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Aus: Ausgabe vom 25.01.2025, Seite 12 / Thema
Deutscher Idealismus

A + B + C

Vor 250 Jahren wurde der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der Gegenspieler Fichtes und Hegels, geboren
Von Stefan Ripplinger
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Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der späte (Zeitgenössisches Porträt, 19. Jahrhundert)

Der Gelehrtenkalender behauptet steif und fest, der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sei 1775 in Leonberg geboren worden. Doch wer den kauzigen Mann gelesen hat, wird eher annehmen, er sei vor 13 Milliarden Jahren, kurz nach dem Urknall, zur Welt gekommen. Damals nahm, seiner Naturlehre zufolge, in einem blendenden »Urzufall« eine seltsam ruckhafte, in sich widersprüchliche, gleichwohl gewaltige Entwicklung ihren Anfang, die sich bis in unsere dunklen Tage fortsetzt. Wohl deshalb stellen sich in der Erinnerung an seine Schriften, vor allem an seine Spätphilosophie, gern Bilder von platzenden Sonnen, schwarzen Löchern und von nach allen Seiten hin feurig umherschießenden Meteoriten ein.

Das ist nun nicht gerade das, was man sich unter einem gemütlichen Idealismus vorstellt, und Ernst Bloch, der sich noch lange nach den Weltkriegen einen wachen Sinn für solches heilloses Chaos bewahrte, schrieb, wer in Schellings »Urzufall das Nicht, das es bei sich selbst nicht aushält«, wiedererkenne, stehe der Freiheit näher als einer, der »fertig geschlossene Kausalreihen« kreuze (»Experimentum Mundi«, 1975). Bloch hat diesen Grundgedanken Schellings allerdings im Lauf seines Lebens krass unterschiedlich gewertet. In seinen Leipziger Vorlesungen erkennt er in ihm den »Sündenfallmythos« wieder. Der »erzreaktionäre Schelling« der Frühschriften sehe im Urzufall auch das Urverbrechen, das sich immer weiter fortzeuge. Doch was Schellings lange verfemte und verkannte Spätphilosophie betrifft, kann Bloch dem Ungrund, trotz seiner Abneigung gegen den über ihm schwebenden göttlichen Geist, doch so manches abgewinnen, ja, wie Axel Wüstehube (»Das Denken aus dem Grund«, 1989) feststellt, trifft das Motiv, kaum hat es Schelling in seinem Spätwerk dialektisch dynamisiert, auf Blochs lebhaftes Interesse. Das ist kein Widerspruch, sondern erklärt sich daraus, dass der späte Schelling von einer negativen zu einer positiven Philosophie übergeht.

Die negative Philosophie schließt alle reale Wirklichkeit rigoros aus ihrem Denken aus und verharrt, ob bei Kant, Fichte oder Hegel, in ihrem idealistischen Denkgehäuse. Die positive aber öffnet sich auf reale Natur, reale Zeit und reale Geschichte – und ist ein Idealismus mit Ausblick. Sie besitzt nicht nur ein Fenster nach außen, sondern auch auf sich selbst. Und vor allem ist sie kein Gehäuse mehr, sondern ein ziemlich explosiver und, wie Schelling selbst schreibt, »dissonanter« Prozess.

Ungegründet

Am einfachsten hat Schelling den Vorgang in seinen Vorlesungen »Zur Geschichte der neueren Philosophie« (1827) erklärt: Das Subjekt, das als bewusst gedacht wird, ist zu Beginn »in seiner reinen Wesentlichkeit« aller Eigenschaften ledig, es ist »als nichts«, also nicht ganz und gar ein Nichts, aber doch substanzlos. Wie Bloch schrieb, haben wir im Stande des Urzufalls oder Ungrunds das »Nicht« vor uns, das es bei sich selbst nicht aushält. Es muss, um etwas zu werden, »sich selbst anziehen«, also sich substantiieren, denn »nur dazu ist es Subjekt, dass es sich selbst Objekt werde«. Hat es sich aber objektiviert, so hat es sich auch schon wieder verloren. Als »das, was es ist, kann sich das Subjekt nie habhaft werden, denn eben im sich-Anziehen wird es ein anderes, dies ist der Grund-Widerspruch, wir können sagen, das Unglück in allem Sein«. Aus A muss B werden, dieses B sieht sich jedoch als unvollständig und von sich selbst entfremdet, will sich deshalb ergreifen, überwindet sich so und wird zu C. Und so weiter.

In diese »rotatorische Bewegung« gehen einige der bedeutendsten Neuerungen in der Philosophie des 19. Jahrhunderts ein. Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Wir haben hier zwar, wie bei Johann Gottlieb Fichte, ein Selbst-Setzen vor uns, aber es ist zugleich ein Ent-Setzen, denn was sich findet, verliert sich sogleich wieder. Was bei Fichte Selbstbeziehung ist, wird zu Fremdbeziehung. Was souverän sein will, erkennt seine Abhängigkeit von einem andern – von der Natur, von seinem »unverfügbaren Grund« –, es erkennt also, just als es sich unabhängig machen will, seine Abhängigkeit.

Auch wenn sich die ganze Tragweite dieser »ewigen Wiedergeburt aus ewigem Untergang« (Manfred Frank: »Der unendliche Mangel an Sein«, 1975) erst spät zeigt, bereitet sie sich bemerkenswert früh vor. Bereits der 20jährige Schelling erkennt, obwohl wie Fichte von seinem »Ich« noch ganz erfüllt, dass es ihm entschlüpfen könnte: »Selbstbewusstsein setzt die Gefahr voraus, das Ich zu verlieren. Es ist kein freier Akt des Unwandelbaren, sondern ein abgedrungenes Streben des wandelbaren Ichs, das, durch Nicht-Ich bedingt, seine Identität zu retten und im fortreißenden Strom des Wechsels sich selbst wieder zu ergreifen strebt.« (»Vom Ich als Prinzip der Philosophie«, 1795) Deutlich ist zu spüren, dass sich die nachrevolutionäre Welt nicht beruhigt, ja nicht beruhigen kann. Anders als bei Fichte geht es nicht mehr um ein endliches Ich, sondern um unaufhörliche Selbstsetzung und Selbstaufhebung, um »nie endende Endlichkeit«, wie Manfred Frank formuliert. Von Fichte unterscheidet sich Schelling wie Bruckner von Beethoven. Unpersönlich wird nun, was zuvor noch persönlich war.

Mit dem vom jungen Schelling angesprochenen »Selbstbewusstsein« ist ein weiterer wichtiger Punkt berührt: Wenn sich der Vorgang im menschlichen Tun und Denken vollzieht, muss dem B seine unwürdige Geburt aus dem (wenn auch »unvordenklich«) Zufälligen durchaus bewusst sein, denn anders wollte es sich nicht überwinden und vollenden. Was den jetzigen Zustand bedingt hat, lässt sich nicht mehr auflösen oder verdrängen. In seiner eleganten Dissertation über Schellings Spätphilosophie (»L’Odyssée de la conscience«, 1933) schreibt Vladimir Jankélévitch: »Im Akt seiner Schöpfung arbeitet der Geist an seinem eigenen Verlust.« Das ist das tragische Moment des Modells.

Unzeitig

Das wichtigste Moment überhaupt ist aber die Zeit. A kommt vor B und B vor C, damit gibt es ein Vorher, ein Jetzt und ein Danach. Diese Entwicklung verläuft nicht bequem linear, sondern als eine Folge von brutalen Brüchen. In der »Philosophie der Offenbarung« (1841/1842) heißt es: »Eine Zeit, wie die unsrige, in der immer nur dieselbe Zeit wiederkehrt A + A + A, ist nicht wahre Zeit, sondern Hemmung der wahren Zeit. Erst wenn A + B + C gesetzt ist, ist wahre Zeit. In jenem actus, der etwas völlig Neues, Niegewesenes einsetzt, wird, was er zuvor war, als Vergangenheit gesetzt.«

Der »actus«, der Akt, führt das entscheidend Neue ein, er ist das bewegende Moment, er ist die Explosion, er bringt das Unheil in Gang. Er lässt sich also doch nicht auf den Kernsatz eines guten Bekannten von Schelling verkürzen – »Im Anfang war die Tat!« (»Faust I«) –, eben weil die hier gemeinte Tat kein stolzes prometheisches Handeln und Hervorbringen, keine Produktion im schlichten Sinn ist. Mit der Dimension der realen Zeit, mit der er sich von allen anderen Idealisten klar unterscheidet, bringt Schelling auch etwas Existentialistisches ins Spiel. Der Sprung von A zu B führt nämlich den Unterschied zwischen Was und Dass (scholastisch gesprochen: von Quidität und Quodität) vor Augen. A hat noch kein Wesen, kein Was (quid), es strebt danach, ein Wesen (nämlich sich selbst) zu besitzen. Indem es aber, wie es bei Schelling heißt, sich ein Wesen »anzieht«, tritt es als Dass (quod), nämlich als Existenz, in die Welt. »An allem Wirklichen ist zweierlei zu erkennen oder von ihm auszusagen: quid sit und quod sit, was ein Seiendes ist und dass ein Seiendes ist.« (»Philosophie der Offenbarung«, 1841/1842)

Das ist, wie häufig bei ihm, gegen Hegel gerichtet, der am Begriff Genüge fand. Schelling besteht darauf, dass etwas wirklich in der Welt sein, Existenz haben, also auch gefährdet sein muss. Damit macht er aber das Seiende zu etwas Endlichem. Mehr noch, nun haben wir ein Vorher, nämlich ein Seinkönnen, und ein Nachher, ein, wenn auch höchst instabiles, Sein. Manfred Frank schreibt: »Die Zeit hebt erst mit dieser reellen Scheidung des Einigen an: Die vormals erste Gestalt wird durch die andere zu deren eigener Vergangenheit verdrängt.« Sie ist damit auch ihre eigene Zukunft, weil sie, wenn sie sich vervollständigen will, auf sich selbst zusteuern muss.

Die Zeit ist noch nicht die Geschichte, die Natur ist nicht die Gesellschaft. Schelling ist also kein Prämarxist, aber es lässt sich durchaus behaupten, dass er der Hegel-Kritik von Marx den Boden bereitet hat, denn, polemisiert er gegen Hegel, »wenn alles Geschehen als Schein, wenn die gesamte wirkliche Welt als eine bloße Denknotwendigkeit gesetzt und begriffen werden kann, so befinden wir uns ganz in den traurigen Kreis der Erscheinungen eingeschlossen, den die Idee nicht durchbrechen kann. Dieses System lässt weder der Welt noch dem menschlichen Individuum eine wahre Zukunft übrig. Auch innerhalb dieser Welt ist das Ziel die reine Seligkeit des logischen Begriffs. Selbst in der Weltgeschichte geht alle Tätigkeit bloß auf den logischen Begriff zurück. Für ihn haben die Heroen der Menschheit gearbeitet und geblutet. Alles, was die Geschichte auszeichnet, sind nur Verhüllungen des absoluten Gedankens, der der einzige Inhalt ist.« (»Grundlegung der positiven Philosophie«, 1832/1833)

Schellings »wirkliches Denken« lässt sich daran erkennen, dass es einen Widerstand überwinden muss, dass es an etwas anstößt (was in der Hegelschen Logik oder auch in der System­theorie von Niklas Luhmann nicht zu befürchten ist), es bezieht immer ein dem Denken »Entgegenstehendes«, also Tatsachen außerhalb des Denkens, ein. Es hat ein Außen, eine Natur – und kann sie doch nicht erreichen. Er bleibt also Idealist. Doch, schreibt Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (»Der wirbelnde Strom des Werdens«, 2023), wo »die Philosophie ihre prinzipielle Negativität gegenüber der Wirklichkeit in ihrem unvordenklichen Existieren durchschaut und sich aus dieser, der sie ja in ihrer Praxis mit angehört, erfasst, da vermag sie zu einer ›positiven Philosophie‹ fortzuschreiten, die sich als ein Begreifen aus Wirklichkeit und Geschichte versteht«.

Unabschließbar

Eine eher unbedeutende Rolle im Verhältnis von positiver Philosophie und Materialismus hat es gespielt, dass Schelling ein unerbittlicher Feind des Staates war. Er wurde nicht müde, ihn als »zweite Natur«, als »Geißel Gottes« zu verurteilen. Das mag dazu beigetragen haben, dass der Anarchist Michail Bakunin und Barthélemy Prosper Enfantin – einer der bizarrsten Apostel des »Evangeliums nach Saint-Simon« (Edmund Wilson: »To the Finland Station«, 1972) – vorübergehend Hörer von Schellings Vorlesungen waren. Wenn auch die Verdammung des Staates mehr war als ein weiterer Seitenhieb gegen die »Staatsvergöttlichung« seines Gegenspielers Hegel, war sie jedenfalls kein Aufruf zum Anarchismus. Marx behauptete sogar, vielleicht mehr im Scherz, Schelling könnte unter dem Schutz der preußischen Polizei gestanden haben.

Als attraktiv gerade für die undogmatische Linke erwies es sich aber, dass Schellings Reflexion aus den genannten Gründen keinen Abschluss finden kann. Man muss das nicht so tragisch wie Schelling selbst nehmen. Einer der führenden Marxisten Frankreichs, Henri Lefebvre, unterstreicht in seiner Autobiographie (»La somme et le reste«, 1959) gerade diesen Punkt: Schelling »stellte die Beziehungen zwischen Sein und Bewusstsein so dar, dass sie sich nicht abschließen konnten, weil sie sich in der Hand des ›Anderen‹ befanden«. Identität bleibt abhängig von Alterität – ein Gedanke, der in der französischen Philosophie, ob bei Jean-Paul Sartre, bei Emmanuel Levinas oder bei Louis Althusser, sehr stark werden sollte.

Bei der Gelegenheit erzählt Lefebvre auch, wie er sich mit Georges Politzer an Schelling abarbeitete. Politzer, der mit Jacques Decour die intellektuelle Résistance von Paris anführen sollte und 1942 von den Deutschen hingerichtet wurde, war der feinste Theoretiker der Kommunistischen Partei. Er übersetzte Schellings »Über das Wesen der menschlichen Freiheit« (1809), eine Schrift, zu der Lefebvre die Einführung schrieb. Er habe, so Lefebvre, damals »fieberhaft« Schelling gelesen, doch darüber nicht vergessen, jedes Fest zu feiern, das sich anbot. »An der entfesselten Feier habe ich eine Freude, die ich oft zum Ausdruck gebracht habe, besonders, wenn es um Rabelais ging. Das ist die Rückseite des Sonnenkreuzes (wörtlich: gekreuzigte Sonne, ein keltisches Symbol – d.A.), das eine schließt das andere nicht aus. Diese Aspekte berühren auch Philosophisches. Instinktiv versuchte ich, sie in etwas aufzuheben, was ich später kosmologische oder anthropologische Romantik genannt habe. Diese Einheit suchte ich bei Schelling, ich schrieb sie ihm zu.« Die Zuschreibung lässt sich rechtfertigen. In Schellings Philosophieren ist der Akt des Denkens idealerweise selbst in Natürliches, auch Leibliches eingebettet.

Die Unabschließbarkeit des Denkens hat überdies eine sprachphilosophische Seite. Das Subjekt auf seiner ewigen Flucht zu sich selbst hin und von sich selbst weg wird der Natur erst im Rückblick, erst im Zeichen inne. Nicolas Tertulian (s. Archives de Philosophie 4/1987) geht so weit festzustellen, die Natur werde beim späten Schelling nur dank der Sprache wirklich. »Man kann sagen, die ganze Natur sei eine Metapher, eine Übertragung der intelligiblen Welt«, heißt es in der »Philosophie der Offenbarung«. Sprache hat hier etwas Nachträgliches, sie ist eine Spur. Begriffe erlangen kein Eigenleben wie in Hegels Philosophie, sie folgen einer Notwendigkeit, die außerhalb ihrer selbst liegt, sie sind »nach der Natur, nicht vor ihr«: »Abstrakta können doch natürlicherweise nicht eher da sein, für Wirklichkeit gehalten werden, als das ist, wovon sie abstrahiert werden.« (»Zur Geschichte der neueren Philosophie«, 1827)

Selbstverständlich hätte er gerade hier noch einen Schritt weitergehen müssen. Manfred Frank merkt an, wenn Marx schreibt, es gelte, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, habe er damit gewiss nicht gemeint, das Konkrete könnte vom Denken selbst erzeugt werden. Doch immerhin, in die Selbstherrlichkeit der Begriffe ist eine Bresche geschlagen, eine Öffnung ins Wirkliche ist gebahnt.

Unvernünftig

Die Fixierung aufs Vorzeitliche, auf die explosive und ekstatische Entstehung des Universums hat, wie der Jesuit Xavier Tilliette, der wohl beste Kenner Schellings, sorgfältig herausarbeitet (»L’Absolu et la philosophie«, 1987), einige höchst eigenartige Folgen für dessen Theologie. In seiner von Karl Philipp Moritz inspirierten Mythologie gibt es Götter zuhauf, aber zwischen ihnen und dem Erscheinen des Christus findet sich nichts als Leere. Auch wenn sich Franz Rosenzweig, der große jüdische Philosoph, für Schelling begeistert hat, sieht sich bei diesem selbst die jüdische Vorgeschichte fast vollständig ausgeblendet. Christus ist nicht etwa der jüdische Messias, sondern das »Licht der Heiden, Lumen gentium«. Mehr noch, Christus ist nicht der Gipfel, sondern das Ende der Geschichte (hier tut sich eine interessante Parallele zum negativen Messianismus Walter Benjamins auf). Inkarnation, schreibt Tilliette, ist bei Schelling Exinanition, also Entleerung oder Demütigung.

Es gibt folglich keine Prophetie bei Schelling, und das von Marx und anderen verkündete Zeitalter des Prometheus reizt ihn, »actus« hin oder her, kaum. So lässt sich leicht begreifen, was der hoffende Bloch an diesem Pessimisten unannehmbar, ja unerträglich finden musste. Bei Schelling ist Satan weitaus aktiver als Gott, ein unermüdlich tätiger Geselle. Das fiel schon Jankélévitch auf, der diesen Umstand in das paradoxe Bild fasst, bei Schelling singe Satan das Loblied Gottes. Satan ist, wie übrigens häufig in der idealistischen Tradition, das abspaltende, eigensinnige, partikulare Element, das sich stets am Ganzen stößt und es so, unabsichtlich, anregt und befördert.

Man wird es Schelling abnehmen müssen, dass er die Dinge so darstellen wollte, wie sie sind. Aber da er (darin ist ihm Hegel voraus) nun einmal keine gesellschaftlichen Grundlagen der »Ideen« kennen will, muss etwa seine Betrachtung der Mythologie etwas Diffuses und Esoterisches annehmen. Mythologie ist für ihn das Denken-in-Bildern der frühen Menschheit. Auch dieses Denken könne sich im Rückblick, in der Anamnese, aufklären. Aber er sucht die Wahrheit eben in den Mythologemen selbst; man denke etwa an seine anregenden Betrachtungen der Figur des Dionysos. Außerdem biegt er sich manches in den antiken Mythologien so zurecht, dass es die eigene Lehre begründet und bestätigt. Auch in den mythologischen Gestalten gibt es, wenig überraschend, die schon aufgezeigten Potenzen: das Nicht-Seiende, das Seiende und das Geistige. Überdies lenken christliche Vorannahmen, etwa die Dreieinigkeit Gottes, die Erkenntnis, und was sich nicht aufklären lässt, wird den »Mysterien« zugeschrieben.

Es gibt also Gründe genug, Schellings Philosophie für wenigstens teilweise »irrational« zu halten, wie es dann auch von Ludwig Feuerbach bis Georg Lukács viele getan haben. Doch fragt sich mit Lefebvre, ob der Rationalismus stets von Vorteil ist. Staat und System, schreibt Lefebvre, geben sich ebenfalls rational. Ja, sogar der Staat der Nazis funktionierte nach rationalen Maßgaben.

Und heute gibt es ohnehin nichts Irrationales mehr. Alles Widrige, Unerklärliche und Unvorhersehbare wird von der Diskursmaschine zu verdaulich Rationalem gemahlen. Lenkt einer im Zustand des flagranten Wahnsinns seinen Wagen in eine Menschenmenge und tötet viele, gilt er hinterher bei den einen als Antiislamist, bei den anderen als Islamist, bei den einen als dies, bei den andern als das, bei manchen sogar als »psychisch gestört« nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD 10), nur als »wahnsinnig« gilt er gemäß nicht mehr. Freilich wird man feststellen müssen, dass eine Welt, die nur noch Vernunft kennt, zur praktischen Unvernunft geworden ist. Ein undialektischer Rationalismus ist gar keiner (sondern bloß Kulturalismus). Seine Dialektik hinderte Friedrich Wilhelm Schelling daran, in eine solche monistische Ödnis einzuwilligen. Und seine Philosophie, die, wie Marx spottete, preußisch war, wirkt von heute aus betrachtet recht unpreußisch.

Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11. Dezember 2024 über das Berliner Stadtschloss: »Gebaute Zeitenwende«.

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