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Aus: Ausgabe vom 03.01.2025, Seite 12 / Thema
Südkorea

Der vereitelte Putsch

Warum Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol mit der Ausrufung des Ausnahmezustands scheiterte
Von Kai Köhler
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Wovon viele Eltern erzählen, ist als reale Gefahr aus der geschichtlichen Distanz in die Gegenwart gerückt. Die Bewegung gegen den suspendierten Präsidenten Yoon Suk Yeol ist jung und weiblich (Seoul, 21.12.2024)

Am späten Abend des 3. Dezember erklärte der südkoreanische Präsident Yoon Suk Yeol den Ausnahmezustand. Grund war, dass die linksliberale Mehrheit im Parlament den von Yoons weit rechtsstehender Regierung eingebrachten Haushalt und weitere Vorhaben blockierte. Zudem liefen mehrere Impeachment-Verfahren gegen hochrangige Mitglieder von Yoons Administration.

Nun begründet dies keine Bedrohung der staatlichen Existenz, wie sie laut südkoreanischer Verfassung Voraussetzung für einen Ausnahmezustand ist. Yoons Versuche, die Opposition mit Nordkorea in Verbindung zu bringen, waren allzu offenkundig gelogen. Hinzu kam ein weiterer Verfassungsbruch: Das Parlament hat das Recht, einen vom Präsidenten verhängten Ausnahmezustand aufzuheben. Yoon aber ließ alle politischen Tätigkeiten, einschließlich der des Parlaments, verbieten und schickte Truppen mit Schießbefehl los, um das Parlamentsgebäude zu besetzten. Dieser Schritt war unvermeidlich, denn es war klar, dass die Opposition mit ihrer Mehrheit den Ausnahmezustand sogleich beenden würde.

Allerdings wurde das Parlamentsgebäude nur unzulänglich abgesperrt. Die für die Besetzung ausgewählten Truppenteile gingen zögerlich vor und konnten darum mittels einiger Barrikaden und durch Feuerlöscher aufgehalten werden, bis genügend Abgeordnete anwesend waren und ein beschlussfähiges Parlament den Ausnahmezustand für beendet erklärte. Das Militär zog daraufhin ab, und nach anfänglichem Zögern lenkte Yoon wenige Stunden später ein.

Amtsenthebungen

In den Folgetagen wurden gegen Yoon und andere Hauptbeteiligte des Staatsstreichs Ermittlungen wegen Aufruhrs eingeleitet. Mehrere der Beschuldigten, darunter der Verteidigungsminister, sitzen bereits in Untersuchungshaft. Die Parlamentsmehrheit unternahm gegen den Präsidenten ein Impeachment-Verfahren. Der erste Versuch scheiterte, weil die Partei Yoons der Abstimmung fast geschlossen fernblieb und so die erforderliche Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten nicht erreicht werden konnte. Bei dem zweiten Versuch eine Woche später, am 14. Dezember, gab die Regierungspartei dem öffentlichen Druck nach und verzichtete auf einen Boykott des Verfahrens. Es fanden sich in ihren Reihen zwölf Abweichler, und so stimmten 204 Abgeordnete für eine Amtsenthebung, vier mehr als notwendig.

Gegenwärtig führt – nach dem Sturz auch des Ministerpräsidenten zwei Wochen später – der Finanzminister die Amtsgeschäfte des Präsidenten. Ein Nachfolger Yoons kann erst gewählt werden, wenn das Verfassungsgericht mit Zweidrittelmehrheit der Richterstellen die Amtsenthebung bestätigt. Da zum Zeitpunkt des Putschversuchs drei der neun Richterstellen unbesetzt waren, hätte es also kein abweichendes Votum geben dürfen. Nur nach erheblichem Druck der Opposition sind inzwischen zwei Richterposten nachbesetzt.

Gänzlich unklar ist, was geschieht, wenn Yoon zwar Präsident bleiben darf, aber wegen Aufruhr unter Anklage gestellt wird. Immerhin droht dafür die Todesstrafe. Klar ist, dass die Konservativen auf Zeit spielen. Yoon, früher selbst Generalstaatsanwalt, hat wichtige Oppositionspolitiker mit Verfahren überziehen lassen. Lee Jae Myung, sein bedeutendster Konkurrent, ist bereits in erster Instanz in einem von mehreren Fällen, die der von Yoons Anhängern dominierte Justizapparat verfolgt, zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Seine Partei setzt auf ein schnelles Vorgehen, damit eine neue Präsidentschaftswahl stattfindet, bevor eines der Urteile rechtskräftig wird.

Genügend Anlass zur Verwirrung also. Um diese zu reduzieren, werden im Folgenden fünf Aspekte erläutert. Der erste Abschnitt skizziert sehr kurz die Geschichte Südkoreas seit der Befreiung von der japanischen Kolonialherrschaft 1945. Im zweiten geht es um einige Besonderheiten im Parteiensystem und hinsichtlich der Methoden politischen Machterwerbs nach dem Ende der Militärdiktaturen 1987. Der dritte Teil benennt die Gründe für Yoons politischen Aufstieg und für seinen Machtverfall, im vierten geht es um wirtschafts- und außenpolitische Aspekte. Abschließend werden die Stärken der Massenmobilisierung geschildert, die zum Scheitern des Putschversuchs ebenso beitrug wie zur gegenwärtig prekären Lage der südkoreanischen Rechten.

Diktaturerfahrungen

Im August 1945 brach das japanische Kolonialreich zusammen. Der Nordteil Koreas wurde mit Unterstützung sowjetischer Truppen befreit, und es etablierte sich eine sozialistische Herrschaft. Südlich des 38. Breitengrads kam mit US-amerikanischer Unterstützung Rhee Syngman an die Macht. Dessen Regime ging es darum, gesellschaftliche Veränderungen möglichst zu unterbinden. Sehr schnell machten japantreue Kollaborateure wieder Karriere, und rechtsradikale Milizen sorgten dafür, dass die Linke bald nicht mehr legal auftreten konnte.

Der Koreakrieg 1950 bis 1953, der phasenweise in manchen Gebieten Südkoreas auch Züge eines Bürgerkriegs aufwies, endete wegen US-geführter Interventionstruppen nach außen mit einem Waffenstillstand, der die alte Demarkationslinie wiederherstellte, und nach innen mit einer Stabilisierung der Macht Rhees. Die südkoreanische Bourgeoisie aber hatte eine reale Gefährdung erlebt. Die Erinnerung hat sich eingeprägt; bis heute gilt ein nationales Sicherheitsgesetz, das kommunistische Aktivitäten verbietet und – je nach politischer Lage – auch gegen die linksbürgerliche Opposition eingesetzt werden kann.

Rhees Herrschaft kann als Diktatur mit demokratischer Fassade beschrieben werden. 1960 bereitete ein Aufstand dieser Regierung ein verdientes Ende. Auch diese Erfahrung prägt das Bewusstsein bis heute: Demonstrationen mögen Opfer fordern (am 19. April 1960 starben mehr als 180 Teilnehmer der Proteste). Sie können aber zum Erfolg führen.

Zunächst war der Erfolg kurzfristig. Ein Putsch am 16. Mai 1961 brachte den General Park Chung Hee an die Macht. Die Bewertung von dessen 18jähriger, zunehmend repressiver Herrschaft ist in Südkorea bis heute umstritten. Zwar sind Unterdrückung, Gewalt und Folter nicht zu leugnen. Doch führte eine Folge von Fünfjahresplänen zu einem systematischen Aufbau der südkoreanischen Wirtschaft. Die Härten waren groß. Bäuerliche Existenzen wurden durch billige Importgüter ruiniert. Die Reproduktionskosten von Industriearbeitern sanken dadurch zwar, doch war sogar die Tätigkeit von Gewerkschaften fast unmöglich, und ihre Verhandlungsmacht entsprechend schwach. Die Lohnabhängigen bekamen wenig ab; doch auf lange Sicht immerhin etwas. Die Phase der erfolgreichen Industrialisierung war eine, in der es – anders als heute – fast allen allmählich besser ging.

Der Ermordung Parks 1979 folgten wenige Monate einer Demokratisierung, dann ein Militärputsch und eine erneute Diktatur. Massenproteste erzwangen 1987 das Ende der direkten Militärherrschaft. Im folgenden Präsidentschaftswahlkampf standen der rechtsbürgerliche Kim Young Sam und der linksbürgerliche Kim Dae Jung gegeneinander, so dass der General Roh Tae Woo mit 36,7 Prozent noch einmal die Kontrolle der Armee über die Politik aufrechterhalten konnte. Mittelfristig änderte das nichts. 1993 wurde Kim Young Sam Präsident, 1998 dann als erster Vertreter der bürgerlichen Linken Kim Kim Dae Jung, der noch 1980 zum Tode verurteilt worden war.

Feindschaften

Seitdem hat sich ein Parteiensystem herausgebildet, das auf den ersten Blick durch eine Fülle wohlklingender Namen mit geringem Verfallsdatum irritiert. So spaltete sich von Kim Dae Jungs »Demokratischer Partei des neuen Milleniums« links die »Unsere offene Partei« ab, deren Präsidentschaftskandidat Roh Moo Hyun 2002 erfolgreich war. Das sollte aber nicht über die tatsächliche Kontinuität hinwegtäuschen. Prompt wechselten zahlreiche Politiker der »Milleniums«-Partei zu ihm, und die alten Verhältnisse waren wiederhergestellt. Nach ein paar weiteren oberflächlichen Verschiebungen hat man es heute auf der linksliberalen Seite mit der »Demokratischen Partei« zu tun.

Kim Young Sams »Demokratische Freiheitspartei« wurde – ein Halbdutzend Abspaltungen und Wiedervereinigungen beiseite gelassen – über die »Große Nationalpartei«, die »Neue-Welt-Partei« und die »Koreanische Freiheitspartei« zur heutigen »Volksmachtpartei«, die mehrheitlich immer noch Yoon Suk Yeol unterstützt. Der Verfasser ist bereit, eine ziemlich hohe Summe zu wetten, dass diese Gruppierung in diesem Jahr einen neuen wunderbaren Namen finden wird. Doch in der Sache wird auch dies nichts ändern.

Was fehlt, ist eine sozialistische Alternative. Die – tatsächlich nicht besonders radikale – »Vereinte progressive Partei« wurde 2014 wegen angeblicher Kontakte zu Nordkorea verboten. Was es nebenher gab und gibt, mag man als Entsprechung zum besseren Teil der grüner Basis in Deutschland ansehen.

Zentral im politischen System Südkoreas ist der Präsident. Er wird für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt, wobei eine Wiederwahl ausgeschlossen ist. Dies führt dazu, dass der Amtsinhaber ziemlich bald zur »Lame duck« verkommt. Tatsächlich ist es kaum möglich, als südkoreanischer Präsident nicht zu enttäuschen. Die konfuzianische Vorprägung der koreanischen Gesellschaft war sehr stark, sie ging im Verlauf ihrer Modernisierung zwar rasch zurück, ist aber nicht überwunden: Der Chef soll es richten. Der Chef aber kann es nicht richten, wenn sich die Untergebenen fragen, wer bald sein Nachfolger wird. Man hat das Problem früherer Machtanhäufung erkannt und durch die Gegenmaßnahme ein neues geschaffen: Südkoreanische Präsidenten beginnen meist als Hoffnungsträger und enden fast immer unbeliebt.

Dazu trägt das konflikthafte Verhältnis der Parteien bei. Dies belebt einerseits durchaus die bürgerliche Demokratie in Korea. Im Gegensatz zu Wahlen in Deutschland, wo alle Parteien des Machtblocks prinzipiell miteinander koalitionsfähig und -willig sind und durch Mitwirkung des Bundesrats an der Gesetzgebung sowieso immer die größtmögliche Koalition entsteht, sind Wahlen in Südkorea tatsächlich Richtungsentscheidungen.

Andererseits bekommen juristische Auseinandersetzungen einen übermäßig hohen Stellenwert. Jede Partei bemüht sich darum, Vertretern der Gegenseite Regelverletzungen nachzuweisen und sie durch Gerichtsurteile mindestens zeitweise aus der Politik herauszukegeln. Dabei kann es um geringe Summen gehen oder um Einflussnahme, um den eigenen Kindern einen Platz an einer renommierten Universität zu besorgen; aber auch um durchaus beachtliche Bestechungssummen. Von den fünf Präsidenten seit 2004 blieb nur einer nach Ablauf seiner Amtszeit juristisch unbehelligt. Einer nahm sich aufgrund gegen ihn laufender Ermittlungen das Leben, zwei wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, Yoon Suk Yeol erwartet nun äußerstenfalls ein Todesurteil.

Die Fixierung aufs Recht und auf korrekte Verfahrensweisen ist ein relativ erfolgreicher Schutzmechanismus einer Gesellschaft, in der lange Zeit persönliche Beziehungen für das Fortkommen entscheidend waren und zum Teil noch sind – mit dem Präsidenten, seinem Verteidigungs- und seinem Innenminister sowie drei Generälen in Schlüsselpositionen kennen sich sechs zentrale Akteure des Putschs seit der gemeinsamen Schulzeit. Freilich führt die nötige Diskussion, ob Regeln verletzt wurden, auch zu einer Moralisierung der Politik. Oft streitet man über den Wert einer Person statt über die Inhalte, die sie vertritt.

Der Präsident

Die Basis von Yoon Suk Yeols Wahlsieg war der Eindruck, man habe es mit einer unbestechlichen Person zu tun. 2012 wurde in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation Park Geun Hye zur Präsidentin gewählt. Als Tochter des langjährigen Diktators Park Chung Hee weckte sie bei einer knappen Mehrheit Hoffnung auf einen Aufschwung wie in den 1960er und 1970er Jahren. Ihre Präsidentschaft endete vorzeitig angesichts von Korruption und Missmanagement. Dabei sind für heute drei Faktoren wichtig.

Erstens trugen gut organisierte Demonstrationen mit Hunderttausenden von Teilnehmern zu ihrem Sturz bei. Das erneuerte die historische Erfahrung, dass Massenproteste ein Regime zu Fall bringen können. Zweitens passte sich die Mehrheit der konservativen »Neue-Welt-Partei« dieser Stimmung an und entzog Park die Unterstützung. Resultat war jedoch, dass nach der Amtsenthebung Parks der linksliberale Mun Jae In zum Präsidenten gewählt wurde. Dies erklärt, weshalb der größte Teil der Rechten heute an dem unpopulären Yoon festhält.

Drittens aber spielte Yoon 2016/17 als Staatsanwalt eine wichtige Rolle in den Ermittlungen, die zu einer Verurteilung Park Geun Hyes führten. So erschien er als überparteilich; tatsächlich trat er erst 2021 der heutigen Regierungspartei bei. Diese verband mit Yoon und seiner Präsidentschaftskandidatur 2022 die Hoffnung auf einen unbelasteten Neuanfang. Die Erwartung ging auf, wenn auch nur knapp: Yoon gewann die Wahl mit einem Vorsprung von nur 0,7 Prozent.

Zu diesem Zeitpunkt war schon deutlich, dass Yoon ein Programm vertritt, das auch für die Verhältnisse der koreanischen Rechten außerordentlich reaktionär ist. Außenpolitisch steht er für einen Konfliktkurs gegenüber Nordkorea und China, für bedingungslose Anlehnung an die USA und in allen Konfliktpunkten aus der Kolonialzeit für die Übernahme japanischer Standpunkte. Ökonomisch gehört er dem erstarkenden liberalistischen Teil der koreanischen Rechten an – keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem die Militärregimes einst erfolgreich die Großkonzerne in Fünfjahrespläne eingebunden haben.

Yoons Wahlsieg verdankt sich auch den Stimmen junger Männer, die angesichts von Emanzipationsforderungen in einer immer noch patriarchal geprägten Gesellschaft um ihren Status fürchten. Yoon versprach, das Ministerium für Geschlechtergerechtigkeit und Familie abzuschaffen, und hielt sein Versprechen. Außenpolitische Aggression, radikaler wirtschaftlicher Liberalismus, traditionelle Ordnung der Geschlechter: Da fehlt nur die Hetze gegen Migranten, von denen es in Südkorea ohnehin nur wenige gibt, und man hätte das komplette rechtspopulistische Programm. Für Yoons junge männliche Anhänger, die einen Sündenbock für ihre durch den Stand des Kapitalismus bedingten geringen Aufstiegschancen suchen, nehmen allerdings Frauen die Funktion ein, die andernorts Einwanderer erfüllen.

Gewiss ist Yoon Suk Yeol insofern kein Trump, als es ihm an Kommunikationsfähigkeit mangelt. Er hat keine Fernsehshows moderiert, sondern ist in einem extrem hierarchischen Justizapparat aufgestiegen. Entsprechend schlecht vermochte er zu tarnen, dass seine Politik den Interessen der Mehrheit entgegenlief. Bereits zu Beginn seiner Präsidentschaft gelang es ihm nicht, seine Entscheidungen zu vermitteln, und schon im August 2022 war die Zustimmung zu seiner Politik unter 30 Prozent gefallen. Mit Schwankungen verharrte sie bei niedrigen Werten. Seit den Parlamentswahlen im April 2024 musste Yoon gegen eine Oppositionsmehrheit regieren, die alles tat, um seine Macht zu begrenzen.

Machtfragen

Gerüchte über einen Ausnahmezustand gab es früh. Bereits im September warnte der oppositionelle Abgeordnete Kim Min Seok vor solchen Plänen. Freilich galt dies als Verschwörungstheorie; Pech nur, dass sie zutraf. Beim heutigen Ermittlungsstand ist wahrscheinlich, dass es seit März 2024 Planungen für einen Ausnahmezustand gab und dass der mit Yoon eng verbundene Verteidigungsminister Nordkorea gezielt provozierte, um eine Reaktion herbeizuführen, die einen Ausnahmezustand hätte rechtfertigen können.

Um so mehr überrascht die schlampige Durchführung des Putschversuchs. Den Soldaten, die eine Versammlung des Parlaments verhindern sollten, wurde zuvor gesagt, es gehe darum, eine nordkoreanische Aggression abzuwehren – kein Wunder, dass die Leute überrascht waren, plötzlich mit Abgeordneten rangeln zu müssen, und entsprechend unsicher agierten. Eine andere Einheit sollte das Gebäude der Wahlkommission besetzen, vermutlich um dort angebliche Beweise für eine Fälschung der Parlamentswahl zu plazieren. Diese Soldaten, ebenfalls unsicher hinsichtlich der Legitimität ihres Tuns, ließen sich viel Zeit. Überwachungskameras haben einige von ihnen in einem Convenience Store aufgenommen, wo sie sich erst mal eine Portion Nudelsuppe gönnten. Das heißt zum einen: Die Demokratisierung Südkoreas ist so weit fortgeschritten, dass auch ausgewählte Truppenteile nicht mehr blindlings gehorchen. Im Detail zu überprüfen bleibt die Mittlerposition ihrer untergeordneten Befehlshaber. Diese standen vor der Wahl, die offenkundig verfassungswidrigen Befehle von oben entweder durchzudrücken oder – sei es aus Überzeugung oder Vorsicht – die Ausführung zu sabotieren.

Zum anderen zeigt sich die Bedeutung des Faktors Zeit in solchen Lagen. Die Mobilisierung gegen den Putsch lief schnell. 141 Minuten nach Yoons Erklärung war das Parlament beschlussfähig, und es hatten sich auch bereits zahlreiche Demonstranten vor dem Gebäude versammelt.

Was will die Wirtschaft? Eine öffentliche Ansage großer Konzerne wie Samsung oder Hyundai gibt es nicht. Zu vermuten ist, dass sie eine schnelle Lösung des Konflikts, wie auch immer, bevorzugen. Der Aktienindex KOSPI lag am Vorabend des Putschs bei 2.504 und hatte den bisherigen Tiefpunkt nach dem ersten, gescheiterten Versuch, Yoon loszuwerden, mit 2.360. Als Yoon tatsächlich die Amtsführung an den Ministerpräsidenten Han Duck Soo abgeben musste, notierten die Kurse fast auf dem alten Hoch. Als sich abzeichnete, dass damit die politische Krise nicht überwunden war, Yoon auf Zeit spielte und auch Han am 28. Dezember als möglicher Mittäter des Putschs amtsenthoben würde, fielen die Kurse wieder und lagen am Vortag bei 2.404. Die Währung Won verlor an Wert; am 27. Dezember waren 1.480 Won für einen US-Dollar zu zahlen, und damit so viele wie seit 2009 nicht mehr. Der Geschäftsklimaindex BSI fiel am selben Tag auf den tiefsten Stand seit dem Coronamonat September 2020.

Von seiten der Biden-Administration gab es frühzeitig Signale, dass eine Diktatur ihres treuen Verbündeten Yoon unerwünscht war; ein Trump wird das möglicherweise anders sehen. Internationale Reaktionen waren abwartend oder negativ. Ausnahme war ein bald wieder gelöschter Post der in Taiwan regierenden »Demokratischen Fortschrittspartei«. Die Volksrepublik China folgte zunächst dem Grundsatz der Nichteinmischung. Diese Haltung änderte sich erst, nachdem Yoon am 12. Dezember, zusätzlich zur angeblichen nordkoreanischen Gefahr, auch chinesische Spionage als einen Grund für den Ausnahmezustand anführte.

Als sicher kann gelten, dass man sich in Beijing über ein vorzeitiges Ende der Yoon-Regierung freuen würde. Ohnehin widerspricht deren politische Fixierung auf ein Bündnis mit den USA und dem wegen der Kolonialzeit unbeliebten Japan den ökonomischen Realitäten. 2023 exportierte Südkorea Waren für knapp 149 Milliarden US-Dollar in die Volksrepublik, aber nur für 116 Milliarden in die USA. Angesichts absehbarer US-Zölle wird sich auch in Seoul die Frage stellen, ob West-Ideologie oder die ökonomische Realität stärker ist.

Mobilisierungen

Besonders während der Diktaturen bis 1987 und der unmittelbaren Folgezeit trafen Demonstranten in Südkorea auf brutale Repression. Freilich wussten auch sie eine entsprechende Gegenwehr zu organisieren. Die Auseinandersetzungen forderten Opfer, führten aber auch zu Erfolgen. Unter ihnen sind der Sturz Rhees 1960, der Beginn der Demokratisierung 1987 und die Amtsenthebung Park Geun Hyes 2016/17 die wichtigsten. Eine solche Erinnerung ist eine politische Ressource.

Die Demonstrationen gegen Park 2016 verliefen allerdings bereits friedlich. Die Teilnahme von bis zu 1,1 Millionen Menschen war wohlorganisiert. Eine Staffelung von Großbildleinwänden sorgte dafür, dass alle das Geschehen auf der Bühne mitbekamen, und eine Viertelstunde nach dem Ende der Kundgebung lag kein Papierschnipsel mehr auf dem Asphalt. Mitgebrachte Kerzen sorgten bei den Protestierenden für emotionale Verbundenheit.

Acht Jahre später sind die Kerzen Leuchtstäben gewichen, wie sie bei K-Pop-Konzerten gebräuchlich sind. Gruppen von Fans dieser eigentlich unpolitischen Musik finden sich nun zu Protesten zusammen. Diese sind nicht mehr von einer politischen Organisation geplant und durchgeführt, sondern entstehen durch Zusammenschlüsse von unten. Oder, genauer: zumindest zum Teil dadurch, dass soziale Onlineverbindungen in den realen Raum verlagert werden. Eine Militärdiktatur entspricht nicht dem Lebensgefühl der jungen Opposition gegen Yoon. Wovon viele Eltern erzählen, ist als reale Gefahr aus der geschichtlichen Distanz in die Gegenwart gerückt.

Daraus ergibt sich einerseits eine Stärke. Die kulturelle Vermittlung ins Heute ist gelungen. Ältere Demonstranten mögen die ihnen vertrauten Protestlieder vermissen, doch zieht die Musik Leute an, die auch in dreißig Jahren noch leben, was man nicht von jeder Kundgebung in Deutschland sagen kann. Dies ist auf der anderen Seite durch einen mindestens zeitweisen Verlust an politischer Klarheit erkauft. Die Demonstrationen zeigen den Willen einer großen Bevölkerungsmehrheit, Yoon und seine Entourage loszuwerden, und stützen die Parlamentsmehrheit. Politische Klarheit organisieren sie nicht, und bei einer immer noch möglichen Zuspitzung des Konflikts müsste ernsthaftes Kämpfen erst wieder gelernt werden.

Daneben gibt es allerdings auch traditionellere Akteure auf seiten der Linken: Eisenbahner, die entschlossen waren, bis zu Yoons Entfernung aus dem Amt zu streiken, sowie Bauern, die mit ihren Traktoren die Straßen in Seoul blockieren wollten. Absperrungen der Polizei hielten sie am Stadtrand auf und verursachten das von den Bauern geplante Verkehrschaos dort.

Zudem bleibt die Auseinandersetzung auf der Straße mit dem Kampf gegen das Patriarchat verknüpft. Yoons antifeministische Politik ist nicht vergessen. Die Demonstrationen gegen Yoon waren nicht nur jung, sondern auch weiblich. Am 14. Dezember fanden sich zu 61 Prozent Frauen ein, davon die Hälfte zwischen 20 und 40 Jahren; Männer in dieser Altersgruppe machten nur acht Prozent aus.

Freilich dominieren Frauen auch die Demonstrationen für den Präsidenten, die es ebenfalls gibt. Hier treffen sich vorwiegend Ältere: Die Lügen Yoons über Kontakte zwischen der Opposition und Nordkorea verfangen bei einem Teil der Generation, die noch im Schulunterricht Kommunisten in roter Farbe als Teufel malte. Der Lebenserwartung entsprechend ist hier das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern sogar noch deutlicher: Unter den Yoon-Anhängern waren 64 Prozent Frauen und 51 Prozent der Gesamtgruppe Frauen über sechzig Jahre.

Die koreanische Gesellschaft ist also gespalten nach Generationen – was sich auf biologische Weise erledigen – und nach Geschlechtern, was als Konfliktfeld bleiben wird. Vorliegende Zahlen beruhen auf Funkzellenabfragen von Telekommunikationsunternehmen; Datenschutz ist in Südkorea nachrangig. Die Klassenlage wird bei Anmeldungen des Smartphones nicht abgefragt und ist auf diesem Weg nicht zu ermitteln. Hier besteht ein Informationsdefizit.

Kai Köhler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 29. November 2024 über den Komponisten Giacomo Puccini: Skandalös wirkungsvoll.

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