umbruch, der sie auch dieses Jahr stark geprägt hat. Die eine Seite dieses Umbruchs, die Seite der Zukunft – das sind die erwähnten Produktivkräfte neuer Qualität. Die andere Seite, das ist die Seite der Vergangenheit. Sie ist, was die chinesische Wirtschaft anbelangt, von einem Boom traditioneller Industrien – von Stahl bis Kfz –, vom rasanten Ausbau der Infrastruktur und von einer rasch expandierenden Immobilienbranche dominiert gewesen, die 2023 immer noch rund ein Viertel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts ausmachte. Die Immobilienbranche hat mit der ernsten Krise, in die sie geraten ist, die Volksrepublik auch im Jahr 2024 noch intensiv beschäftigt, wenngleich die schlimmste Phase inzwischen wohl überstanden ist. Im Januar verfügte ein Gericht in Hongkong die Liquidation des Immobilienkonzerns Evergrande, der im Zentrum der Krise gestanden hatte. Im Jahresverlauf gab die Regierung allerlei Maßnahmen bekannt, die die immer noch wankende Branche stützen sollen – von einer Senkung des Eigenanteils bei Immobilienkrediten, die im Mai verfügt wurde, bis zur Aufstockung der Kredite, mit deren Hilfe halbfertige Wohnungen zu Ende gebaut werden sollen, im Oktober.
Scheint es Beijing nach und nach zu gelingen, die Probleme des Immobiliensektors in den Griff zu bekommen, so sind andere Sektoren dabei, den Übergang von den traditionellen zu den neuen Technologien erfolgreich zu vollziehen. Das gilt etwa für die Elektroautobranche, die in diesem Jahr erneut schnelle Fortschritte erzielen konnte. Bereits Anfang 2024 fuhren auf chinesischen Straßen mehr Elektroautos als im Rest der Welt zusammengenommen, und zwar vor allem einheimische Marken. Im Juli wurden in der Volksrepublik erstmals mehr E-Autos zugelassen als Verbrenner. Mitte Dezember schließlich machte die Nachricht die Runde, 2024 sei der Konsum von Öl für die Herstellung von Raffinerieprodukten erstmals gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen, und zwar um rund 1,3 Prozent. Setze sich der Siegeszug der Elektroautos erwartungsgemäß fort, dann könne Chinas Verbrauch an fossilen Raffinerieprodukten insgesamt bis 2035 um bis zu 40 Prozent sinken.
Der Erfolg der chinesischen E-Autobranche lässt auch deren Exporte in die Höhe schnellen, was EU und USA 2024 mit Abwehrmaßnahmen beantworteten: Sie verhängten Zölle auf die Einfuhr chinesischer E-Fahrzeuge – im Falle der EU in Höhe von bis zu 35,3 Prozent, im Falle der Vereinigten Staaten in Höhe von 100 Prozent, was in der Praxis auf ein mehr oder weniger komplettes Embargo hinauslief. Die Verhältnisse hatten sich diametral verkehrt: Der Westen, industriell ins Hintertreffen gegenüber dem Schwellenland China geraten, musste seine deutlich schwächelnde Industrie mit Zöllen schützen. Freilich ist der Volksrepublik der Durchbruch noch längst nicht überall gelungen. Ausgerechnet bei Halbleitern liegt China noch hinter der Industrie des Westens und dessen ostasiatischer Verbündeter – Südkorea und Japan – zurück. Fortschritte gelangen allerdings auch in der Chipbranche. Die USA hatten einst beabsichtigt, die Volksrepublik mit Sanktionen an der Produktion von Halbleitern, die kleiner als 14 Nanometer sind, zu hindern. Bereits 2022 war erstmals über chinesische Sieben-Nanometer-Chips berichtet worden; im Oktober dieses Jahres teilte der chinesische Konzern Xiaomi mit, er wolle bereits 2025 in die Massenproduktion von Drei-Nanometer-Halbleitern einsteigen.
Mit Durchbrüchen wie diesem gerät der Erfolg bei einem weiteren Bemühen in den Blick, das auf dem dritten Plenum im Juli gleichfalls eine wichtige Rolle spielte: das Bemühen, auf möglichst allen zentralen Technologiefeldern vom Westen unabhängig zu werden, um das weitere eigene Wachstum auch bei stets erneut gesteigerten westlichen Sanktionen sichern zu können. Dabei kommt den kleinsten Halbleitern auch deshalb besondere Bedeutung zu, weil sie grundlegend für Entwicklung und Nutzung von KI sind. KI aber wird in Zukunft wohl unverzichtbar dafür sein, was im engeren Sinne die Produktivkräfte neuer Qualität ausmacht: ein Produktionsmodell, bei dem Daten zu einem entscheidenden Produktionsfaktor werden. Es werde, sagte im April Gao Zhikai, Vizepräsident des Center for China an Globalization, voraus, »das bestehende Produktionsmodell grundlegend« verändern.
Bei alledem legte das dritte Plenum im Juli auch fest, die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft müsse es ermöglichen, die Lebensbedingungen der Bevölkerung anzugleichen und Ungleichheiten zu verringern. Zumindest einige Fortschritte konnten dabei im vergangenen Jahr erzielt werden. So gelang es zuletzt etwa, die Jugendarbeitslosigkeit, die in China für einigen Unmut sorgt, zu reduzieren – von 18,8 Prozent der 16- bis 24jährigen mit Ausnahme von Studierenden im August auf 16,1 Prozent im November. Allerdings ist auch das noch ziemlich viel. Ähnliches lässt sich für die Zahl der Milliardäre in der Volksrepublik sagen, die im Jahr 2021 bei 1.185 lag, in diesem Jahr aber auf 753 gefallen ist – ein Minus von rund 36 Prozent. Die Richtung stimmt. Allerdings wäre, wenn man die Lebensverhältnisse in China angleichen will, selbst ein Milliardär diesem grundlegenden Anliegen im Weg.
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