»Fast jeden Tag gibt es Presseprozesse«
Interview: Yaro AllisatWie 19 weitere Journalisten wurden Sie Ende November in der Türkei verhaftet. Was ist passiert?
Wir wurden am 26. November im Morgengrauen aus unseren Häusern geholt und am Abend in die Provinz Eskişehir gebracht. Niemand, auch nicht unsere Anwälte, kannte den Inhalt der Akten bis zum 28. November, als die polizeilichen Aussagen aufgenommen wurden, da es eine Vertraulichkeitsverfügung gab. Aber zu diesem Zeitpunkt bezeichnete uns der Innenminister schon als »sogenannte Journalisten« und »diejenigen, die Propaganda für eine terroristische Organisation machen«, obwohl wir noch nicht verurteilt worden waren. Bei unseren Verhören erfuhren wir, dass unser Vergehen darin bestanden haben soll, Artikel für die in Deutschland erscheinende Zeitung Yeni Özgür Politika geschrieben und dafür Honorare erhalten zu haben. Ich habe 2017 einmal Honorare erhalten, und dafür werde ich vor Gericht gestellt. Wir sind Journalisten, wir bestimmen nicht die Redaktionspolitik von Medienunternehmen. Nur zwei Personen wurden bei dieser Untersuchung offiziell verhaftet. Der Rest, mich eingeschlossen, wird ohne Verhaftung vor Gericht gestellt. Kurz gesagt, wir wurden inhaftiert und werden vor Gericht gestellt, weil wir Journalismus betreiben und dafür bezahlt werden.
Wie waren die Bedingungen im Gefängnis?
Wir wurden drei Tage lang auf der Polizeiwache festgehalten, dann wurden wir freigelassen. Eskişehir ist eine kalte Provinz. Es war kalt, aber abgesehen davon habe ich keine Misshandlungen erlebt. Das ist natürlich nicht immer der Fall. Wir wissen, dass es Gefangene gibt, die schlecht behandelt werden. Als wir am letzten Tag zum Gerichtsgebäude gebracht wurden, wurden wir mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, und sie zwangen uns in das Gebäude. Wir wissen, dass dies nur getan wurde, damit die der Regierung nahestehenden Medien Filmaufnahmen machen können.
Wird der Druck auf Journalisten in der Türkei größer?
Ja, jeden Tag. Es gibt fast keine Journalisten mehr, gegen die nicht ermittelt und geklagt wird, sieht man von denen ab, die der Regierung nahestehen. Um das Recht auf freie Meinungsäußerung ist es so schlecht bestellt wie seit zehn Jahren nicht. Trotzdem gibt es immer noch Menschen, die Journalismus betreiben wollen. So wurde beispielsweise ein Journalist wegen eines Satzes, den er in einer Sendung gesagt hatte, zu Hausarrest verurteilt. 20 weitere Medienschaffende wurden festgenommen, als sie für zwei ihrer in Syrien getöteten Kollegen protestierten. Fast jeden Tag gibt es Presseprozesse vor Gericht. Die nationalen Sender, die der türkischen Bevölkerung zugänglich sind, liefern gefärbte Nachrichten. Aber es gibt auch eine Opposition, die sich trotz des Drucks nicht unterkriegen lässt. Gerade wird ein Gesetz vorbereitet, das die freie Meinungsäußerung mit Spionage gleichsetzt, unter dem Vorwand der Einflussnahme. Dieses Gesetz wurde zweimal zurückgezogen, nachdem die Opposition dagegen Einspruch erhoben hatte.
Was bedeutet Ihre Festnahme für Ihre Arbeit?
Das ist inzwischen eine normale Situation in der Türkei. Es bedeutet unter anderem, dass man berufliche Schwierigkeiten bekommt. Mein Telefon und mein Laptop wurden beschlagnahmt. Auch finanziell ist es im Moment sehr schwierig für mich. Man wird schnell abgestempelt, was einen Einfluss auf die journalistischen Möglichkeiten haben kann. Es ist zwar keine pauschale Ablehnung, nur weil man inhaftiert war – aber es schränkt natürlich trotzdem meine Möglichkeiten ein.
Haben Sie vor, langfristig in der Türkei zu bleiben, oder werden Sie ins Ausland gehen?
Das Gericht hat mir verboten, ins Ausland zu reisen, und mir auferlegt, mich jede Woche bei einer Polizeistation zu melden. Ich habe das Land noch nie verlassen und habe auch nicht vor, es jetzt zu tun.
Suzan Demir ist Journalistin und Filmkritikerin aus der Türkei
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