Ein Land für alle?
Von Tim Krüger
Über lange Jahre im politischen und medialen Mainstream ignoriert, hat sich in Syrien seit 2011 neben dem Assad-Regime und der zusehends von islamistischen Kräften dominierten Opposition noch eine dritte Kraft entwickelt. Als der Aufstand in Syrien begann, verliefen die Frontlinien nicht nur zwischen der Regierung Assad und der Aufstandsbewegung, die kurdische Bevölkerung im Norden des Landes, die bereits auf eine jahrzehntelange Geschichte des Kampfes und der politischen Organisierung zurückblickt, begann sich für einen »dritten Weg« inmitten des syrischen Chaos einzusetzen. Während sich auch die Menschen im Norden des Landes 2011 in großer Zahl an den Protesten gegen das Assad-Regime beteiligten, konzentrierte sich die kurdische Bevölkerung vor allem darauf, ihre eigenen lokalen Selbstverteidigungskapazitäten zu stärken, um sich sowohl gegen immer wiederkehrende Angriffe marodierender islamistischer Gruppierungen als auch gegen die Gewalt des Regimes zur Wehr zu setzen. Wie in der Türkei, im Irak oder auch im Iran waren auch die Kurden in Syrien einer jahrzehntelangen rassistischen Assimilationspolitik und gewaltsamer Unterdrückung bis hin zur Leugnung ihrer Existenz ausgesetzt. So verzeichnet die Geschichte der Kurden in allen vier Staaten eine lange Geschichte des Kampfes um ihre grundlegendsten kulturellen Rechte sowie um politische Selbstbestimmung. Während ein Teil der kurdischen Opposition die Idee der Herauslösung eines unabhängigen kurdischen Staates aus dem syrischen Territorium vertrat, beharrte jedoch die übergroße Mehrheit der syrischen Kurden stets darauf , ein Teil des Landes zu sein, und verfolgte das Ziel einer demokratischen Lösung für die Probleme.
Der IS marschiert
Als die syrische Zentralregierung in Damaskus durch die schweren Kämpfe im Süden des Landes geschwächt war und sich dazu gezwungen sah, Kräfte aus dem Norden zum Schutz der Hauptstadt zu verlagern, erkannten die Kurden die Gunst der Stunde und begannen Anfang Sommer 2012 gemeinsam mit einigen lokalen arabischen Stämmen und Parteien der christlichen Gemeinschaften, erste Städte im Norden des Landes vom Regime zu befreien. Ausgehend von der zwei Jahre später durch den Kampf gegen den »Islamischen Staat« weltweit bekannt gewordenen Grenzstadt Kobanê griff der Aufstand in Windeseile auf die gesamte Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien über. Die zuvor gebildeten Selbstverteidigungsgruppen, die unter dem Namen Volksverteidigungseinheiten (YPG) die Bühne des syrischen Bürgerkriegs betraten, übernahmen die Kontrolle über strategisch wichtige Stellungen und Straßen in den Städten. Die Bevölkerung unterstützte den Aufstand mit Massenprotesten und zwang die Regierungstruppen zum nahezu kampflosen Rückzug. Die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten waren vor allem in Aleppo, wo die Volksverteidigungskräfte in zwei Stadtvierteln die Kontrolle übernahmen, und in der seit 2019 durch die Türkei besetzten Stadt Serêkaniyê mit Angriffen der Fatah-Al-Scham-Front sowie Gruppen der »Freien Syrischen Armee« (FSA) konfrontiert. Andere Teile der befreiten Gebiete blieben bis zum Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) im Jahr 2014 vom Krieg oder größeren Auseinandersetzungen verschont.
Im Sommer 2014 rief der IS sein Kalifat aus und eroberte im Handstreich wichtige Städte wie Mossul im Irak und Manbidsch und Rakka in Syrien. Während die IS-Propaganda schon von der baldigen Einnahme der Hauptstädte Bagdad und Damaskus schwärmte, unternahmen die Truppen des selbstproklamierten Kalifats einen folgenschweren Schwenk und rückten auf die kurdischen Gebiete im Norden Syriens und des Iraks vor.
Im Irak galt die Offensive der Region rund um das Şengal-Gebirge, wo die Islamisten einen Völkermord an der dort ansässigen jesidischen Glaubensgemeinschaft verübten, sowie den Städten Kirkuk, Machmur und der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, Erbil. Auch wenn es in den deutschen Medien gern unterschlagen wird, waren es Guerillaverbände der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die aus ihren Stützpunktgebieten in den Bergen des Nordiraks aufbrachen, um sich dem Vormarsch der Dschihadistenmiliz in den Weg zu stellen. In Şengal kämpften sie im Verbund mit nordsyrischen Verbänden der YPG und der Frauenverteidigungseinheiten YPJ einen humanitären Korridor frei und ermöglichten Zehntausenden Jesiden die Flucht. Zudem stoppten sie die Islamisten vor Machmur auf der Straße nach Erbil. In Kirkuk wehrte eine Koalition aus PKK-Guerillas und Peschmerga-Einheiten der südkurdischen Patriotischen Union Kurdistans (PUK) den Ansturm des IS ab und vertrieb dessen Kämpfer aus der Stadt.
Auch in Syrien überfielen die Dschihadisten eine Vielzahl von Städten und Dörfern, doch der Hauptstoß ihrer Offensive richtete sich gegen die Stadt Kobanê. Der IS eroberte nahezu das gesamte Stadtgebiet Kobanês, dennoch gelang es den Verteidigern nach Monaten harten Kampfes, am 26. Januar 2015 die Stadt zu befreien. Im Zuge des Kampfes gegen den IS schlossen sich 2014 58 Staaten unter US-amerikanischer Führung zur sogenannten Internationalen Koalition gegen den »Islamischen Staat« zusammen. Die Koalition unterstützte die Verteidigungskräfte der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens, die sich 2015 unter dem Dach der Demokratischen Kräfte Syriens (SDK) als Verbund der Volks- und Frauenverteidigungskräfte, ehemaliger arabischer FSA-Gruppen und Stammesmilizen sowie Selbstschutzeinheiten der assyrischen und armenischen christlichen Bevölkerung neu organisierte, mit Angriffen aus der Luft, entsandte aber auch Bodentruppen und Militärberater zur Beobachtung und Ausbildung in die Region.
Ist im westlichen medialen Diskurs von der Region Nord- und Ostsyrien die Rede, so wird meist stark vereinfacht von den »US-unterstützten Kurden« oder den durch »die USA unterstützten Demokratischen Kräften Syriens« gesprochen. Zwar trifft zu, dass die in der Region stationierten US-Truppen ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen den IS waren, das politische Projekt der Selbstverwaltung aber über die US-amerikanische Unterstützung zu definieren, geht fehl. Auch sind die Kurden mit Sicherheit die am besten organisierte ethnische Gemeinschaft in Nordsyrien. Gleichwohl ist die Selbstverwaltung kein rein kurdisches Projekt. Dasselbe gilt, wenn die Selbstverwaltung auf ihre militärischen Organisationen reduziert oder schlicht und einfach »von kurdischen Milizen« gesprochen wird. Selbstverständlich war die Fähigkeit der SDK, das bis dahin unbesiegte Kalifat zu schlagen, bemerkenswert. Wirklich herausragend sind aber das politische Projekt der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens und die aus ihm hervorgegangenen Lösungsvorschläge für die Krise Syriens.
Selbstverwaltung im Norden
Die Idee eines multiethnischen und multireligiösen Gemeinwesens mag nicht neu sein, doch die Art und Weise, wie sie in den vergangenen zwölf Jahren in Nordsyrien umgesetzt wurde, kann heute nicht nur für die Lösung der drängenden Probleme Syriens, sondern des gesamten Nahen Ostens einen entscheidenden Beitrag leisten. In der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) hat ein politisches System Gestalt angenommen, das allen ansässigen Nationalitäten und Religionsgruppen nicht nur weitreichende Organisationsfreiheit gewährt, sondern auch ihre paritätische Beteiligung an allen Entscheidungsfindungsprozessen garantiert. Statt nur einer offiziellen Landessprache erkennt die Selbstverwaltung das Arabische, Aramäische und Kurdische als Landessprachen an. Statt einer von oben verordneten arabischen Nationalkultur haben die Menschen in Nord- und Ostsyrien die Vision einer neuen demokratischen Nation Syriens entwickelt, in welcher die Einheit des Landes auf Grundlage der Vielfalt und des gleichberechtigten Zusammenlebens aller Bevölkerungsgruppen garantiert wird. Seit 2012 haben vor allem die Frauen Nord- und Ostsyriens einen beeindruckenden Grad an Selbstorganisation erreicht, und sie sind nicht zuletzt durch das rechtlich geschützte System des Kovorsitzes auf allen Ebenen der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen vertreten. Nord- und Ostsyrien haben seit 2012 einen beachtlichen Grad an Demokratisierung erreicht, und es ist eben diese, die das Projekt so widerstandsfähig gegen jeden Angriff von außen gemacht hat. Im Gegensatz dazu waren es der mangelnde Wille zu demokratischen Reformen und das sture Beharren auf einer brutalen Gewaltherrschaft, die ursächlich für die schlagartige Implosion des Assad-Regimes waren.
Die Türkei war von Anfang an in die Auseinandersetzungen in und um Syrien involviert. Im Laufe der Jahre hat sie Islamisten innerhalb der FSA, Gruppen der syrischen Al-Qaida und sogar den »Islamischen Staat« unterstützt, bewaffnet, ausgebildet und finanziert und ihre Grenzen für internationale Dschihadisten geöffnet, die zu Tausenden nach Syrien strömten. Als die eigenen Stellvertretertruppen im Jahr 2016 zusehends in Bedrängnis gerieten, intervenierte die türkische Armee kurzerhand auf eigene Faust und schlug mit ihrer Operation »Schutzschild Euphrat« einen Keil zwischen die Gebiete der Selbstverwaltung, um zu verhindern, dass es den SDK gelang, das erst kurz zuvor befreite Gebiet Manbidsch mit dem nordwestlich von Aleppo gelegenen Kanton Afrin zu vereinigen. Dabei muss die Intervention als Teil des seit 2015 durch die türkische Regierung entfesselten Krieges gegen die kurdische Freiheitsbewegung, allen voran die PKK, gesehen werden. Noch im Jahr zuvor brach die Regierung Erdoğan abrupt die Friedensgespräche mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Vorsitzenden der PKK, ab und kehrte zur alten Strategie der »militärischen Lösung« der kurdischen Frage zurück.
Die Invasionen in Nord- und Ostsyrien sowie der seit Jahren rücksichtslos geführte Luftkrieg sind die logische Konsequenz der türkischen Politik gegen die eigene kurdische Bevölkerung im Inland. Anstatt den Kurden in der Türkei ihre kulturellen Rechte und politische Autonomie sowie einen gleichberechtigten Platz in der Republik zu gewähren, betrachtet die türkische Staatsführung weiterhin die Assimilation der kurdischen Identität und die gewaltsame Unterdrückung des politischen Willens der kurdischen Bevölkerung als lebenswichtige Notwendigkeit, um die eigene staatliche Existenz zu wahren. Das politische System Nord- und Ostsyriens muss, geht es nach der nationalistisch-islamistischen Koalition aus AKP und der faschistischen Partei der nationalistischen Bewegung, MHP, eben deswegen vom Angesicht der Erde getilgt werden. Die Angst, das Modell könnte zu einem Exempel für die Kurden in der Türkei werden, ist einfach zu groß.
Expansive Türkei
Darüber hinaus verfolgt die türkische Regierung unter Erdoğan eine expansionistische neoosmanische Agenda, die die nördlichen Teile Syriens sowie des Iraks als Teil ihres rechtmäßigen Territoriums betrachtet. Grundlage dafür ist der sogenannte Misak-ı Millî, zu deutsch: Nationalpakt, das politische Programm der türkischen Nationalbewegung, das 1920 noch vom letzten osmanischen Parlament ratifiziert wurde, um die zukünftigen Grenzen der Türkei festzulegen. Der Vertrag von Lausanne 1923 bestimmte letztlich die heutige Grenzziehung der Republik Türkei, das änderte jedoch nichts daran, dass die im Nationalpakt beschriebenen Grenzen bis heute als Projektionsfläche für expansionistische und revisionistische Träume des türkischen Nationalismus herhalten müssen. Doch die neoosmanische Agenda der türkischen Machthaber greift noch weiter. Der Misak-ı Millî gilt ihnen lediglich als Minimalziel. In den Führungszirkeln rund um Präsident Erdoğan träumt man von der Wiedererlangung alter osmanischer Größe, von der Rückkehr in eine Zeit, in der auch Damaskus und Bagdad in das Reichsgebiet fielen.
Ähnlich wie die Türkei verfolgt auch der Iran ambitionierte Projekte in der Region. Während sich die Türkei in den arabischen Ländern auf die sunnitische Bevölkerung stützt, konzentriert sich die Islamische Republik auf die schiitische Bevölkerung. Dabei können vor allem zwei Projekte als maßgeblich für die iranische Strategie in der Region betrachtet werden: der sogenannte schiitische Halbmond sowie die »Achse des Widerstandes«. Bei beiden Projekten stellte Syrien jeweils ein Schlüsselglied dar. Der Begriff des »schiitischen Halbmondes« beschreibt eine durchgängig von schiitischen Organisationen und Gruppen kontrollierte Landverbindung vom Persischen Golf über den Irak bis nach Syrien und in den Libanon. Die »Achse des Widerstands« bezeichnet hingegen das informelle Bündnis vom Iran gestützter bzw. mit dem Iran verbündeter Militärorganisationen, durch welches die gemeinsamen Aktivitäten gegen das US-amerikanische und israelische Engagement im Nahen Osten koordiniert und gebündelt werden. Dabei sind und waren die Hauptakteure der militärischen Allianz der Iran, die libanesische Hisbollah, verschiedene schiitische Milizen im Irak und nicht zuletzt das Assad-Regime. Durch die Verhinderung des Sturzes Assads in den ersten Jahren der syrischen Revolution und durch die Stärkung des direkten militärischen Einflusses der schiitischen Milizen im Irak nach der Niederlage des IS ist es dem Iran im wesentlichen gelungen, eine zuverlässige und ununterbrochene Landverbindung von Teheran nach Beirut herzustellen, die unter anderem die Versorgung der Hisbollah mit hochentwickelten Waffensystemen ermöglichte. Insbesondere nach der Machtergreifung der Ansarollah-Bewegung im Jemen, besser bekannt als »Huthi«-Milizen, war die »Achse des Widerstands« auf dem Gipfel ihrer Stärke angekommen.
In den vergangenen Jahren beruhte Assads Machterhalt vor allem auf der ausländischen Unterstützung durch Russland, den Iran und die Hisbollah. Zwar konnte sich das Regime noch auf eine bestimmte Basis unter der alawitischen Bevölkerung stützen, doch in weiten Teilen war auch hier die vormalige Unterstützung über die Zeit erodiert. Dass die Verbündeten des Regimes international und regional zunehmend in Bedrängnis gerieten, bedeutete auch für die Regierung Assads eine direkte Schwächung. Der so abrupt anmutende Fall Assads erscheint vor dem Hintergrund des laufenden Kriegs in Osteuropa, des Kriegs in Gaza sowie des israelischen Vorgehens im Libanon nicht völlig überraschend.
Die USA und Israel hatten bereits mit der Tötung des iranischen Generals Kassem Soleimani im Januar 2020 in der irakischen Hauptstadt Bagdad der »Achse des Widerstands« offen den Kampf angesagt. Mit immer wiederkehrenden Luftangriffen auf Stellungen der iranischen Revolutionsgarden und verbündeter Milizen in Syrien und dem Irak sollten die schiitischen Militärorganisationen abgenutzt werden. Mit der Eskalation des Krieges in der Ukraine gelang es den USA zudem ab 2022, die Reihen der NATO zu schließen. Die bis dahin bestehenden Handelswege und Energiekorridore von Russland nach Europa wurden weitestgehend gekappt. Während sich die europäische Abhängigkeit von den USA damit in jeder Hinsicht vergrößerte, machte man sich auf die Suche nach neuen Handelswegen für den Güterverkehr sowie den Transport von Energieträgern. Eines der wichtigsten westlichen Projekte stellt in diesem Zusammenhang der im September 2023 auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi verkündete »India Middle East Europe Economic Corridor« (IMEEC) dar. Das unter Federführung der Vereinigten Arabischen Emirate, Israels und vor allem der USA entwickelte Megaprojekt soll eine Alternative zur chinesischen »Belt and Road«-Initiative, besser bekannt als »Neue Seidenstraße«, sein und über Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel ins Mittelmeer nach Griechenland und Mitteleuropa führen. Bevor jedoch an die Realisierung des ambitionierten Megaprojektes zu denken ist, müssen bestehende Hindernisse aus dem Weg geräumt und Unsicherheitsfaktoren minimiert werden. Die Aussöhnung Israels mit den arabischen Staaten der Region im Rahmen der sogenannten Abraham-Verträge ab 2020 kann als Vorbereitung für das Projekt gewertet werden. Doch gilt es vor allem, die »Achse des Widerstands« zu schwächen oder gar vollständig auszuschalten, um so den Golf als auch die Handelsroute durch das östliche Mittelmeer zu sichern.
Geschwächte Achse
Die Türkei erkannte, dass sie bei diesem Prozess außen vor bleiben würde, und versuchte, das Projekt zu vereiteln oder zumindest zu behindern. So arbeitet die türkische Führung mit der Iraq Developement Road, einer 1.200 Kilometer langen Handelsstraße vom Golf über den Irak bis in die Türkei, an einer Alternative zum IMEEC. Es ist zudem denkbar, dass die Regierung Erdoğan nach dem Sturz Assads bisher zu den Akten gelegte Projekte wie die Katar-Turkey-Pipeline wieder auf die Tagesordnung setzen wird. Auch die türkische Unterstützung für die palästinensische Hamas sowie die zumindest verbalen Konfrontationen zwischen Israel und der Türkei bekommen vor dem Hintergrund der geopolitischen Konkurrenz beider Länder eine andere Bedeutung.
Die Angriffe vom 7. Oktober lieferten Israel und seinen Verbündeten die öffentliche Rechtfertigung nicht nur für einen umfassenden Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen, sondern für einen Rundumschlag zur Sicherung des östlichen Mittelmeers. Der israelische Krieg gegen die Hisbollah im Libanon und die gezielte Ausschaltung ranghoher iranischer Funktionäre und Kommandeure durch israelische und US-amerikanische Luftangriffe in Syrien und dem Irak brachten den Iran zusehends in Bedrängnis. Es steht zu vermuten, dass wohl auch die HTS und ihre Verbündeten darauf spekulierten, dass die iranische Achse nicht mehr in der Lage sein würde, relevanten Widerstand gegen ihre Offensive zu leisten. Warum Russland, für das Syrien vor allem wegen des Zugangs zum Mittelmeer eine strategische Bedeutung besitzt, verhältnismäßig zurückhaltend vorging, ist aktuell immer noch Gegenstand zahlreicher Diskussionen. Während manche Beobachter spekulieren, ob Russland im Gegenzug für die Aufgabe der Unterstützung des Assad-Regimes Zugeständnisse im Ukraine-Krieg erwartet, sehen andere in den Geschehnissen einen weiteren Beweis für die Schwächung Moskaus.
Seit dem Sturz des Regimes haben sich die HTS zu den neuen Machthabern in Syrien erhoben. Eine Übergangsregierung wurde gebildet. Diplomaten und Regierungsdelegationen geben sich in Damaskus die Klinke in die Hand. Auch wenn die Zeichen auf eine internationale Anerkennung der neuen syrischen Regierung stehen, kann doch von Frieden und Stabilität noch keine Rede sein. Gemäß der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates aus dem Jahr 2015 müssen eine neue Verfassung ausgearbeitet, freie und faire Wahlen garantiert und eine glaubwürdige, inklusive und nicht sektiererische Regierungsführung gewährleistet werden. Ob und wie dies geschehen wird, bleibt abzuwarten. Die von der HTS geführte Übergangsregierung hat bisher versucht, sich so moderat wie möglich zu präsentieren, und bei verschiedenen Gelegenheiten erklärt, dass sie die Rechte aller Teile und Minderheiten der syrischen Gesellschaft respektieren werde. Gleichzeitig sind bisher keine Anzeichen für eine Dezentralisierung der politischen Verwaltung zu erkennen, eine der Hauptforderungen nicht nur der Selbstverwaltung im Norden Syriens, sondern auch weiter Teile der drusischen, christlichen und alawitischen Bevölkerung.
Übergriffe auf Minderheiten
Wer auch immer in Syrien an der Macht ist, muss anerkennen, dass 13 Jahre des Kriegs nicht ungeschehen gemacht werden können. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Die Menschen haben gelitten, sie haben sich organisiert und haben sich zur Wehr gesetzt. Das Antlitz Syriens ist nicht mehr dasselbe wie vor 2011. Eine Regierung, die dieser Veränderung nicht Rechnung trägt, wird sich nur schwerlich an der Macht halten können. Dabei ist das Zeitfenster, das sich bietet, um die sektiererische und von brutaler Gewalt geprägte Vergangenheit des Landes hinter sich zu lassen, äußerst klein. Verschiedenste politische und militärische Akteure zerren von allen Seiten an dem Land, und auch wenn die HTS sich heute gern gemäßigt zeigt, kann sie doch ihren fundamentalistischen Ursprung nur schwer verbergen. Aus allen Teilen des Landes werden immer wieder Übergriffe auf religiöse und ethnische Minderheiten gemeldet, die eine Wiedervereinigung der Völker Syriens in scheinbar weite Ferne rücken lassen. Während die Demokratischen Kräfte Syriens ihre Bereitschaft zum Dialog zur Klärung der Frage, wie eine Integration in ein neues syrisches Staatswesen aussehen kann, erklärt haben, nutzt die Türkei weiterhin ihre islamistischen Söldner der sogenannten Syrischen Nationalarmee, um die Gebiete der Selbstverwaltung zu attackieren, und greift die Zivilbevölkerung täglich aus der Luft an.
Auch im Süden des Landes, wo die israelische Armee ihre Stellungen auf den Golanhöhen weiter ausbaut und neue Gebiete an der Grenze zum Libanon besetzt hat, bleibt die Lage unklar. Während die christlichen Gemeinschaften nicht unbedingt auf politischer Autonomie bestehen, werden dies die Drusen, Alawiten und Kurden sicherlich tun. Zu groß ist die Angst vor einem zentralisierten sunnitisch-islamischen arabischen Staat.
Das syrische Volk konnte mit dem Sturz Assads zwar das Ende einer schrecklichen Diktatur feiern, ob die Entwicklungen nun einen Wandel zum Besseren bringen, bleibt abzuwarten. Ein inklusiver, toleranter und demokratischer Ansatz der neuen syrischen Führung könnte dem Land den Übergang in eine friedliche Zukunft erleichtern. Dafür bedarf es zunächst eines Bekenntnisses zu einer politischen Dezentralisierung, mehr lokalen Entscheidungsbefugnissen und einer Garantie der kulturellen und politischen Rechte aller Teile der syrischen Gesellschaft. Doch solange ausländische Mächte das Land zum Spielball ihrer Interessen machen und Nachbarn wie die Türkei Syrien am liebsten zur Provinz ihres neuen Reiches erklären würden, bleibt mehr als nur ein Hindernis für eine friedliche Zukunft Syriens.
Teil 1 »Unter fremdem Einfluss« erschien in der gestrigen Ausgabe vom 22. Januar 2025
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Muhammad Hamed/REUTERS22.01.2025
Unter fremdem Einfluss
- Ammar Abdullah/Reuters11.11.2016
Geostrategisches Spielfeld
Die Befreiung Kobanes vom IS hatten die Kurden nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch viel zu spät einsetzende Luftunterstützung der USA geschafft. Warum die USA erst die nahezu vollständige Zerstörung Kobanes abgewartet hatten, bevor sie eingriffen, weiß ich nicht. Der Verdacht liegt nahe, dass die mit der Verzögerung in Kauf genommene Zerstörung Kobanes ein Zugeständnis an die Kurendfeindlichkeit der Türkei war.