Die menschliche Seele ist international
Von Peter MichelDer Dichter Guillaume Apollinaire verwendete erstmals 1917 den Begriff Surrealismus. Gemeint ist eine künstlerische Avantgardebewegung, die seit den 1920er Jahren in Literatur, Malerei, Fotografie und Film als Reaktion auf den Zusammenbruch traditioneller Wertvorstellungen im Ersten Weltkrieg entstand und bald in wichtigen Kulturzentren Europas sicht- und erlebbar wurde, vor allem in Frankreich, Belgien, in der Tschechoslowakei, in Dänemark und Schweden. André Breton formulierte 1924 sein »Manifest des Surrealismus«. In Prag gründete sich 1934 eine Surrealistengruppe, und ab 1939 – kurz vor der faschistischen Annexion der Tschechoslowakei – vereinigten sich dort in der Gruppe »Sieben im Oktober« Künstler, die mit sozialen und politisch engagierten Bildern in die Öffentlichkeit traten.
In München ist bis zum 2. März 2025 die Ausstellung »Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus« zu sehen. In einer Information der Pirckheimer-Gesellschaft wird diese Präsentation besonders gewürdigt. Sie umfasst zirka 400 Exponate und zeigt Entwicklungsaspekte von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart. Im Mittelpunkt stehen antifaschistische Positionen von Surrealisten und ihre vielfältigen Aktivitäten. Viele von ihnen wurden ab 1933 von den Nazis diskriminiert, als »entartet« diffamiert, verfolgt und ins Exil getrieben. Unter Einsatz ihres Lebens kämpften sie im Untergrund oder in den Reihen der Interbrigaden in Spanien gegen die Franquisten.
Neben Gemälden, Grafiken und Fotografien präsentiert die Ausstellung auch zahlreiche Publikationen und Dokumente. Arbeiten bedeutender Surrealisten – wie Max Ernst, René Magritte, André Masson oder Joan Miró – sind ebenso zu sehen wie Zeugnisse weniger bekannter Künstler, zum Beispiel Victor Brauner, Leonora Carrington, Óscar Dominguez und Raoul Ubac. Ein zirka 600 Seiten umfassender Katalog enthält in der Ausstellung gezeigte Manifeste, Gedichte und andere Materialien von Louis Aragon, André Breton, Paul Éluard, Paul Westheim und anderen.
Zu den Leihgebern dieser Ausstellung gehört der Wittenberger Kunstsammler Gerd Gruber, der schon vor einigen Jahren Stücke aus seiner Sammlung in der Ladengalerie der jungen Welt ausgestellt hatte. Er unterstützte die Münchener Schau mit sieben Werken, darunter eine der wenigen erhaltenen frühen Arbeiten von Heinz Lohmar, eine Temperaarbeit mit dem Titel »Attention«, die er 1935 im Pariser Exil schuf. Nach dem Einmarsch der faschistischen Wehrmacht musste Lohmar aus Paris fliehen. Die Nazis zerstörten die in der Wohnung verbliebenen künstlerischen Arbeiten. Nur diese eine blieb erhalten, weil Lohmars Frau sie auf der Flucht in ihrem Koffer mitnahm. Heinz Lohmar hatte sich in Paris dem Künstlerkreis um Max Ernst angeschlossen und war 1937 Mitbegründer des antifaschistischen Künstlerbundes »L’union des artistes libres«. Er überlebte in Südfrankreich, wo er sich der Résistance anschloss. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück, zunächst nach Ludwigshafen. Die Dresdener Hochschule der Bildenden Künste berief ihn 1949 zum Dozenten für Malerei und 1951 zum Professor. Vor allem auf die damalige junge Künstlergeneration hatte er großen Einfluss.
In einer Vitrine der Münchener Ausstellung liegt eine weitere Leihgabe Gerd Grubers: ein kleines, 1942 in nur 65 Exemplaren im Untergrund gedrucktes Buch mit dem Gedicht »La dernière nuit« (Die letzte Nacht) von Paul Éluard und einer Radierung von Henri Laurens. Es wurde nur an enge Freunde und Mitglieder der Résistance übergeben. Solche seltenen Stücke von meist privaten Sammlern gehören zu den Kostbarkeiten der Ausstellung. Sie macht deutlich, dass Surrealismus nicht auf Unlogisches, auf Traumdeutung und phantastisch Widersinniges reduziert werden kann und dass auch Surrealisten Künstler mit klaren politischen Haltungen waren.
»Aber hier leben? Nein danke. Surrealismus und Antifaschismus«, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München, bis 2. März 2025
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