Komm gut nach Hause, mein Freund
Von Pierre Deason-TomoryAm Montag vormittag, am nächsten Tag ist schon Heiligabend, sitzt der lange graue Mann mit Mantel im großen Rewe-Markt im Neubaugebiet in der Bäckerecke. Am Nebentisch Mutter und Tochter, das Mädchen hat eine Bockwurst gehabt, die Pelle liegt noch auf dem Teller, jetzt schauen sie sich ein Musikvideo auf dem Telefon an und schunkeln im Takt: »Deine rote Nase ist die beste auf der ganzen Welt …«
Vorne neben der Geschirrückgabe unterhalten sich vier Frauen gut gelaunt miteinander, eine ältere sitzt allein am Tisch neben ihrem Rollator, hat eine leere Tasse vor sich stehen und schaut zufrieden ins Nichts. Ein schon recht alter, großer, hagerer Mann mit dichtem weißem Haar fragt Graumann, ob er sich dazusetzen kann, während er auf seine Frau wartet. »Es wäre mir eine Ehre«, antwortet dieser.
Graumann hat ein Brot für die Feiertage gekauft, trinkt nun eine kleine Tasse Kaffee und beobachtet die Leute, die in langen Schlangen vor den vier Kassen warten, ihren Großeinkauf aufs Band legen, in den Wagen zurückpacken oder bezahlen, und manche lächeln dabei. Keiner drängelt, keiner hetzt, keiner scheißt seine Kinder zusammen, die Kassiererinnen wünschen »Schöne Weihnachten« in einem Tonfall, als würden sie sagen »Komm gut nach Hause, mein Freund«. Durch die großen Scheiben sieht er, wie sachte Schnee auf den Parkplatzasphalt fällt, auf den irgend jemand, wie überall im Stadtteil, in verschiedenen Farben »Sorry« gesprayt hat, »Es tut mir leid« und »I love you«. Graumann steht auf, holt sich einen zweiten kleinen Kaffee. Die Verkäuferin gießt ihm heiße Milch ein statt der kalten. Er setzt sich wieder und rührt in der Tasse. Weihnachtsfrieden in Weimar-West.
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