Mythos russische Flotte: Ein halbes Jahrhundert Propagandamärchen um die »Rote Flotte«
Von Knut MellenthinDem früheren westdeutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) wird das Bonmot zugeschrieben, aus dem »Mare Balticum« (lateinischer Name der Ostsee) sei ein »Mare Sovieticum« geworden, wie der Spiegel am 4. Januar 1976 berichtete. Im Internet lässt sich der Spruch auf Anhieb nicht ermitteln. Grundfalsch war er jedenfalls damals schon, aber scheinbar seriöse Medien verbreiteten das Märchen aus Dummheit oder gut gespielter Sorge um die Zukunft der »Freien Welt«.
Heute, wo alle Anrainerstaaten außer Russland Mitglieder der NATO sind, ist die Absurdität des Mythos um die von der »Roten Flotte« ausgehende Bedrohung offensichtlich. Eine Gefahr für die westliche Vorherrschaft über große Teile der Welt war sie nie. Nachträglich ist vielmehr zu fragen, wie weit manche unrealistischen Ambitionen in der sowjetischen Führung, auf See mit den USA und ihren Verbündeten gleichzuziehen, das gezielte »Totrüsten« der Sowjetunion und deren tragikomisches Ende 1991 gefördert und beschleunigt haben.
Die Zeit kommentierte schon am 2. August 1968, dass sowjetische Flotteneinheiten dabei seien, sich »in einem bisherigen Reservat westlicher Seemacht« – gemeint war das Mittelmeer – festzusetzen. Zugleich wurde aber sachlich korrekt angemerkt, dass sogar die italienische Kriegsmarine für sich allein genommen »im konventionellen Bereich an Zahl und Ausrüstung der sowjetischen überlegen« sei. »Vor allem aber fehlt der sowjetischen Mittelmeerflotte eine ständig einsatzbereite Deckung und Unterstützung durch die Luftwaffe, da sie weder über Flugzeugträger noch über nahegelegene Luftstützpunkte verfügt.«
Die Feststellung war und blieb richtig. Damit war das Propagandamärchen an sich auch schon erledigt. Es wurde dennoch am Leben gehalten. Der Spiegel verstieg sich am 4. Januar 1976 in einer langen Titelgeschichte zur These, die sowjetische Flotte sei »die mächtigste der Welt«,und zitierte die Londoner Times mit der unglaublich falschen Aussage, neben der sowjetischen Marine nehme sich die vereinigte NATO-Flotte geradezu jämmerlich aus.
Es blieb nur noch das Problem der fehlenden sowjetischen Auslandsbasen. Westliche Medien lösten es, indem sie in dieser Zeit immer wieder neue »Stützpunkte der Roten Flotte« erfanden, wo sowjetische Schiffe in Wirklichkeit nur die Möglichkeit hatten, Treibstoff und Lebensmittel an Bord zu nehmen.
Eine sich über Jahre hinziehende Episode des westlichen Propagandakrieges gegen die »Rote Flotte« waren die angeblichen Sichtungen oder akustischen Ortungen sowjetischer U-Boote in den Gewässern rund um Schweden. Realer Ausgangspunkt dieser Hysterie war ein Vorfall Ende Oktober 1981: Ein sowjetisches U-Boot hatte sich, nach Moskauer Angaben unabsichtlich aufgrund von Navigationsfehlern, in ein militärisches Sperrgebiet um den schwedischen Marinestützpunkt Karlskrona manövriert, war zwischen den Schären auf Grund gelaufen, wurde von schwedischen Streitkräften eingekreist und kam erst zehn Tage später wieder frei.
Seither gab es in Schweden bis zum Ende der Sowjetunion immer wieder angebliche U-Boot-Beobachtungen, die an die Popularität des Monsters im schottischen Loch Ness erinnern. In den meisten Fällen wurde schlüssig nachgewiesen, dass es sich um falsch interpretierte natürliche Vorgänge handelte.
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