Als der Horror begann
Von Thomas Berger
Der 17. April 1975 war ein Datum, an dem Kambodscha in den Abgrund gerissen wurde. »Einige Zeit nach neun Uhr morgens wurde klar, dass das Oberkommando der Republikanischen Streitkräfte bereit war, auf das Angebot einer bedingungslosen Kapitulation einzugehen. Einige Soldaten kamen zu Buns Haus, um seine Mutter nach einem Stück weißen Stoffes zu fragen, das sie an ihrem Jeep befestigen konnten. An ihrem Lachen war erkennbar, dass selbst die Militärpolizei froh war, dass der Krieg vorbei war. Es war fast eine karnevalistische Atmosphäre. Die Erleichterung war zu spüren, als die ersten Truppen der Roten Khmer in die zentralen Teile der Stadt einmarschierten, Menschenmassen begrüßten sie mit Applaus.« So heißt es in den Erinnerungen von Bunheang Ung im gemeinsam mit Martin Stuart-Fox verfassten Buch »The Murderous Revolution« über den Beginn der Katastrophe, die vor 50 Jahren über Kambodscha hereinbrach und die drei Jahre, acht Monate und 20 Tage andauerte.
Wie sehr sich die zunächst Jubelnden in ihren Erwartungen täuschten, sollten sie alsbald erfahren. Selbst jene, die schon beim siegreichen Einmarsch der neuen Herrscher in der Hauptstadt skeptisch waren, ahnten nicht, welcher Horror die südostasiatische Nation erfassen sollte. Noch immer ist die genaue Opferzahl unklar. Die meisten seriösen Schätzungen schwanken zwischen 1,7 und 2,3 Millionen Toten. Rund ein Viertel der damaligen Bevölkerung überlebte den Terror einer kleinen Clique gegen das eigene Volk nicht. Wer nicht an Folterungen starb oder exekutiert wurde, ging an Zwangsarbeit, Unterernährung oder Krankheiten zugrunde.
Besonders viele Angehörige der nationalen Minderheiten und der urbanen Bevölkerung starben. Phnom Penh war alsbald nach der Machtübernahme leergefegt, die Gefangenen wurden bei Mehrtagesmärschen auf Landkommunen verteilt, wo sie unter sklavenähnlichen Zuständen beim Reisanbau helfen mussten. Saloth Sar, der als Pol Pot und »Bruder Nummer eins« in die Geschichtsbücher einging, und seine Getreuen setzten auf einen Agrarstaat, der an die frühe Blütezeit des Großreiches von Angkor Wat im zehnten bis zwölften Jahrhundert anknüpfen sollte. Geld wurde ebenso abgeschafft wie fast alle staatlichen Strukturen. Über dem geknechteten Gemeinwesen stand die »Angka« (wörtlich: Organisation), in der nur etwa ein Dutzend Personen Entscheidungsgewalt hatten. Aufbegehren war fortan ohnehin keine Option. Aber selbst bei jenen, die sich als brave Befehlsempfänger ganz der Bewegung verschrieben hatten, genügte bereits der leiseste Verdacht oder eine Denunziation, um als »Verräter« ebenfalls ihr Leben zu verlieren.
Nicht nur in Kambodscha selbst sind viele Fragen bis heute unbeantwortet. Noch schwieriger ist es für Auswärtige zu begreifen, wie es zum Terrorregime der Roten Khmer kommen konnte. Das Land lag im Windschatten der Kämpfe um Vietnam, wo eine starke, kommunistisch geführte Bewegung erst die französischen Kolonialherren, dann die riesige US-Militärmaschinerie an der Seite ihres südvietnamesischen Marionettenregimes besiegen konnte. Staatsoberhaupt Prinz Norodom Sihanouk steuerte Kambodscha aber auf Neutralitätskurs und versuchte, linkssozialdemokratische Reformen umzusetzen. Das brachte ihn in Konflikt mit reaktionären Kräften. Als Sihanouk zu Arztterminen im Ausland weilte, putschte am 18. März 1970 General Lon Nol. Der frühere Armeechef und Premier war die nächsten fünf Jahre neuer Machthaber von Washingtons Gnaden.
Schon 1967 hatten die Roten Khmer zu den Waffen gegriffen und einen Guerillakrieg gegen die Staatsmacht begonnen. Immer mehr ländliche Gebiete fielen in ihre Hände, bis der Fall von Phnom Penh vor genau 50 Jahren den Machtwechsel landesweit besiegelte. Der US-Botschafter und viele andere hatten die Hauptstadt schon Tage zuvor verlassen, bereits seit dem 13. April war der Flughafen geschlossen und in der Hand der Guerrilla.
»Bruder Nummer zwei« Nuon Chea, Khieu Samphan, der das Präsidentenamt 1976 übernahm, als der nach dem Sieg der »Revolution« aus dem chinesischen Exil heimgekehrte Sihanouk den neuen Herren nicht länger als Feigenblatt dienen wollte, und Außenminister Ieng Sary, das vielleicht bekannteste Gesicht des international isolierten Regimes, hatten zu den ersten Jugendlichen des Landes gehört, die an französischen Universitäten studiert hatten und dort mit marxistischen Ideen in Kontakt gekommen waren. Die Clique usurpierte die kleine Kommunistische Partei, die von innen zerstört und zum Werkzeug der federführend von Khieu Samphan und Nuon Chea erarbeiteten Staatsagenda wurde.
Allein im berüchtigten Foltergefängnis S-21, eingerichtet in einer früheren Schule im Stadtzentrum Phnom Penhs (heute Toul-Sleng-Museum), überlebten nur 23 von mehr als 14.000 Insassen. Zusammen mit der Massenhinrichtungsstätte Choeung Ek ist es die prominenteste Örtlichkeit, die heute an die Verbrechen der Roten Khmer erinnert. Doch es gibt landesweit viele weitere »Killing Fields« und Massengräber. 1977 gerieten auch führende Kader der an Vietnam grenzenden Ost- und Südostzonen unter Verdacht, mit dem nun offiziell als Feind geltenden Nachbarn zu paktieren. S-21 füllte sich mit Leuten aus den eigenen Reihen, teils Kämpfer der ersten Stunde. Dissidenten gelang die Flucht ins Nachbarland, und nachdem schon im Herbst 1978 im Osten ein Aufstand ausgebrochen war, leitete Vietnam zu Weihnachten eine Invasion ein. So gelang schließlich in den ersten Januartagen 1979 die Befreiung des geschundenen Landes.
Heng Samrin, Hun Sen und andere Exkader aus dem Osten wurden mit vietnamesischer Hilfe Führer des neuen Staates, während letzte Überreste der Roten Khmer aus dem Dschungel noch bis in die 1990er hinein einen Bürgerkrieg führten, der bis heute aufgrund nicht entschärfter Landminen späte Opfer fordert. Pol Pot wurde 1998 hingerichtet, nachdem ihm die eigenen Kameraden unter Exmilitärchef Ta Mok (Beiname »der Schlächter«) den Prozess gemacht und seinen Platz eingenommen hatten.
Ringen um Gerechtigkeit
Rund zweieinhalb Jahre ist es her, seit das kambodschanische Rote-Khmer-Sondertribunal (ECCC) mit seinem letzten Urteil de facto die Arbeit eingestellt hat. Das Berufungsverfahren von Exstaatschef Khieu Samphan unterstrich am 22. September 2022 noch einmal den vorangegangenen Schuldspruch vom August 2014 gegen die beiden ranghöchsten Vertreter des Schreckensregimes, denen noch der Prozess gemacht werden konnte. Er und »Bruder Nummer zwei« Nuon Chea (2019 gestorben), jeweils zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, zeigten im Gerichtssaal keinerlei Spur von Reue; anders als Kaing Guk Eav alias »Genosse Duch« (2020 gestorben), ehemals Leiter des Foltergefängnisses S-21, dessen Verbrechen in mehr als 100.000 eigenen Dokumenten aktenkundig sind und der bereits in einem ersten Verfahren 2010 für schuldig erklärt worden war. Lediglich Khieu Samphan und Nuon Chea, bei Urteilsverkündung 83 bzw. 88, hielten das gesamte Verfahren durch. Exaußenminister Ieng Sary erlebte zwar noch die Anklageerhebung, nicht aber mehr seiner Verurteilung. Er starb 2013. Seine Frau Ieng Thirith, Sozialministerin der Roten Khmer, war als verhandlungsunfähig erklärt worden.
Nachdem die neue Führung die abgesetzten Pol Pot und Ieng Sary schon 1979 in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte, war das Sondertribunal der Versuch, symbolisch für nachträgliche Gerechtigkeit auf juristischer Ebene zu sorgen. Für Hunderte Überlebende war es trotz aller schmerzhaften Erinnerungen eine Genugtuung, als Zeugen umfassend auszusagen. Zumindest konnte so das kollektive Trauma eines Volkes Raum finden, in dem scharfe Trennlinien zwischen Opfern und Tätern nicht selten verwischen. Dennoch: 16 Jahre lang wurde immer wieder um die enormen Kosten des ECCC gestritten. Auch in den Doppelstrukturen des hybriden Gerichtes gab es Machtkämpfe zwischen einheimischen und internationalen Richtern, Anwälten und Anklägern. Expremier Hun Sen übte Druck aus und unterband schließlich Verfahren gegen weitere ehemalige Kader der Roten Khmer unterband. (tb)
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vom 16.04.2025