Fortgesetzte Stagnationsphase
Von Lucas ZeiseViel spricht dafür, dass es sich bei der aktuellen Weltwirtschaftskrise nicht nur um eine der einigermaßen regelmäßigen Konjunkturkrisen oder Rezessionen handelt. Die Ökonomen nehmen nicht nur hierzulande zunehmend das Wort Stagnation in den Mund. In Deutschland betrug das offiziell gemessene »Wachstum« des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr 2023 minus 0,1 Prozent und dürfte auch im sich gerade verabschiedenden 2024 etwa diese Nullgröße erreicht haben. Für das kommende Jahr rechnen Wirtschaftsforscher weiterhin nicht mit einem Wachstum.
Auch die Bundesbank in Gestalt ihres Präsidenten Joachim Nagel ging in ihrer jüngsten Prognose von weiterer Stagnation aus. »Die deutsche Wirtschaft kämpft nicht nur mit hartnäckigem konjunkturellem Gegenwind, sondern auch mit strukturellen Problemen«, erklärte Nagel dabei. Die Industrie sowie ihre Exportgeschäfte und Investitionen wären geschwächt, im kommenden Jahr werde das BIP daher nach Erwartung der Bundesbank nur um 0,2 Prozent wachsen. Von historisch niedrigen und weiter sinkenden Wachstumsraten gekennzeichnet ist auch die kapitalistische Weltwirtschaft. Das betrifft zum Beispiel auch China, wo der Immobiliensektor immer noch nicht bereinigt ist. Oder auch die USA, wo die letzten optimistischen Äußerungen zur Lage des Landes von Kamala Harris stammen.
Das Wort Krise scheint für den aktuellen Zustand der Weltwirtschaft unpassend. Es stellt sich die Frage, ob wir es nicht vielmehr mit einem Dauerzustand zu tun haben. Er beginnt mit der letzten großen Weltrezession in den Jahren 2008 bis 2009, die auf die 2007 ausgebrochene Finanzmarktkrise folgte und (vorläufig) die Phase der Politik des Neoliberalismus beendete. Den Weg aus der Finanz- und Weltwirtschaftskrise wies eine bis dahin nicht gekannte finanzielle Hilfsaktion der von der Finanzkrise betroffenen Staaten. Sie sicherten die Zahlungsfähigkeit der Banken, übernahmen sie in staatliche Regie, genehmigten Zuschüsse und Garantien für Fonds und Versicherungen, senkten die Zinsen für die Banken auf Nullniveau und füllten schließlich die Lücke in der realen Gesamtnachfrage durch Investitionsprogramme und Kaufprämien.
Der Ende 2008 in den USA scharf abgesenkte Leitzins blieb bis 2015 bei null Prozent. Erst dann war der Finanzmarkt wieder so weit erholt, dass der Kredit- und Spekulationsboom wieder zum Selbstläufer wie vor der Finanzkrise geworden war. Dennoch erholte sich die Weltwirtschaft nicht wie zuvor. Die Wachstumsraten blieben in den alten kapitalistischen Ländern nur mäßig. Als Hauptgrund dafür kann man konstatieren: Die kapitalistische Weltwirtschaft befand sich weiter in einem Zustand der Überproduktion und Überakkumulation. Die Krise hatte den Wert des Finanzkapitals zwar etwas eingedampft, aber die Entwertung des fungierenden Kapitals war bei weitem nicht so weit gegangen, dass ein neuer Zyklus mit Schwung hätte eingeleitet werden können.
Auch die aktuelle Krise, diese sich hinziehende Stagnationsphase, ist im Kern eine stinknormale, für den Kapitalismus übliche Überproduktionskrise. Sie ist Resultat des Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, der für den Kapitalismus typisch ist. Dieser Widerspruch drückt sich im Regelfall in kapitalistischen Konjunkturkrisen aus. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass das ungebändigte Wachstum von Kapital und Waren nicht auf genügend kaufkräftige Nachfrage trifft. Die private Aneignung des Mehrprodukts durch die Kapitalisten lässt den gesellschaftlichen Produzenten nicht genügend Wert (=Geld), um die munter produzierten Waren zu kaufen. Kapitalistische Krisen sind also Absatz- oder Realisierungskrisen. Typische Merkmale dafür, dass es sich um diese Art Krankheit des Kapitalismus handelt, sind die riesigen Überkapazitäten für industrielle Gebrauchsgüter (beispielsweise Autos in China und Deutschland) und grundsätzlicher die immer weiter auseinanderklaffende Differenz bei Vermögen und Einkommen zwischen Reich und Arm.
Die staatlichen Ankurbelungsprogramme schoben 2009 zunächst eine kräftige Erholung der Weltwirtschaft an. Zum ersten Mal in der Geschichte der kapitalistischen Weltwirtschaft spielte nach der Finanzkrise die steigende Nachfrage der Schwellenländer die wichtigste Rolle. China änderte seine Entwicklungsstrategie vom einseitigen Ausbau der Exportwirtschaft auf die Förderung des Binnenmarktes durch Investitionen in die Produktion von hochwertigen Waren und in die Infrastruktur (Verkehrswege, Wohnungsbau, Kommunikation). Der stark steigende chinesische Import von Maschinen machte das Land vorübergehend zum größten Kunden etwa deutscher Exporte.
Die Erholungsperiode seit der Weltwirtschaftskrise 2008/09 dauerte ungewöhnlich lange und war, an den Wachstumsraten des BIP in den alten Industrieländern gemessen, außergewöhnlich schwächlich, weshalb das Wort Aufschwung dafür auch von optimistischen Mainstreamökonomen dafür kaum verwendet wird. Dieser »Aufschwung« endete 2019 fast unbemerkt, als fast überall die Investitionen und der Welthandel erlahmten und sogar in neukapitalistischen Ländern die Wachstumsraten niedriger wurden. Vermutete Ursache damals: Von den USA ging eine Art selektiver Deglobalisierung aus. Sanktionen, Zölle wurden hoffähig, behinderten jedenfalls den Warenverkehr.
Die beginnende Wirtschaftskrise wurde verschärft durch den 2021 einsetzenden Anstieg der Energiepreise, der in eine allgemeine Teuerung mündete, auch Inflation genannt. Die steigenden Preise für Erdöl und Erdgas waren durch politische Maßnahmen (Sanktionen und Krieg) gegen einige große Produzentenländer (Venezuela, Irak, Libyen, Iran) verursacht worden. Der intensivierte Wirtschaftskrieg gegen Russland verschlimmerte die Lage im Frühjahr 2022. Energierohstoffe, besonders Rohöl werden in der industriellen Produktion, beim Transport, bei der Stromproduktion und in der Landwirtschaft überall gebraucht. Und sie beanspruchen zum Heizen und Transport große Teile des Budgets der Endkonsumenten. Inmitten der Überproduktion herrschte Knappheit. Die Inflation stieg bis ins Jahr 2023 fast weltweit stark an und gab im vergangenen Jahr dank der Nachfrageschwäche beim Endverbraucher im vergangenen Jahr wieder nach. Bei sinkenden Realeinkommen kommt im aktuellen Kapitalismus kein Aufschwung zustande.
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Leserbrief von Goterost (1. Januar 2025 um 02:10 Uhr)Sehr geehrter Herr Zeise, bei dieser Betrachtung der Überstagnationsphase, fehlen mir noch der Blick auf die Schattenbanken, die circa 80 Prozent des Geldverkehres auf der Welt bewältigen. Sind Schattenbanken auch gestützt, oder gar gerettet worden? Was hier in Bezug auf China noch berücksichtigt werden sollte, dass China neben der Förderung des Binnenmarktes aber auch weiterhin in der Welt Zugstrecken, Häfen u. a. baut und somit die Welt zu ihren Binnenmarkt macht. Eine Krise, die die Idee nährt, dass es zu Ende gehen könnte mit dem Kapitalismus. Dazu fehlen viele Marxisten und Kommunisten, die dies auf der ganzen Welt vorantreiben könnten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (31. Dezember 2024 um 09:20 Uhr)Wenn es mal doch so einfach wäre, dass die Überakkumulationskrise durch eine Steigerung des privaten Verbrauchs zu besiegen wäre! 800 Millionen Hungernde stünden da sofort zur Verfügung zu verbrauchen, was zuviel produziert wurde. Millionen Wohnungssuchende und Obdachlose könnten problemlos Wohnungsüberbestände aufzehren, die durch Spekulation entstanden sind. Statt Waffen zu produzieren, könnte man die Klimakrise bekämpfen oder die drückendste Armut in Afrika, Südostasien oder Süd- und Mittelamerika beseitigen. Der Neoliberalismus, der all das konserviert und die Probleme endlos verschärft hat, sei vorüber? Das ist eine sehr, sehr gewagte Feststellung. Es ist nicht der hinter den Notwendigkeiten liegende Verbrauch, der die Lösung aller Probleme verhindert. Es ist das Wesen der Gesellschaft, die sie erst geschaffen hat und weiter schafft.
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