Volkskanzler ante portas
Von Florian NeunerGlaubt man aktuellen Umfragen, dann hat sich der Abstand zwischen der stimmenstärksten österreichischen Partei, der rechtspopulistischen FPÖ unter Herbert Kickl, und der zweitplatzierten konservativen ÖVP mit ihrem scheidenden Kanzler Karl Nehammer seit den Nationalratswahlen vom 29. September von knapp drei auf nunmehr 15 Prozent erhöht. Kickl, der gerne »Volkskanzler« werden möchte und es jetzt sehr wahrscheinlich auch wird, egal, ob es zu Neuwahlen kommt oder ob sich die ÖVP doch noch als sein Juniorpartner andient, musste nichts anderes tun, als das vorhersehbare Scheitern der Koalitionsverhandlungen abzuwarten. Denn die ÖVP, die sozialdemokratische SPÖ und die neoliberalen Neos einte bei ihrem Ringen um eine Dreierkoalition im Grunde nur das Projekt, Herbert Kickl als Bundeskanzler zu verhindern. Erreicht haben sie nun das Gegenteil.
Die Wahlkampfhilfe begann mit Karl Nehammers unglaubwürdiger »Brandmauer« gegen die Kickl-FPÖ. Ist schon völlig unklar, worin – abgesehen von einer einzigen außenpolitischen Frage – die politischen Differenzen zwischen AfD und CDU bestehen sollen, so ist das Spiel in Österreich noch um einiges unglaubwürdiger. Nicht bloß haben ÖVP und FPÖ bereits wiederholt in Koalitionen auf Bundesebene zusammengearbeitet, sie koalieren derzeit in nicht weniger als fünf von neun Landesregierungen. Gerade hat die ÖVP Mario Kunasek (FPÖ) in der Steiermark zum Landeshauptmann gemacht. Bundespräsident Alexander Van der Bellen, ein bekennender Kickl-Verhinderer auch er, bescherte der FPÖ dann die nächsten Zuwächse in den Umfragen, indem er – anders als üblich – nicht den Obmann der stimmenstärksten Partei, sondern Karl Nehammer mit der Regierungsbildung beauftragte. Das erlaubte der FPÖ, von einer »Verliererkoalition« zu sprechen und zu suggerieren, sie hätte schon längst eine Regierung auf die Beine gestellt, wenn man sie nur gelassen hätte.
Die Koalitionsverhandlungen indes verliefen zäh. Bald stellte sich heraus, dass die ÖVP im Wahlkampf gelogen und das Budgetdefizit weit heruntergespielt hatte. SPÖ-Chef Andreas Babler machte gleich zu Beginn der Verhandlungen klar, dass für ihn Wahlversprechen wie eine Vermögenssteuer nichts mehr galten, die Neos-Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger als Möchtegern-Milei schwadronierte großspurig von grundstürzenden Reformen. Die Umfragewerte der FPÖ stiegen und stiegen. Das Parteientrio, unfähig zur inhaltlichen Auseinandersetzung, wird es bald geschafft haben, Herbert Kickl zur Kanzlerschaft zu verhelfen. Die Wirtschaftsprogramme von ÖVP und FPÖ sind ohnehin deckungsgleich reaktionär. Ob es dann noch eine Rolle spielt, dass die FPÖ neben der KPÖ die einzige Partei ist, die für eine ernstzunehmende Neutralitätspolitik und gegen eine NATO-Annäherung eintritt, muss sich zeigen. Eine linke Kraft gibt es nicht im österreichischen Parlament.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (6. Januar 2025 um 10:35 Uhr)Im Dreivierteltakt ins Chaos Langsam–schnell–schnell – das ist der typische Schritt des Wiener Walzers. So lernt man es in den Tanzschulen der Hauptstadt, und so scheint auch der beschwingte Drehschritt ins Chaos zu funktionieren, den Österreichs Politiker in den vergangenen Tagen vorgeführt haben. Doch was erwartet uns nun? Wird es heißen: »Fräulein, können Sie rechts herum tanzen? Rechts herum ist der Clou des Ganzen! Rechts herum müssen Sie tanzen!«
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