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Aus: Ausgabe vom 22.03.2025, Seite 15 / Geschichte
Jugendweihe

Aufklärung für alle

Vor 70 Jahren fanden in der DDR die ersten Jugendweihefeiern statt. Nach 1990 hielten viele Familien an ihnen fest
Von Arnold Schölzel
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Jugendweihefeier in Falkensee bei Berlin – Datum unbekannt

Über den Beginn der Jugendweihefeiern in der DDR sind deren wenige Erforscher uneins. Joachim Chowanski und Rolf Dreier datieren ihn in ihrem 2000 veröffentlichten Band »Die Jugendweihe. Eine Kulturgeschichte seit 1852« auf den 20. März 1955. Das Internetlexikon Wikipedia schreibt: »Am 27. März 1955 fand die erste Jugendweihe in Ostberlin statt.«

Fest steht: Die Geschichte der staatlich getragenen Jugendweihe in der DDR begann im Frühjahr 1955. Nach wenigen Jahren nahmen 80 bis 90 Prozent des jeweiligen Jahrgangs an den Feiern und den vorbereitenden Jugendstunden teil. Die Jugendweihe wurde mehr oder weniger zu einer Pflichtveranstaltung, in der ein Gelöbnis ausgesprochen wurde und alle Teilnehmer ein Buch mit weltanschaulich-populärwissenschaftlichem Inhalt erhielten. Zugleich wurde die Feier ab den 60er Jahren zu einem Familienfest. Dieser Teil der DDR-Alltagskultur wurde nach 1990 so gut wie nicht erforscht, obwohl bis heute jährlich Tausende ostdeutsche Jugendliche und ihre Familien an Jugendweihefeiern teilnehmen. Offenbar gibt es ein verbreitetes Bedürfnis, den sogenannten Übergang ins Erwachsenenalter in dieser Form zu begehen.

Großes Bedürfnis

Zu den Zahlen: Nahmen im ersten Jahr rund 52.000 Jugendliche an der 1954 vom Politbüro der SED beschlossenen Jugendweihe teil, was einem Anteil von 17,7 Prozent entsprach, stiegen die Teilnehmerzahlen bis 1958 (knapp 190.000) steil an. 1989 waren es insgesamt mehr als sieben Millionen DDR-Jugendliche, die eine Jugendweihe erhalten hatten. Nach 1990 gingen die Teilnehmerzahlen zwar zurück, blieben aber beachtlich. Die höchste Ziffer wurde laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2000 mit mehr als 96.000 Teilnehmern erreicht und sank unter anderem durch den seit dem 30jährigen Krieg beispiellosen Rückgang der Geburtenzahl in Ostdeutschland in den 90er Jahren bis 2009 auf etwa 23.000 Teilnehmer. Im Pandemiejahr 2021 wurden noch 15.500 Jugendweihen gezählt. 2023 berichtete die Berliner Morgenpost unter Verweis auf Angaben des Vereins Jugendweihe Berlin/Brandenburg, es habe in der Region 3.100 Anmeldungen gegeben, nach rund 7.000 in den 90er Jahren. Festredner bei den Feiern, für die je nach Zahl der Gäste zwischen 150 und 200 Euro zu bezahlen sind, sind oft Politiker der Partei Die Linke und der SPD. Insgesamt haben nach 1990 mehr als 1,5 Millionen Jugendliche die Jugendweihe erhalten, d. h., zusammen mit ihren Familien war vermutlich etwa die Hälfte der heute noch in Ostdeutschland lebenden rund 12,6 Millionen Menschen beteiligt.

Zum Weiterleben dieses Familienfestes liegen kaum Analysen vor. Zu lesen sind vor allem individuelle Erinnerungen, in denen oft das Rituelle und Formale der Feiern und das Interesse an den schon zu DDR-Zeiten oft beachtlichen Geld- und Sachgeschenken für die Jugendlichen kritisiert wird. In geschichtswissenschaftlichen Darstellungen überwiegt die Konzentration auf Politisches nach dem vorherrschenden Raster. Repräsentativ ist zum Beispiel Wikipedia: »Mit gewaltigem Druck wurde die formal aufgebaute Jugendweihe durch ihre zeitliche Nähe zu Ostern und Pfingsten und ihre pseudosakralen Inhalte zu einem vordergründigen Gegenentwurf zur evangelischen Konfirmation und der katholischen Firmung etabliert. Aber auch konfessionell gebundene Jugendliche sollten (parallel zur Konfirmation/Firmung) an den Jugendweihefeiern teilnehmen. Sie sollte eine Konkurrenz zur Konfirmation sein und war ein Instrument zu der von der SED geforderten Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit.«

Ursprünge unklar

Das ist in sich widersprüchlich: War es nun »gewaltiger Druck« zum »Gegenentwurf« oder ein Angebot auch an christlich erzogene Jugendliche? Eine Antwort lautet: beides mehr oder weniger und im Laufe der Jahre bis 1989 je nach konkreter politischer und gesellschaftlicher Situation in der DDR anders. Nur ein Beispiel: Die Pastorentochter Angela Merkel, die Mitglied der Jungen Pioniere und der FDJ war, nahm nicht an der Jugendweihe, sondern nur an der Konfirmation teil. Ihr drei Jahre jüngerer Bruder Marcus erhielt auch die Jugendweihe, was böse Beschwerdebriefe über Vater Horst Kasner an die Kirchenleitung auslöste. Beide Kinder absolvierten ein Physikstudium.

Selbst die genaue Entstehung der staatlich getragenen Jugendweihe in der DDR ist unklar. Noch 1950 hatte die SED ein zunächst parteiintern, dann im Neuen Deutschland ausgesprochenes Verbot gegen »Jugendweihen und Jugendfeiern jeglicher Art« erlassen. Der Hintergrund: Nach 1945 hatten ehemalige Funktionäre und Mitglieder der KPD, der SPD, von Freidenkerverbänden und freireligiösen Gemeinden diese Tradition wiederbelebt. 1852 hatte im thüringischen Nordhausen der Pfarrer einer freireligiösen Gemeinde, d. h. von der preußisch-lutherischen Staatskirche abtrünnig, eine erste Jugendweihe veranstaltet. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 fanden atheistisch orientierte Jugendweihefeiern unter dem Schirm der SPD vor allem in deutschen Großstädten statt. In der Weimarer Republik führten KPD, SPD, Freidenker und Freireligiöse die Jugendweihen fort, und nicht wenige knüpften sofort nach der Befreiung vom Faschismus wieder daran an.

Das beendete die SED-Führung ziemlich abrupt, zunächst parteiintern. Offenbar gab es Unverständnis und Unmut, so dass der Leiter der ZK-Abteilung Kultur und Erziehung, Stefan Heymann, öffentlich Stellung nahm. Er schrieb am 31. März 1950 im Neuen Deutschland, dass die sozialistischen Jugendweihen vor 1933 »eine kämpferische Einstellung gegenüber den Kirchen« eingenommen und dazu gedient hätten, junge Menschen »durch einen feierlichen Akt in die Gemeinschaft der kämpfenden Arbeiterklasse aufzunehmen«. In der DDR nähmen aber »nicht wenige kirchliche Vertreter« aktiven Anteil am Kampf für die Einheit Deutschlands, für Frieden und Fortschritt. Auch wenn es manchen Genossen schwerfalle, hätten die Jugendweihen keine Berechtigung mehr.

Heymann hatte in die Kirchenvertreter, die loyal zur DDR stünden, auch den als Berliner Bischof als Vorsitzenden des Rates der (gesamtdeutschen) Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) amtierenden Otto Dibelius einbezogen. Das war merkwürdig, denn Dibelius hatte aus seinem Antikommunismus, der ihn 1933 auch die Nazidiktatur bejubeln ließ, nie einen Hehl gemacht (siehe auch den Artikel »Eine Partei eigener Art« in der jW-Beilage »75 Jahre DDR« vom 2. Oktober 2024) und hatte der DDR den Kampf angesagt.

Warum die SED umschwenkte und ab 1954 Kurs auf die Jugendweihe nahm, wurde wenig untersucht. Chowanski und Dreier schreiben, dass es unbekannt ist, ob es zwischen 1950 und 1955 Jugendweihen in der DDR gab. Nach dem 17. Juni 1953 seien in der SED-Führung Überlegungen zur staatsbürgerlichen Erziehung Heranwachsender angestellt worden. Die Entscheidung, Jugendweihen einzuführen, sei 1954 »ziemlich hastig« getroffen worden. Wikipedia vermutet einen Befehl aus Moskau: »Im Mai 1953 fasste das Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion einen Beschluss über ›Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR‹, der auch eine sozialistische Alternative zur Konfirmation vorsah.« Gerd Dietrich führt in seiner »Kulturgeschichte der DDR« (2018) allgemeine Erwägungen an: »Gegen den angeblich reaktionären Einfluss der Kirchen sollte eine breit angelegte Aufklärungs- und Kulturarbeit gesetzt werden.« Er zitiert aus dem Geleitwort Walter Ulbrichts zum Jugendweihebuch »Weltall – Erde – Mensch«: Es gehe um den »Kampf gegen Aberglauben, Mystizismus, Idealismus und alle anderen unwissenschaftlichen Anschauungen«.

Strategischer Fehler

Die Kirchen gingen allerdings auf Konfrontationskurs. Bereits am 30. November 1954 hatte die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg erklärt, Jugendweihe und Konfirmation seien unvereinbar. Nach 1990 vertraten einige Kirchenvertreter die Auffassung, dass die Kirche damit einen entscheidenden Fehler begangen habe. 1950 gehörten noch 92 Prozent der DDR-Bevölkerung den Kirchen an, »innerhalb weniger Jahre«, meint der Humanistische Pressedienst heute, »sollte hierzulande die Geschichte des Protestantismus als Volkskirche besiegelt sein«. Mit der Jugendweihe nahm die im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung begonnene Entkirchlichung eine neue Qualität an. Laut einer Erhebung der Universität von Chicago von 2012 ist Ostdeutschland heute der »gottloseste Ort der Welt«, nominell gehören noch 15 Prozent der Bevölkerung den evangelischen Kirchen, fünf Prozent der römisch-katholischen Kirche an. Das sei, verkünden hiesige Medien und Politik, auf DDR-Repression zurückzuführen. Es scheint anders zu sein, siehe das unerklärte Fortleben der Jugendweihe.

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