»Wir halten nichts von Grundschul-Abi!«
Interview: Milan NowakDie Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW, kritisiert den Test »Kompass 4«. Um was genau handelt es sich dabei?
Es ist ein Vergleichstest, der in den dritten Klassen in Baden-Württemberg geschrieben wird. Zirka einhunderttausend Kinder der Grundschulen haben ihn im November an zwei Tagen geschrieben. Er besteht aus einem Deutsch- und einem Mathematiktest. Dieses Jahr ist der Test, den es schon letztes Jahr gab, Bestandteil einer Neuregelung der Grundschulempfehlung. Das war eine bildungspolitische Entscheidung der aktuellen Landesregierung aus Grünen und CDU.
Weshalb sehen Sie die Grundschulempfehlung mittels dieses Tests kritisch?
Wir setzen uns in Baden-Württemberg für ein längeres gemeinsames Lernen ein. Im Hintergrund steht die Frage: Warum müssen Kinder im Alter von zehn Jahren und mit ihnen ihre Eltern entscheiden, wie die Bildungslaufbahn weitergehen soll? Zwar haben wir in Baden-Württemberg seit 2012 auch Gemeinschaftsschulen, wo diese Trennung nach der vierten Klasse nicht gilt, aber die meisten stehen weiterhin vor der Wahl: Geht es nach der Grundschule auf eine Haupt-, eine Werkrealschule, eine Realschule, eine Gemeinschaftsschule oder ein Gymnasium?
Solange es dieses stark zergliederte Schulsystem gibt, braucht es eine Grundschulempfehlung. Aber wir setzen auf ein freiwilliges Beratungsverfahren zwischen Lehrern, das sich in Baden-Württemberg in den vergangenen zwölf Jahren bewährt hat. Dabei entscheiden am Ende die Eltern über die Wahl der weiterführenden Schule. Bis 2012 galt eine verbindliche Empfehlung der Grundschulen.
Sie haben eine Umfrage unter Lehrkräften durchgeführt. Was sagen diese zum Kompass-4-Test?
Es gab eine sehr große Teilnahme an der Befragung. Quasi über Nacht hatten Hunderte Kollegen geantwortet. Es ist ein Thema, bei dem, wie die Schwaben sagen, »der Kittel brennt«, sprich: eine große Aufregung herrscht. Die gesetzlichen Regelungen für diesen Test waren noch gar nicht getroffen worden, als er geschrieben wurde. Erst vor wenigen Tagen fand im Landtag die erste Beratung zu den schulgesetzlichen Änderungen statt, auf deren Grundlage dieser Test stattfinden sollte. Insbesondere gab es Kritik an den Mathematikaufgaben. Aus Sicht der Lehrkräfte – da waren die Rückmeldungen eindeutig – waren sie viel zu lang und kompliziert. Hier wurde handwerklich schlecht und übereilt eine Art »Grundschulabi« eingeführt, das Kinder unter Druck setzt. So funktioniert gutes Lernen nicht. In Baden-Württemberg haben viele Kinder in den Grundschulen nicht deutsch als Muttersprache. Komplizierte Textaufgaben können daher eine besondere Herausforderung darstellen. Es gab auch Fälle, wo Kinder geweint haben und dem Stress nicht gewachsen waren. Wir halten gar nichts von einer Art Grundschulabitur, das Kinder beschämt, anstatt sie im Lernen zu fördern!
Welche Alternativen für ein gerechteres Verfahren gäbe es?
Zunächst einmal sagen wir, dass wir das bestehende Empfehlungsverfahren eigentlich nicht ändern müssen. Es hat in den letzten zwölf Jahren gut funktioniert. Die Lehrkräfte nehmen sich viel Zeit und beraten die Eltern intensiv bei ihrer Entscheidung. In anderen Bundesländern hat sich das auch weiterentwickelt. Derzeit haben nur drei eine verbindliche Grundschulempfehlung, die von Grundschulen getroffen wird. In allen anderen zählt der Elternwille und auch dort schaffen es Kinder am Ende ihrer Bildungslaufbahn zum Abschluss, in den Beruf oder ins Studium.
In Baden-Württemberg kommen inzwischen die meisten Studienanfänger nicht von allgemeinbildenden, sondern beruflichen Gymnasien. Das sind Kinder, denen oft in der vierten Klasse gesagt wurde: »Du bist mit deinen Leistungen eher für die Realschule geeignet.« Dann haben sie die mittlere Reife erworben, berufliche Gymnasien besucht und nach 13 Schuljahren die Studienberechtigung erlangt. Ein Instrument wie der Kompass-4-Test ist fragwürdig und unnötig.
Matthias Schneider ist Landesgeschäftsführer und Pressesprecher der GEW Baden-Württemberg
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