Vormarsch und Rückzug
Von Reinhard LauterbachDie ukrainische Armee hat am Sonntag morgen einen Angriff im russischen Gebiet Kursk begonnen. Der Vorstoß richtet sich offenbar aus dem Raum des Grenzorts Sudscha in nordöstlicher Richtung auf die Gebietshauptstadt Kursk. Sie ist von Sudscha etwa 70 Kilometer Luftlinie entfernt. Der ukrainische Präsidialamtschef Andrij Jermak erklärte, Russland »bekomme, was es verdient hat«. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte die Tatsache des Angriffs und bezeichnete ihn als den Versuch, die laufende russische Offensive zur Rückeroberung der im Sommer verlorenen Gebiete zu stoppen.
Zum Verlauf der Kämpfe gibt es bisher wenig präzise Informationen. Nach russischen Angaben ist der ukrainische Vorstoß bereits an der ersten Ortschaft gestoppt worden. Angeblich soll eine gepanzerte Kolonne vernichtet worden sein; dabei seien rund 540 ukrainische Soldaten und ausländische Söldner getötet worden. Ähnliche Verlustzahlen nennt die ukrainische Seite für Russen und Nordkoreaner. Unabhängig zu überprüfen sind diese Angaben auf beiden Seiten nicht. Die Sorge vor Panik in der Öffentlichkeit der Region Kursk kann man an dem Aufruf des amtierenden russischen Gouverneurs Alexander Chinschtein ablesen, nur offiziellen russischen Medien zu glauben und eigenständige Kommentare zur Situation zu vermeiden.
Medien beider Seiten berichteten auch über russische Angriffe auf Ziele in der Region Sumi auf der ukrainischen Seite der Grenze. Dort seien Bereitstellungsräume einer ukrainischen Brigade unter Feuer genommen worden. Nach unbestätigten Berichten sollen russische Vortrupps auch bereits die Grenze zur Ukraine in dieser Region überschritten haben.
Im Unterschied zur Lage vor Kursk ist die Ukraine im Donbass weiter zum Rückzug gezwungen. Am Wochenende verbreitete Russland Bilder aus Kurachowe mit Geolokation, die das Hissen der russischen Fahne am westlichen Ende des Kraftwerksgeländes zeigen. Damit ist der wochenlang umkämpfte Ort inzwischen weitestgehend unter russischer Kontrolle. Ebenso verzeichneten russische Truppen weitere Geländegewinne südwestlich und nordöstlich der Stadt Pokrowsk sowie in der Umgebung der von ukrainischer Seite befestigten Ortschaft Welika Nowosilka. Diese ist nach ukrainischen Kartenwerken inzwischen auf drei Seiten von russischen Positionen umgeben. Auf der anderen Seite feuerte die Ukraine nach russischen Angaben mehrere »Atacms«-Raketen aus US-Produktion auf Ziele in der Grenzregion Belgorod ab. Acht der Geschosse seien abgefangen worden.
Der scheidende US-Außenminister Antony Blinken hat unterdessen zugegeben, dass die USA der Ukraine bereits vor dem offenen Kriegsbeginn Waffen geliefert haben. Er sagte der New York Times, die US-Regierung habe von den russischen Angriffsabsichten gewusst und deshalb ohne große Publizität bereits ab dem Spätsommer 2021 eine »große Menge an Waffen« an Kiew geliefert, damit die Ukraine sich gegen den erwarteten Angriff habe verteidigen können. Über etwaige Versuche der USA, die Eskalation der Spannungen zu bremsen, sagte Blinken nichts; er nannte die Waffenlieferung einen Ausdruck der »Weitsicht« der scheidenden Administration. Die laufende Aufrüstung der ukrainischen Armee durch die USA war einer der Gründe, die Wladimir Putin im Februar 2022 für die Auslösung der sogenannten »Militärischen Sonderoperation« genannt hatte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (7. Januar 2025 um 12:24 Uhr)Dass vorgebliche russische Angriffspläne als Grund herhalten sollten, dass die USA vorgeblich erst ab Spätsommer 2021 die Ukraine aufgerüstet hatten, ist – wie man es aus westlichem Mund kennt – nur die halbe Wahrheit. Unterschlagen werden da vorangegangene bedeutsame Eskalationsschritte der ukrainischen Seite: Im März 2021 hatte die Ukraine ihre Militärdoktrin überarbeitet und dort auch die militärische Rückholung der Krim mit aufgenommen. Und im April 2021 hatte Melnyk, damals ukrainischer Botschafter in Deutschland, mit der atomaren Wiederaufrüstung der Ukraine gedroht. Das war Grund genug für Russland, vorsichtshalber Soldaten Richtung ukrainische Grenze zu verlegen. Hinter dieser Kräfteverlegung aggressive Absichten zu sehen, ist nur möglich, wenn man die Vorgeschichte der erklärten ukrainischen Eskalationsabsichten unterschlägt. Bereits 2019 war zudem klar geworden, dass Selenskij sein Wahlversprechen, den Ausgleich im Donbass zu suchen, brechen und sich der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen verweigern werde. Zu stark war die Kompromisslosigkeit der ukrainischen Rechten, von dort gab es sogar eine Morddrohung gegen Selenskij. Selenskij mag ein guter Komiker sein, im Gestrüpp der nationalen und internationalen Machtintrigen hat er sich hingegen hoffnungslos verstrickt. Nicht nur die russische Forderung nach Entnazifizierung hat insoweit schon ihre Gründe.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. Januar 2025 um 11:30 Uhr)Eine Gegenoffensive in einem kaum haltbaren Gebiet erscheint noch sinnloser als der ursprüngliche Versuch Russlands, ein kleines Stück Land zu erobern. Selbst wenn es der Ukraine gelingen sollte, bis zum Amtsantritt von Trump einen Teil des russischen Gebiets zu halten – was ich für äußerst unwahrscheinlich halte –, wäre das zwar ein bedeutender propagandistischer Erfolg für die medienwirksame Berichterstattung in den USA und weltweit. An der Gesamtsituation in der Ukraine würde dies jedoch kaum etwas ändern.
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