Angezähltes Ich
Von Matthias Reichelt»Wenn doch das Chaos zu ordnen wäre. Aber so laut willst Du das nicht denken. Nur nicht die falschen Hunde wecken. Die verbellen dir den restlichen Hoffnungsschimmer. Zu oft schreckst Du aus dem Traum. Danach musst Du gründlich aufräumen. Aber was du auch bewegst, es blickt dich mit unruhigen Augen an. Bis du wieder das Licht löschst, das noch länger hinter den Lidern in Blitzen und Leuchtspuren deine Grenzgänge begleitet.« Hier lässt einer sein Leben Revue passieren, nicht als chronologische Erzählung, sondern als Gedanken- und Erinnerungssplitter, verwoben mit Naturbeschreibungen, Träumen und minutiösen Beschreibungen alltäglicher Situationen. »Das Bettzeug steif gefroren in der kalten Zugluft«, ist solch eine Präzision, der auch Gerüche und Geschmack von Kindheit folgen beim Gang durch die erinnerte »Trümmerebene« nach dem Krieg. Heinz Kattner, der Autor des 96seitigen Poems »Gespräch mit dem gesammelten Du«, ist Jahrgang 1947 und arbeitet als Schriftsteller und Herausgeber unter anderem von 25 Bänden der »Lyrik Edition«. Eine Mischform freier Verse und Prosa nennt er passenderweise Poem, ebenso wie sein Kollege Michael Arenz aus Bochum.
Die Gedankenlosigkeit eines etwaigen Lebensendes, ein Privileg der Jugend, ist völlig eingetauscht gegen die Gewissheit, im letzten Lebensabschnitt angekommen zu sein. Das Poem ist Gelegenheit und Ort, Rechenschaft abzulegen, Bilanz zu ziehen. Aufgewachsen in einer Familie, in der sich der Hass des Vaters mit dem Messer in der Hand zeigt, das Kind zieht sich die Decke über den Kopf. Situationen der Angst werden wie Schnitte im Körper erlebt, manches löst sich in Harmlosigkeit auf. Doch das Terrain der Erinnerung bleibt unsicher, in ihr lächelt die Mutter zu oft. Landverschickung, Morgenappell in der Schule, Deutschlandlied in der Trümmerlandschaft und dann immer wieder Naturbetrachtungen, die sich körperlich auswirken, etwa wie der wolkenlose Himmel, der auf die Brust des im Gras Liegenden drückt. Das Verblühen und das Herbstlicht, die aufsteigende Kälte transportieren Melancholie und evozieren ein nahendes Ende. Der Ton erinnert an Franz Josef Degenhardts Lied, das die Erfahrungen eines Herzkaspers mit ruhigem, aber deutlichem Rhythmus und klagendem Saxophon mit den Worten »Gleiten, Treiben ins Schilf« begleitet, wohin die Knochenhand winkt. Aber noch auf Seite 36 ruft Kattner die Nachkriegskindheit auf, mit dem Redeverbot im Schlafsaal bei der Landverschickung, mit täglicher Wiegerei, um das Aufpäppeln des Nachkriegsgerippes zu kontrollieren. Fotos helfen der Erinnerung auf die Beine. »Wie heißt der Kleine in der ersten Reihe, der ständig Schläge bekommt?« Ja, hier ist das Präsens so dominant, wie die Erinnerung mit der Macht der Gegenwart ausgestattet ist. Denn die Erinnerung diktiert und atmet Gerüche und Klänge, sie ist nahezu haptisch, zum Greifen nah. Der Faschismus ist besiegt, aber trotzdem werden die toxischen Lieder gesungen »Es tropft von Helm und Säbel …« und »Kein schöner Land in dieser Zeit«. Und plötzlich ist das Bild des sterbenden Vaters da, angeschlossen an Schläuche, dem am Kreuz Hängenden zuwinkend, »als würde er einem alten Freund sagen: ›Ich komme gleich‹«.
Abschied von der väterlichen Hülle im kalten Keller des Krankenhauses, draußen der Nebel, das Grau dehnt sich aus. Vom Tod der Mutter bleibt nur eine Mulde im leeren Bett, er kommt zu spät. Ein paar Seiten später steht schon die Frage, »wieviele Bücher kannst du noch lesen?« Tja, der Nächste, das Zwiesprache führende Ich, ist angezählt, aber es folgen noch Seiten mit Reminiszenzen von Liebe, Sehnsucht bis auf der letzten Seite das Abendrot glüht. Gerahmt hat Heinz Kattner das Poem mit Zitaten, zu Beginn Fernando Pessoas »Wenn das Herz denken könnte, würde es stillstehen« und am Ende Leonard Cohens »Das ist alles, was ich weiß. Den Rest kann ich nicht mehr lesen.«
Dieses Poem der inneren Dialoge zwischen Ich und Du ist von leiser Trauer getragen und passt zur aufgrund der allgemein desaströsen Lage vorherrschenden depressiven Endzeitstimmung dieser Tage.
Heinz Kattner: Gespräch mit dem gesammelten Du. Ein Poem. Zu-Klampen-Verlag, Springe 2024, 96 Seiten, 28 Euro
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