»Wie in einem offenen Gefängnis«
Von Yaro AllisatLars Kleyda ist bei der Dresdner Seebrücke aktiv, Hans Eylert ist Soziologe aus Dresden und Osman Oğuz ist Sprecher des Sächsischen Flüchtlingsrats e. V. Sie sind drei der fünf redaktionell Verantwortlichen für die vom Verein herausgegebene Broschüre »No more camps – we want homes!«
kurzlinks.de/no-more-camps
Sie haben für Ihre neue Broschüre mit Menschen gesprochen, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung, EAE, leben. Unter welchen Bedingungen wohnen diese dort?
Lars Kleyda: Die EAE sind sehr unterschiedlich. Gemeinsam haben sie, dass sie sehr abgelegen sind, an den Peripherien der Städte oder in kleinen Vororten. Die Unterbringungen variieren von durch Leichtbauwände abgetrennten »Räumen« in Messehallen über Leichtbauzelte bis hin zu richtigen Gebäuden. Die Menschen sind größtenteils in Gemeinschaftszimmern für rund vier Personen untergebracht, die nicht abgeschlossen werden können. Es gibt Gemeinschaftsduschen und -badezimmer.
Hans Eylert: Es gibt auch EAE mit viel Freizeitangebot, zum Beispiel Frauencafés, Sportanlagen oder Kinderbeschäftigung. Es gibt aber auch welche, wo es gar keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, wo der Fernseher nur bei Fußballspielen herausgestellt wird. Man darf nicht vergessen, dass das ein komplett anonymer Raum ist. Wir sprechen immer von »den Geflüchteten«. Aber die kennen sich ja untereinander gar nicht.
Osman Oğuz: Ob es Freizeitangebote gibt, hängt auch davon ab, ob vor Ort Sozialarbeitende sind oder nur »Sozialbetreuer«. Letztere arbeiten rein verwalterisch. Wenn es eine Sozialarbeitsstruktur gibt, dann gibt es mehr Angebote und Veranstaltungen, und es wird mit den Menschen überhaupt gesprochen.
Wie häufig dringt das Personal in die Räume der Bewohnerinnen und Bewohner ein?
H. E.: Kontrollen der Zimmer und beim Ein- und Ausgehen sind an der Tagesordnung. Einmal am Tag machen die Mitarbeitenden einen Rundgang durch die Zimmer, mit der Begründung, man wolle sichergehen, dass es allen Menschen gut gehe. Das kann selbstverständlich auch für Willkürakte genutzt werden. Die Menschen dürfen die Steckdosen in den Zimmern nicht benutzen und kein Essen auf den Zimmern haben. Da sieht man, worum es in der EAE geht: Es ist ein Kontrollregime und für die Betreiber eine rein verwalterische Herausforderung.
O. O.: Als Grund wird auch die »Brandschutzberatung« angeführt. Dafür gibt es gar keine rechtliche Begründung. Es steht so in den Betreiberverträgen und wird auf Zimmerkontrollen umgemünzt, wo beispielsweise nach Messern und Betäubungsmitteln gesucht wird.
Sie schreiben, dass die Situation in diesen Einrichtungen »problematisch bis lebensbedrohlich« sein könne. Wie kommen Sie zu dieser Bewertung?
L. K.: Vor allem vulnerable Gruppen sind aufgrund ihrer Sexualität, einer Schwangerschaft oder ihres Genders gefährdet. Es gibt mittlerweile Gewaltschutzkonzepte, diese werden jedoch nur sehr sporadisch umgesetzt. Es gibt ein hohes Gewaltpotential durch die Security, da diese in einer Machtposition ist. Die beengte Unterbringung befördert zudem Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern. Zudem ist die medizinische Versorgung äußerst mangelhaft.
O. O.: Es gibt immer wieder Menschen, die sich in EAE das Leben nehmen. Das liegt nicht nur an den Unterbringungsbedingungen, sondern auch daran, dass viele Menschen Probleme von der Flucht mitbringen. Diese Einrichtungen sind nicht darauf ausgerichtet, den Menschen zu helfen oder sie willkommen zu heißen, sondern sie abzuschrecken, überhaupt herzukommen. Ein Aufenthalt in einer EAE, quasi unter Repression, hinterlässt bei allen Menschen Schäden.
Sie haben auch die Arbeitsbedingungen der Angestellten in den Blick genommen. Was konnten Sie herausfinden?
H. E.: Rund 70 Prozent der Belegschaft sind selbst als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. Häufig hängt ihr Aufenthalt vom Arbeitsverhältnis ab. Sie haben nur befristete Arbeitsverträge, wodurch keine Professionalisierung oder langfristige Veränderung des Arbeitsumfelds erfolgen kann. Das ist ein Symptom davon, dass die Organisation der EAE ein einziges Flickwerk und ein immerwährendes Provisorium ist. Es werden keine langfristig sinnvollen Strukturen aufgebaut. Daneben gibt es 80-Cent-Jobs für die Geflüchteten, auf die die Betreiber billig Arbeiten auslagern können.
O. O.: Die Mitarbeiter, die es anders machen wollen, werden durch die standardisierten Arbeitsabläufe herausgemobbt.
Gibt es Abschiebungen aus EAE heraus?
O. O.: Ja. Das sollte im Grunde gar nicht gehen. Dort leben Kinder oder Menschen mit Traumata. Die Polizisten kommen teils mit Hunden rein, machen eine Razzia und nehmen Leute mit. Eine Abschiebung wird von dreihundert Menschen beobachtet.
H. E.: Die Menschen haben uns auch immer wieder gesagt, dass sie sich fühlen, als würden sie in einem offenen Gefängnis leben.
Wen machen Sie für die Zustände verantwortlich? Und warum wird nichts gegen die Probleme getan?
O. O.: Die Landesdirektion Sachsen (LDS, jW) ist die zuständige Verwaltung. Die Verantwortlichen sind sich der Probleme bewusst, aber es gibt keinen Willen, etwas zu ändern. Man will durch gute Bedingungen keinen »Pull-Faktor« schaffen. Je schlechter die Bedingungen, desto besser für die Verantwortlichen. Das ist leider mittlerweile das Grundverständnis und wird als vollkommen legitim angesehen.
H. E.: Zudem soll es in der Verwaltung wohl eine hohe Fluktuation geben, wodurch die Sachbearbeiter oft keine Sachkenntnisse und keinen Überblick haben. Sie entscheiden nur über Zahlen.
Welche Unternehmen profitieren von den Zuständen in den Erstaufnahmeeinrichtungen?
L. K.: Der einzige gewinnorientierte Betreiber in Sachsen ist die European Homecare. Auch Catering und Security werden von privaten Unternehmen gestellt. Es gibt ein Budget vom Land. Bleiben die Firmen unter dem Budget, ist der Rest ihr Gewinn.
H. E.: Auch das Grundstück oder die Unterkunft müssen gemietet werden, wodurch die Vermieter mit langen Verträgen und hohen Mieten enorme Gewinne machen. Auch hier wirft die LDS das Geld aus dem Fenster, weil eben nicht langfristig geplant wird.
Langfristig muss sich also das System verändern. Welche Forderungen erheben Sie kurzfristig?
O. O.: Es gibt keine unabhängige Beschwerdestelle. Kurzfristig brauchen wir die. Dort müssen Verständnis für die Menschen und Wissen über die Zustände in den EAE vorhanden sein. Wenn man sich die aktuellen Zahlen anschaut, könnte man denken, dass es keine Probleme gibt, weil es gar keine Beschwerden gibt. Zudem sollten zivilgesellschaftliche Vereine Zugang zu EAE bekommen. Das wird uns zur Zeit verwehrt.
H. E.: Wir haben damit Forderungen aufgestellt, die sich an den Aussagen der Geflüchteten orientieren. Langfristig müssen wir damit weiter Druck aufbauen.
Hintergrund: Für Konzerne lukrativ
Asylantragsteller sind in der BRD 18 Monate lang gesetzlich dazu verpflichtet, in einer Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) zu wohnen, während das Asylverfahren andauert. Offizieller Betreiber sind die Bundesländer. Erst nach dieser Zeit ist ein Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft, oft ein normales Wohnhaus oder eine eigene Wohnung, möglich. Solange die Geflüchteten in der EAE leben, ist es ihnen weder erlaubt, zu arbeiten, noch, sich aus dem Kreis der zuständigen Ausländerbehörde hinaus zu bewegen.
Der Zugang zu den Einrichtungen ist streng geregelt. Per Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2023 bekommen Hilfsorganisationen wie beispielsweise Flüchtlingsräte mit ihren Beratungsangeboten nur auf explizite »Einladung« durch Geflüchtete Zugang zur EAE. Rundherum ist meist ein Zaun mit Stacheldraht gezogen.
In Deutschland gibt es mehrere private und öffentliche Betreiberfirmen von EAE. Im Februar hatte der internationale Konzern Serco die European Homecare übernommen, die deutschlandweit rund 120 Unterkünfte betreibt. Der Sächsische Flüchtlingsrat (SFR) übte heftige Kritik an dem Vorgehen. Dem weltweit agierenden Konzern werden unter anderem menschenunwürdige Zustände und Gewalt in seinen Lagern sowie in Abschiebegefängnissen in Australien und Großbritannien vorgeworfen.
Die Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International berichten von unmenschlichen Zuständen. Ärztinnen und Ärzte sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter meldeten zudem Fälle sexueller Belästigung, nahezu endemischer Depressionskrankheiten und regelmäßiger Suizidversuche in den Insellagern im Pazifik. Außerdem macht der Konzern Profite mit Militär und Rüstung: In einer Liste der 100 größten Rüstungskonzerne rangiert das Unternehmen auf Platz 62. (ya)
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (3. Januar 2025 um 11:04 Uhr)»Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Angeblich ist das ein Grundsatz bundesdeutscher Politik. Was davon übrig bleibt, wenn die Sonntagsreden zu Ende sind, ist einfach nur beschämend.
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