Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 25.03.2025, Seite 12 / Thema
Politische Ökonomie

In wessen Hand?

Vorabdruck.Was kommt nach dem Privateigentum an den Produktionsmitteln? Ein Überblick über den heutigen Vergesellschaftungsdiskurs
Von Jürgen Leibiger
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Protest im Rahmen der Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin

In diesen Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag das Buch »Vergesellschaftung« von Jürgen Leibiger. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag das redaktionell gekürzte Kapitel »Gegenstände des heutigen Vergesellschaftungsdiskurses«. Das Buch kann bestellt werden unter www.papyrossa.de (jW)

Welches Eigentum mit einer Vergesellschaftung der Produktionsmittel geschaffen werden soll, scheint aus dem Begriff hervorzugehen: gesellschaftliches Eigentum. Ist damit die Frage nach dem Inhalt der Vergesellschaftung beantwortet? Was bedeutet »gesellschaftlich« in einem solchen Kontext? Welche konkreten Eigentumsformen könnten sich hinter dem Begriff verbergen? Das kapitalistische Eigentum erfuhr vielfältige Metamorphosen und erfährt sie noch. Es liegen Jahrzehnte der Erfahrungen mit dem »sozialistischen Eigentum« und seinem Scheitern im 20. Jahrhundert vor. Können unter diesen Bedingungen die Inhalte, Wege und Resultate einer Vergesellschaftung wie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts definiert werden? Ein »Nein« scheint auf der Hand zu liegen, aber was folgt daraus?

Welche Gesellschaft?

Die Bestimmung des Inhalts von Vergesellschaftung ist eng mit der Frage nach dem Charakter der Gesellschaft und deren Transformation verbunden. Eine ganze Reihe von Gesellschaftsentwürfen gibt darauf gar keine Antwort und will sie auch nicht geben. In seinem »Schwarzbuch Kapitalismus« sagt Robert Kurz zwar den baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus voraus, hält aber die Frage für müßig, ob die Kapitalismuskritik zu einer »gesellschaftlichen Massenbewegung« werden kann, diese »sich die gesellschaftlichen Potenzen direkt aneignet und die gesamte Reproduktion in eigener Regie betreibt« und eine »Art Gegengesellschaft« jenseits von Markt und Staat bildet.¹ Zwar erwähnt er an einer Stelle die Perspektive eines Rätesystems, aber insgesamt geht er davon aus, »dass die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat«, weil Theorie und politische Akteure einfach zu intensiv im bestehenden System verstrickt sind und – wie er meint – den erforderlichen »Bewusstseinssprung« nicht mehr vollziehen können.

Aus einer ganz anderen Perspektive lehnt es auch der bekannte neomarxistische, dem Anarchismus nahestehende Politikwissenschaftler John Holloway ab, konkrete positive Überlegungen hinsichtlich einer künftigen Gesellschaft anzustellen. Er beschreibt sehr genau, was am bestehenden System und an den Sozialismusversuchen zu kritisieren ist, was auf jeden Fall falsch wäre, und fragt schließlich: »Wie können wir also die Welt ändern, ohne die Macht zu übernehmen? Ganz wie am Anfang des Buches wissen wir es auch am Ende nicht. … Nichtwissen (ist) Teil des revolutionären Prozesses.« Er endet mit dem berühmten Credo der Zapatisten: »Fragend gehen wir voran.«²

Nicht wenige Gesellschaftsentwürfe, in denen auch die Eigentumsverhältnisse eine Rolle spielen, begnügen sich damit, ihren Charakter mit solchen Vokabeln wie solidarisch, freiheitlich, gemeinschaftlich usw. zu beschreiben, also jene Charakteristika hervorzuheben, die schon beim frühen Marx zu finden sind. Aber schon in der Novemberrevolution hat sich gezeigt, wie unzureichend und vieldeutig solche Kennzeichnungen sein können. In einer politökonomischen Analyse der Vergesellschaftung des Eigentums muss aber schon nach den institutionellen Formen gefragt werden, in denen sich das neue Eigentum darstellt. Die Berliner Initiative »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« hat sich von vornherein nicht auf allgemeine Charakterisierungen beschränkt, sondern einen sehr konkreten Rahmen und eine bestimmte institutionelle und rechtliche Form vorgeschlagen, wie das neue Eigentum aussehen könnte.³ Natürlich lässt sich mit derselben Konkretheit nicht über das gesellschaftliche Eigentum einer künftigen Gesellschaft schreiben. Aber der gegenwärtige Diskurs geht bei aller Verwurzelung in den historischen Kontroversen über die Vorstellungen der Vergangenheit doch deutlich hinaus.

Völlig offen bleibt zumeist die Frage der Vergesellschaftung und des Eigentums in internationalen, ja globalen Dimensionen. Der Rechtsphilosoph Alexander von Pechmann hat dazu ein Traktat vorgelegt, das zwar die Frage nach einer postkapitalistischen Gesellschaft nicht direkt erörtert, diese globale Dimension aber als die »Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert« identifiziert.⁴ Die ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme und Widersprüche seien heute globaler Natur und durch internationale Interdependenzen charakterisiert. Ihre Lösung könne deshalb auch nur auf globaler Ebene erfolgen und erfordere ein »globales Eigentum«, dessen Objekt die gesamte Erde sei. Damit komme die »Weltgesellschaft« als wirklicher Besitzer der Erde ins Spiel, und die Vereinten Nationen müssten daher zur »Person dieses Eigentums« werden. Sie seien es auf der Grundlage internationaler Verträge auf manchen Gebieten schon heute. Die Menschheit stehe somit vor der Aufgabe, einen Weltstaat zu schaffen und die »Vereinten Nationen zum einzig legitimen Forum der Deliberation, der Dezision und der Exekution zu machen, das allein die ökologischen und sozialen Herausforderungen der Menschheit des 21. Jahrhundert erfolgversprechend bearbeiten kann«⁵. Man muss dem Autor nicht in allen Punkten zustimmen, aber trotz der Leerstelle im Hinblick auf die Gesellschaftsform ist es ein Verdienst, diese Frage aufgeworfen zu haben.

Gemeineigentum

Was unter gesellschaftlichem oder Gemeineigentum zu verstehen ist, war immer schon Gegenstand von Diskussionen. Die beiden Begriffe werden von manchen Autoren synonym gebraucht, andere würden Gemeineigentum zum Beispiel in Form von Genossenschaften nicht unter den Begriff des gesellschaftlichen Eigentums subsumieren. Ein Konsens über den Begriffsgebrauch oder gar eine allgemeingültige Definition existieren nicht. Ich neige dazu, »Gemeineigentum« als den übergeordneten Begriff zu betrachten und gesellschaftliches Eigentum als jene Gemeineigentumsform zu bezeichnen, bei der die ganze Gesellschaft zum Eigentümer geworden ist. Die andere Form von Gemeineigentum ist das kollektive oder Gruppeneigentum wie bei Genossenschaften oder Commons.

Wenn beim gesellschaftlichen Eigentum die Gesellschaft als Ganzes (üblicherweise in einer nationalstaatlichen Abgrenzung; es existieren aber auch global commons im Eigentum der Menschheit) zum Eigentümer wird, ist noch nichts Konkretes darüber ausgesagt, wie, in welchen Formen und mittels welcher Institutionen sie die Eigentümerfunktionen wahrnimmt. Wie bei der Analyse des Kapitalismus und des Sozialismus gezeigt, ist gesellschaftliches Eigentum von staatlichem Eigentum zu unterscheiden, aber ohne institutionalisierte Form kommt es nicht aus. Selbst sogenannte gemeinfreie Güter und global common goods, die völlig frei verfügbar sind, unterliegen einer gewissen Kontrolle, um private Aneignung und Missbrauch zu verhindern.⁶

Hier zeigt sich die Notwendigkeit, verschiedene Typen oder Formen von Eigentum auf makroökonomischer Ebene zu unterscheiden. Neben dem Privateigentum⁷, dem Gruppeneigentum sowie gemeinfreien Gütern existiert öffentliches Eigentum in wiederum verschiedenen Formen: Staatseigentum im weitesten Sinne ist in Deutschland Eigentum des Bundes, der Länder (beide gehören zum Staatseigentum im engeren Sinne), aber auch das der Kommunen und ihrer Verbände. Daneben existiert öffentliches Eigentum bei öffentlichen Körperschaften in Selbstverwaltung. Das ist bei den »staatlichen« Sozialversicherungen der Fall, aber auch andere Körperschaften wie Kammern oder Stiftungen gehören dazu. Die Vielfalt dieser Formen erfordert auch eine Vielfalt von Wegen bei einem Übergang zu gesellschaftlichem Eigentum.

Sind alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen Eigentümer aller Produktionsmittel, existiert also gesellschaftliches Eigentum, gibt es keine Klassen mehr, die sich entsprechend ihrem Eigentum an Produktionsmitteln unterscheiden könnten. Die Arbeitskraft hat aufgehört, eine Ware zu sein, und Ausbeutung wäre verschwunden. Es ist aber auch ein gesellschaftliches Eigentum vorstellbar, das neben anderen Eigentumsformen existiert und sich nur auf bestimmte Produktionsmittel oder Gruppen von Produktionsmitteln erstreckt. Die kapitalistische Produktionsweise mit all ihren Wesenszügen und Begleiterscheinungen ist damit nicht abgeschafft, sie ist nur partiell zurückgedrängt. Manche Theoretiker halten eine solche gemischte Wirtschaft für ein Ding der Unmöglichkeit oder betonen zumindest ihre Grenzen. Aber alle Wirtschaftssysteme sind irgendwie gemischte Systeme und haben sich in langwährenden historischen Prozessen, die Wandlungen im jeweiligen Mischungsverhältnis einschlossen, herausgebildet. Die Dominanz einer Form bedeutet nicht, dass alle anderen Formen ausgelöscht sind; nur so ist überhaupt die Möglichkeit der Existenz von Übergangsformen möglich.

Zur Entstehung

Die Entstehung von Gemeinschaftseigentum in den urkommunistischen Gemeinschaften muss hier nicht thematisiert werden. Es war ein naturwüchsiger Prozess im Verlauf der Menschwerdung. Das gilt auch von der Entstehung der Allmende, die von den Dorfgemeinschaften im Zuge des Siedlungsgeschehens geschaffen wurde und, soweit sie im Zuge der Entstehung des Kapitalismus und der sogenannten ursprünglichen Akkumulation nicht beseitigt wurde, teilweise in kommunalem Eigentum fortlebt. Hier interessiert vielmehr das Entstehen von Gemeineigentum in der Gegenwart. Genossenschaftliches Gruppeneigentum entstand in der Vergangenheit fast ausschließlich durch Neugründung, indem sich zweckorientierte Gemeinschaften fanden und dafür einen Betrieb gründeten. Nur in wenigen Fällen war ihre Entstehung mit Enteignungen verbunden. Dies war der Fall bei der Pariser Kommune und der Übergabe verlassener Betriebe an Arbeiterkooperativen oder im Sozialismus des 20. Jahrhunderts in der Landwirtschaft, als vom Staat enteigneter Grund und Boden zwar zunächst in das Eigentum von Einzelbauern übergeben wurde, diese dann aber oft zwangsweise zu Genossenschaften zusammengefasst wurden und ihre Eigentumsrechte zwar nicht formal, aber real fast völlig verloren. Lediglich die wenigen, von Arbeitern und ihren Räten selbstverwalteten Industriebetriebe entstanden auf der Grundlage von Enteignungen. Staatseigentum kann durch Enteignungen entstehen (wie zum Beispiel bei den Eisenbahnen in der Bismarck-Ära); oft entstand und entsteht es jedoch durch Neugründung – wie zum Beispiel im Falle des Unternehmens Volkswagen in den 1930er Jahren oder durch Kauf wie im Falle der Rekommunalisierung einiger Versorgungsbetriebe in jüngster Zeit. Das im Zuge revolutionärer Umbrüche und der Dekolonialisierung geschaffene Staatseigentum entstand durch Enteignungen und Nationalisierungen. Gar nicht so selten werden im Falle von Krisen und Kriegen strategisch wichtige Unternehmen oder Banken verstaatlicht.

Mit diesen Ausführungen sollte klargeworden sein, dass Enteignung und Verstaatlichung und Verstaatlichung und Vergesellschaftung nicht das Gleiche sind. So handelte es sich beim sogenannten »Volkseigentum« in den ehemals sozialistischen Ländern nicht um gesellschaftliches Eigentum, sondern um Staatseigentum in einer besonderen Form. Es war eine formale, nicht eine reale Vergesellschaftung. Enteignungen oder Nationalisierungen finden auch im Kapitalismus statt, und oft ist das neue Eigentum kein staatliches, sondern – wie beim Abriss ganzer Dörfer im Interesse privater Bergbaubetriebe – wiederum privates Eigentum. Die Existenz und der Ausbau staatlichen Eigentums – in Deutschland vor allem in den Formen von Bundes-, Landes- und kommunalem Eigentum sowie bei öffentlich-rechtlichen Trägern wie der Sozialversicherung – sind nichts Ungewöhnliches im Kapitalismus. Zu Beginn der 1980er Jahre verstaatlichte die französische Links-Regierung unter Präsident François Mitterrand eine ganze Reihe großer Industriekonzerne, und die Privatisierungswelle der vergangenen vierzig Jahre zeigt, welche beachtlichen Dimensionen staatliches Eigentum bis dahin angenommen hatte.

Einige Theoretiker verstehen Vergesellschaftung in der Form eines Eigentumsübergangs als eine »Wiederaneignung«.⁸ Kapitalistisches Eigentum beruhe auf Aneignungs- und Enteignungsprozessen, die bis in die Gegenwart anhalten. Mit der Vergesellschaftung eigne sich die Gesellschaft wieder an, was durch gesellschaftliche Arbeit geschaffen worden sei und wovon sie faktisch enteignet wurde. Auch Horst Müller gründet sein Programm einer »emanzipierten Sozialstaatswirtschaft«⁹ darauf, dass privates Eigentum »Raub am Gemeinwesen«, ein »unverdienter Einbehalt« sei, der durch eine Fiskalrevolution zu überwinden sei. Silke van Dyk spricht vom »Privateigentum als Schuld an der Gesellschaft«.¹⁰ Sie alle haben Marx und dessen Aneignungstheorie sowie seine These von der »Negation der Negation«, der Wiederherstellung des individuellen Eigentums auf der Grundlage des Gemeineigentums, auf ihrer Seite.

Ganz prinzipiell werden drei mögliche Wege zur Schaffung von Gemeineigentum diskutiert:

- Demokratisierung des Eigentums: Sukzessive Transformation der Elemente des Bündels privater Eigentumsrechte zugunsten gesellschaftlicher Verfügungs- und Aneignungsmacht

- Vergesellschaftung »von unten«: Die Produzenten beginnen mit Vergesellschaftung »ihrer« Betriebe oder bauen eigene Betriebe außerhalb der herrschenden Strukturen auf

- Vergesellschaftung »von oben«: Priorität der Schaffung gesamtgesellschaftlichen Eigentums durch die Arbeiterbewegung bzw. antikapitalistische Kräfte

Wie in den folgenden Kapiteln gezeigt wird, sind diese Wege nicht so starr voneinander zu trennen, wie das in dieser Darstellung den Anschein hat. Oft gehen sie ineinander über und überkreuzen sich. Hier sei auch auf die Ausführungen zur Geschichte des Begriffs der Vergesellschaftung (1. Kapitel) verwiesen, weil sich dieses unterschiedliche Herangehen an die Überwindung oder Transformation kapitalistischen Eigentums schon im 19. Jahrhundert zeigte.

Alle Konzeptionen gehen von einem Prozesscharakter der Vergesellschaftung aus, also von einem Vorgang, der mehrere Schritte oder Phasen beinhaltet und mehr oder weniger Zeit erfordert. Bei sozialreformistischen Konzeptionen, die – wie zum Beispiel bei Eduard Bernstein – einen evolutionären Weg zu einer neuen Gesellschaft betonen, versteht sich das von selbst. Aber auch das revolutionäre, kommunistische Konzept beinhaltet Übergangsperioden, Stufen und Phasen der Entstehung des vollentwickelten Kommunismus. Die Vergesellschaftung beginne faktisch schon im Kapitalismus und führe in Form der Aktiengesellschaften und des Staatseigentums bis dicht an den Sozialismus heran. Sabine Nuss unterscheidet eine »kleine«, gegenwärtig vollziehbare, von einer »großen Wiederaneignung«. Nach dem Keimformen-Konzept entstehen Commons in den Freiräumen und Nischen des heutigen Kapitalismus, verdrängen das Kapitaleigentum und werden dominant, bis es zu einem »Bruch oder Kippunkt« kommt.¹¹

In zeitgenössischen Theorien des »demokratischen Sozialismus« wird von einer »doppelten Transformation« (Dieter Klein) ausgegangen, die Reformen und Revolutionen in einen dialektischen Zusammenhang bringt. Insofern sind die meisten heutigen Vergesellschaftungskonzeptionen nicht nur Utopien, sondern betonen die Möglichkeit erster Schritte und Einstiegsprojekte schon heute.

Voll- oder Teilsozialisierung?

Für die Klassiker des Marxismus war klar, dass es bei der Vergesellschaftung ums Ganze, um die gesamte Gesellschaft ging. Aber schon der Diskurs nach dem Ersten Weltkrieg beschränkte sich nicht auf diese Systemfrage. Ausführlich wurde über die Möglichkeit der Sozialisierung (zumeist freilich als Verstaatlichung gedacht) einzelner Unternehmen in bestimmten Wirtschaftszweigen diskutiert, ohne einen generellen Systemwechsel ins Auge zu fassen. Der Artikel 156 der Weimarer Verfassung über Vergesellschaftung war genau auf diese Möglichkeit gerichtet. Der Mehrheit ihrer Verfasser ging es genau nicht um einen Systemwechsel.

Hinsichtlich der Reichweite, der Frage, ob Teile oder die Gesamtheit der Produktionsmittel vergesellschaftet werden könnten, können drei Typen der Vergesellschaftung unterschieden
werden.

(1) Eine Vergesellschaftung, die auf jene maßgebliche Gesamtheit der Produktionsmittel gerichtet ist, die für den Charakter der Produktionsweise entscheidend ist. Sie wird manchmal als Vollsozialisierung bezeichnet. Damit wird also die Umwälzung des Charakters der Produktionsweise angestrebt. Es geht dabei nicht um ausschließlich alle Produktionsmittel – Kleinunternehmen, handwerkliche Betriebe und Kooperativen würden erhalten werden –, aber es geht um die maßgeblichen Bereiche.

(2) Die Vergesellschaftung einzelner Unternehmen oder Bereiche der Wirtschaft, gelegentlich auch Teilsozialisierung genannt. Kriterien dafür, welche Bereiche und Unternehmen diese betreffen könnte, werden nicht nur ökonomietheoretisch bestimmt, sie sind auch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und Abwägungen. Gelegentlich wird eine solche Teilsozialisierung als ein erster Schritt in Richtung Vollsozialisierung verstanden. Im Mittelpunkt der Diskussion standen immer wieder Monopolunternehmen, Großkonzerne, Banken und die Grundstoffindustrie. Begriffe wie Infrastruktursozialismus¹², Plattformsozialismus¹³ oder Caresozialismus¹⁴ zeigen schon in der Wortwahl an, um welche Bereiche es nach Meinung der jeweiligen Theoretiker bei der Vergesellschaftung vordringlich gehen sollte. In den letzten Jahren wurde zum Beispiel die Frage der Rekommunalisierung früher privatisierter Betriebe im Bereich von Energie, Verkehr, Wasserversorgung und ähnlichem nicht nur diskutiert, sondern teilweise verwirklicht. Die Gründe dafür sind oft das Erreichen von Versorgungssicherheit zu vertretbaren Preisen, also sozialökonomische Erwägungen. Auch wenn in diesen Fällen das Ergebnis keine Vergesellschaftung, sondern kommunales Eigentum ist, könnte dies unter Umständen Ausgangspunkt einer Variante der Vergesellschaftung sein.

(3) Das Eigentum ist ein Komplex von sozialen Verhältnissen, mit verschiedenen Seiten der Verfügung und Aneignung. In der ökonomischen Theorie wird von einem »Bündel« an Eigentumsrechten gesprochen. Es könnte durchaus als ein Schritt in Richtung Vergesellschaftung verstanden werden, wenn nicht sofort alle dieser Rechte an die Gesellschaft fielen, sondern zunächst nur einzelne davon. Schon im Prozess der kapitalistischen Vergesellschaftung trennen sich nicht nur Kapitalfunktion und Kapitaleigentum, es werden den Privateigentümern der Produktionsmittel einige dieser Rechte teilweise entzogen. Welche Rechte eingeschränkt oder ganz genommen werden, wird meist von Fall zu Fall diskutiert, immer aber entsteht eine Art »Einfallstor«, durch das Interessen der Allgemeinheit geltend gemacht werden können. So müssen Unternehmen gewisse Vorgaben für die Produktion erfüllen: Einordnung in regionale oder nationale Struktur- und Entwicklungspläne, Auflagen im Gesundheits- und Umweltschutz sowie bei der technisch-organisatorischen Gestaltung der Produktion. Der Ausbau von Mitbestimmungsrechten der Belegschaften, von Verbrauchern, Bürgervertretungen und anderen demokratischen Institutionen wird unter dem Begriff der Wirtschaftsdemokratie zusammengefasst.

Anmerkungen:

1 Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Frankfurt am Main 1999, S. 791

2 John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Münster 2002, S. 246 f.

3 Deutsche Wohnen & Co. enteignen: Wie Vergesellschaftung gelingt. Zum Stand der Debatte. Berlin 2022, insb. S. 175 und 292

4 Alexander von Pechmann: Die Eigentumsfrage im 21. Jahrhundert. Bielefeld 2021

5 Ebd., S. 217

6 Gemeinfreie Güter, wie zum Beispiel Teile des Wissens, bestimmte Kulturgüter und Teile der natürlichen Umwelt, gehören formal niemandem, können also faktisch von allen unbeschränkt genutzt werden, sofern andere dabei nicht beeinträchtigt werden. Die Gemeinfreiheit wird in der Regel durch den Staat gewährleistet. Vgl. dazu Jürgen Leibiger: Eigentum im 21. Jahrhundert. Metamorphosen, Transformationen, Revolutionen. Münster 2022, S. 217–220

7 Zum Privateigentum muss auch das Gesellschaftseigentum in Form von Kapitalgesellschaften gezählt werden, weil die Gesellschafter, indem sie Eigentumsanteile an diesen Gesellschaften halten, als Privateigentümer handeln. Sie können Stimmrechte entsprechend ihren Anteilen als Privatpersonen wahrnehmen oder wahrnehmen lassen, diese Anteile aber auch verkaufen, verleihen oder beleihen. Diese Möglichkeiten sind beim Gemeineigentum ausgeschlossen.

8 Sabine Nuss: Keine Enteignung ist auch keine Lösung. Berlin 2019; dies.: Wessen Freiheit, welche Gleichheit? Berlin 2024

9 Horst Müller: Das Konzept Praxis im 21. Jahrhundert. Norderstedt 2021, S. 551

10 Silke van Dyk: Das Kollektive im Privaten. Privateigentum als Schuld an der Gesellschaft und eine neue Politik des Öffentlichen. In: Silke van Dyk/Tilman Reitz/Hartmut Rosa (Hg.): Nach dem Privateigentum? Frankfurt am Main 2024, S. 131 ff.

11 Simon Sutterlütti und Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben. Hamburg 2018, S. 87

12 Sighard Neckel: Infrastruktursozialismus. Die Bedeutung der Fundamentalökonomie. In: Neckel (Hrsg.): Kapitalismus und Nachhaltigkeit. Frankfurt a. M. 2022, S. 161 ff.

13 James Muldoon: Platform Socialism. London 2022

14 Raul Zelik: Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und einen grünen Sozialismus. Berlin 2020

Jürgen Leibiger: Vergesellschaftung. Papyrossa-Verlag, Köln 2025, 140 Seiten, 12 Euro

Jürgen Leibiger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 10. Mai 2022 über die Zusammensetzung der deutschen Bourgeoisie: »Herrschaft der 300.000«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (26. März 2025 um 13:49 Uhr)
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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (25. März 2025 um 17:21 Uhr)
    Jürgen Leibiger macht zu Recht darauf aufmerksam, dass wir zu wenig über unsere Zukunft wissen. Wir wissen um die historische Notwendigkeit der (Wieder-)Vergesellschaftung der Produktionsmittel, über ihre künftigen Formen wissen wir fast nichts. Er steht sich allerdings selbst im Wege, wenn er die Erfahrungen der sozialistischen Länder im 20. Jahrhundert einfach mit dem Argument abtut, die Vergesellschaftung sei lediglich eine formale, nicht aber eine reale gewesen. Das hindert ihn daran, genau innerhalb dieser praktisch gemachten Erfahrungen nach den Keimformen des Neuen zu suchen und es von dem zu trennen, was sich ganz augenscheinlich nicht bewährt hat. Die reale Vergesellschaftung hat einen langen Weg vor sich. Es tut beim Nachdenken über ihre Wege bestimmt nicht gut, auf schon gemachte Erfahrungen so rigoros zu verzichten.

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