Wohnen im Zelt
Von Thomas Berger, Sydney/Adelaide/PerthIn der George Street, einer der Haupteinkaufstraßen im Herzen Sydneys, kauert eine dunkle Gestalt mit einem Koffer und einem Schlafsack in der Hausecke. Passanten eilen geschäftig vorbei, eine Straßenbahn hält. Gerade im Zentrum von Australiens größter Metropole ist ein solcher Anblick nichts Ungewöhnliches, dabei könnte der Kontrast zwischen diesem Schlafplatz und dem Chic des wenige Schritte entfernt liegenden Queen Victoria Building mit seinen Nobelgeschäften kaum größer sein. Ganz ähnliche Szenen gibt es in anderen Großstädten Down Unders – von Melbourne über Adelaide bis Darwin. Und in der Barracks Street in Perth, direkt an der Ecke zur Fußgängerzone Hay Street gegenüber vom Rathaus, haben sich vor dem einsetzenden Regen zwei Obdachlose mit zotteligen Bärten samt ihrer spärlichen Habe vor ein Geschäft mit breitem Vordach geflüchtet.
Das Problem Wohnungslosigkeit ist in der reichsten Industrienation der Südhalbkugel aber weitaus größer. Es hat ganz viele Facetten. Im Dezember des vergangenen Jahres porträtierten Reporter der öffentlich-rechtlichen ABC am Rande von Bendigo eine Familie zum Thema. In der Stadt, gut 150 Kilometer nördlich von Melbourne, bekannt durch den Goldrausch ab Mitte des 19. Jahrhunderts, lebten die Eltern Emma und Dallas zu jenem Zeitpunkt schon fünf Monate mit ihren Kindern in einem Zelt. Eine Konstruktion aus einer Kunststoffplane und einigen Stangen als provisorische Heimstatt für sie und den Nachwuchs im Alter zwischen zwei und 18 Jahren. Aus ihrer Mietwohnung im drei Stunden entfernten Wimmera waren sie rausgeflogen und hatten selbst nach fast einem halben Jahr noch nichts Neues gefunden, das bezahlbar wäre.
Genauso ging es Samantha Carlyon und Robert McEncroe, die auf der anderen Seite Bendigos mit ihren beiden Kindern zu diesem Zeitpunkt sogar schon acht Monate in einem Zelt lebten. Sie hatten direkt in der 120.000-Einwohner-Stadt knapp ein Jahr zuvor ihre Wohnung räumen müssen. In einem weiteren ABC-Beitrag von Anfang Oktober hatte eine Reporterin mit Cheryl Rowe gesprochen, die in Margaret River, einer Kleinstadt südlich von Perth, inzwischen sogar seit zwei Jahren in einem Zelt lebt und beinahe jede Hoffnung aufgegeben hat, wieder eine Wohnung zu finden. Der Mann der 65jährigen war drei Tage, nachdem beide ihre notdürftige Unterkunft bezogen hatten, gestorben. Das Zelt stand im vergangenen Winter, dem nassesten seit Beginn der Datenerfassung in Western Australia, öfter unter Wasser. Die Seniorin schlägt sich finanziell mit Putzarbeiten in Airbnb-Wohnungen durch. Eine Eigentümerin lehnte es auf Nachfrage ab, Rowe in die Räume einziehen zu lassen, obwohl es dort nur selten Gäste gibt.
Der Bundesstaat Victoria hat deshalb eine ab Januar 2025 wirkende Sondersteuer von 7,5 Prozent für solche Fälle eingeführt, um einer wachsenden Zweckentfremdung von Wohnraum zugunsten des Tourismus entgegenzuwirken. Eine allumfassende Lösung ist dies aber nicht. Schließlich fehlen bezahlbare Wohnungen im großen Stil: 426.582 Sozialwohnungen hatte Australien Ende 2023, zwischen 2006 und 2022 sind davon nur gut 36.000 neu hinzugekommen, berichtet das Australian Institute of Health and Welfare. In manchen Orten beläuft sich nach Medienberichten die Wartezeit für eine Sozialwohnung inzwischen auf zehn Jahre. Selbst wer mit seinem Einkommen ein wenig besser dasteht, findet beinahe nirgendwo eine bezahlbare Bleibe.
Die Labor-Regierung von Australiens Premier Anthony Albanese hatte darum als Ziel ausgegeben, binnen fünf Jahren 1,2 Millionen neue Wohnungen bauen zu wollen – der National Housing Supply and Affordability Council (NHSAC) stufte dies laut einem Bericht des Guardian vom Mai in seiner ersten umfassenden Studie dieser Art als unrealistisch ein – und hält nur 943.000 Wohnungen in dieser Zeitspanne für realistisch. SBS News hatte im August aus dem jüngsten Bericht (The People’s Commission into Housing Crisis) zur Wohnungsmarktkrise zitiert, für die gut 1.500 Personen befragt wurden. Darin gab ein Drittel an, sogar öfter Mahlzeiten ausfallen zu lassen, damit im Monat noch genügend Geld für die Miete bleibe, 52 Prozent verwiesen auf maximales Energiesparen: Lieber im Winter frieren und im Hochsommer schwitzen, als in Zahlungsverzug zu geraten und auf der Straße zu landen. Diese Angst kann auch krank machen: 90 Prozent der interviewten Sozialverbände und Hilfsinstitutionen gaben an, ihre Klienten hätten aus diesem Grund psychischen Stress und ähnliche gesundheitliche Probleme.
»Hauspreise und Mieten steigen schneller als Löhne und Gehälter, das Angebot an freien Mietwohnungen hat ein Allzeittief erreicht. 169.000 Haushalte stehen auf den Wartelisten für eine Bleibe im öffentlichen Wohnsektor, 122.000 Menschen sind bereits obdachlos«, hatte Susan Lloyd-Hurwitz, die Vorsitzende des NHSAC, vor einem halben Jahr gegenüber dem Guardian ausgeführt. Dabei gibt es auf der anderen Seite sogar zuhauf Leerstand. Der Zensus 2021 ergab, dass gut ein Zehntel der landesweit 10,3 Millionen Unterkünfte (Eigenheime und Wohnungen), also reichlich eine Million, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, nicht bewohnt war.
Eine vor wenigen Wochen veröffentlichte Studie der Queensland University of Technology fasst den real zur Linderung der Wohnungskrise nutzbaren Leerstand in griffige Zahlen: Landesweit gibt es demnach mehr als 13 Millionen freie Schlafzimmer. Vor allem viele Senioren lebten in für ihren Bedarf deutlich zu großen Häusern, könnten dort also Untermieter einquartieren. Dies wäre sogar beiderseits von Vorteil, wie ABC am Beispiel einer solchen Wohngemeinschaft zwischen einer alten Dame und einer jüngeren Frau zeigte. Die Jüngere hat eine bezahlbare Bleibe gefunden und kann immer wieder mal nach der Älteren sehen. Allerdings scheuten sich viele Ältere aus Angst vor steuerrechtlichen Nachteilen, freien Wohnraum zu vermieten.
In einem Beitrag für The Conversation vom August analysierte Autor Peter Martin von der Australian National University eine Befragung von 49 Experten. Niemand unter ihnen war der Meinung, man solle alles den »Markt« richten lassen, 58 Prozent sprachen sich für aktive Maßnahmen zur Deckelung der Mieten und der Hausbaupreise aus. Für 61 Prozent erscheint es dringend nötig, mehr im öffentlichen Wohnungsbau zu tun. Zwar gibt es in Australien für 27 Millionen Menschen rund elf Millionen Wohnungen und Eigenheime – allerdings wohnten statistisch vor 100 Jahren noch 4,5 Menschen in einem Standardheim, heute sind es lediglich 2,45 Personen. Und ABC zeigte am Beispiel Tasmanien, dass die Bundesstaaten bei ihren Hausbauprogrammen tricksen. Auf der Insel wird nur knapp ein Drittel der versprochenen 10.000 neuen Wohnungen bis 2032 die Vorgaben der Kategorie sozialer Wohnungsbau erfüllen. Den derzeit laut Warteliste rund 4.800 Wohnungsersuchen stünden nur etwa 3.000 Angebote gegenüber, von denen 1.300 noch fertiggestellt werden müssen oder sich gar erst in der Planung befinden. Mit Vermittlung in bestehende günstige Mietwohnungen will die regionale staatliche Agentur Homes Tasmania ihre Zahlen weiter schönen, heißt es in der Recherche. Und für knapp 1.100 Wohnungssuchende soll es demnach ausreichend sein, ein vergünstigtes Baugrundstück zu erhalten, auf dem die Betroffenen dann selbst – egal auf welchem Wege finanziert – binnen zwei Jahren mit der Errichtung ihres Eigenheims beginnen müssten.
Oppositionsführer Peter Dutton von der Liberal Party hat derweil im Vormonat für den Fall eines Machtwechsels in diesem Jahr Pläne seines Regierungsbündnisses mit der National Party vorgestellt, wonach fünf Milliarden australische Dollar (etwa drei Milliarden Euro) in die Infrastruktur für den Hausbau (Abwasserleitungen und Erschließungsstraßen) investiert werden sollen. Damit als Basis, meint er, ließen sich zügig 500.000 zusätzliche Wohnungen schaffen. Das wären zumindest deutlich weniger als das, was sich die gegenwärtige Labor-Regierung zum Ziel gesetzt hat, so unrealistisch es auch scheinen mag, dass 1,2 Millionen neue Wohnungen gebaut werden. Die Meldungen, wonach Premier Albanese für 4,3 Millionen australische Dollar ein Zuhause an der Zentralküste von New South Wales beziehen will, sorgten zwar in der aktuellen Debatte um die Wohnungsnot für einiges Kopfschütteln; viele Spitzenpolitiker besitzen aber noch weitaus luxuriösere Immobilien, während etliche Landsleute sich nicht sicher sein können, ob sie in einigen Monaten noch ein festes Dach über dem Kopf haben werden.
Hintergrund: Wohnungsnot in Down Under
Gleich 35 Seiten sind der Wohnungskrise im Sachbericht zum aktuellen Haushalt 2024/25 gewidmet. »Australien hat einen Wohnraummangel. Es werden nicht genügend Wohnungen in den richtigen Gebieten gebaut, um den Bedürfnissen unserer lokalen Gemeinschaften gerecht zu werden«, heißt es schon zu Beginn. Benannt wird als Ziel der Bau von 1,2 Millionen neuen Wohneinheiten binnen fünf Jahren, also bis Ende Juni 2029. Dafür sollen die Bundesstaaten rund drei Milliarden AUD (1,8 Milliarden Euro) erhalten. Die Größenordnung der zu errichtenden Bauten wird mit einem Gesamtzuwachs »im Umfang einer Großstadt wie Brisbane« beschrieben. Deutlich räumen die Autoren des Papiers zudem ein, dass es als Lösungsansatz nicht nur darum gehen dürfe, rund um die Metropolen immer weitere Vororte zu ergänzen. Es gelte auch, die »fehlende Mitte« wieder in die größten Städte zurückzubringen.
Denn in der Praxis ist es so, dass sich ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung eine Wohnung im Stadtzentrum selbst bei solidem Verdienst schon lange nicht mehr leisten kann. Was in Sydney und Melbourne besonders ausgeprägt ist, trifft kaum weniger auch auf Adelaide, Perth oder Brisbane zu. Laut den jüngsten Erhebungen vom April 2024 sind selbst die Durchschnittsmieten landesweit in den Kalenderjahren 2021 bis 2023 um 9,1 Prozent gestiegen und liegen nun bei 627 AUD (375 Euro) – wohlgemerkt pro Woche. Der Preis für ein Eigenheim ist im Vorjahr sogar binnen zwölf Monaten um satte 6,6 Prozent geklettert. Da im ländlichen Australien in beiden Bereichen die Teuerung deutlich verhaltener ausfällt, sind es die Metropolen, die für die drastischen Kostensteigerungen beim Wohnen verantwortlich sind. Nicht nur in Sydney sind viele Menschen gezwungen, immer weiter an die Peripherie zu ziehen, weil es nur dort noch eine Bleibe gibt, die bezahlbar ist. Zwei Stunden Fahrtweg bis zur Arbeit sind dann keineswegs selten.
Eines der prinzipiellen Probleme, warum der Neubau nicht so recht in die Gänge kommt, ist ein verfassungsrechtliches: Australiens Verfassung räumt der Bundesregierung keine expliziten Kompetenzen in Sachen Wohnraumsicherung ein. Die primäre Zuständigkeit liegt damit bei den Teilstaaten, die aber zu wenig tun. (tb)
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (2. Januar 2025 um 01:52 Uhr)Kommt uns das alles nicht nur allzu bekannt vor? Aus welchem Grunde sollte der Kapitalismus in Australien auch »menschlicher« sein als anderenorts?
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