Zwischen Leben und Tod
Von Dieter Reinisch
Ihr Name ist Joy Ezekiel, sie ist 28 Jahre alt und kommt aus Nigeria: »Ich verließ Nigeria mit der Hoffnung und dem Versprechen einer Frau, die Pastorin in meiner Gemeinde war.« Sie habe ihr ein gutes Leben versprochen: »Ich vertraute ihr«, sagt Joy in die Kamera. Sie sitzt allein in einem Raum, hinter ihr eine Bücherwand. Die Pastorin hätte sie gebeten, nach Europa zu gehen, um ihre alleinlebende Mutter zu pflegen: »Sie versprach mir, dass es nicht so sein würde wie sonst. Geschichten von Mädchen, die in Italien und Europa ankommen und auf der Straße landen. Und sich prostituieren müssen, um ihre Schulden zu begleichen.« Doch was in den folgenden Tagen passierte, war der Beginn einer Tortur, die an Grauen keine Grenzen kennt. »Sie versprach mir eine gute Reise«, es kam anders, und Joy ging es für Jahre viel schlechter als »den Mädchen in Italien und Europa«.
Die Nigerianerin ist eine der wenigen, die von einer Hilfsorganisation in Libyen gerettet werden konnte und vergangenes Jahr ihre Geschichte für die Dokumentation des Observatory for Gender in Crisis, »Transborder Rape« (Grenzüberschreitende Vergewaltigung), erzählte. Die Filmemacherin Souad Wheidi war Anfang April zu Besuch in Wien. Bislang wurde der Film lediglich im kleinen Rahmen verschiedener NGOs gezeigt, junge Welt erhielt die ungekürzten Transkripte der Gespräche mit den Betroffenen in geheimen Lagern irgendwo in der Wüste im südlichen Libyen. Die Berichte der Frauen sind erschütternd.
Joy hatte sich mit einer Gruppe junger Frauen Menschenhändlern angeschlossen, denn eine andere Möglichkeit, Nigeria Richtung Europa zu verlassen, gäbe es nicht: »Sobald man drin ist, ist man drin. Man kann nicht mehr raus, weil man ihre Geheimnisse kennt.« Zu Beginn sei »alles so einfach« gewesen: »Alle freuten sich, dass wir abreisten, sie sangen und tanzten.« Doch ab Mitternacht, »als wir in Kano ankamen, änderte sich alles«. Kano ist die viertgrößte Stadt Nigerias, nur 50 Kilometer von der Grenze zu Niger entfernt. Im Nachbarland angekommen, wurden sie überfallen, ihr Hab und Gut weggenommen: »Wir konnten nichts mitnehmen, so nahmen sie uns alle mit. Wir konnten nicht einmal fragen, wohin wir gingen. So begann die Reise zwischen Leben und Tod«, erinnert sich Joy in dem Film.
Sie erreichten ein Gebiet namens Ebos in Niger. Am nächsten Tag wurden sie in einen Lastwagen gepfercht: Die ganze Gruppe musste eng zusammenrücken – »manchmal legten sie Tomaten, Brotlaibe und andere Dinge auf uns, damit uns niemand sah«. Zwei Tage verbrachten sie ununterbrochen so versteckt, »bis wir Agadez erreichten«. Von dort ging es in die Wüste. Doch der Weg führte nicht weiter nach Europa, sondern Richtung Nordosten durch die Sahara, wo sie anderen Menschenhändlern übergeben wurden. Sie wurden in ein Lager gebracht, das von paramilitärischen Milizen kontrolliert wurde, die den Süden des kriegszerstörten Landes beherrschen.
Die Frauen berichten alle von denselben Erfahrungen: Sie wurden geschlagen, gefoltert, vergewaltigt von Soldaten, die das Grenzgebiet kontrollieren, und mit Abtreibungspillen vollgestopft. »Sie vergewaltigten mich vor den Augen meines Mannes, dann misshandelten sie sexuell meinen Sohn, schlugen mich und als sie fertig waren, gossen sie Benzin über mich und zündeten mich an«, erzählt eine andere, die ein Baby auf dem Arm hält: »Ich weiß nicht, ob es von meinem Mann oder von den Vergewaltigungen ist.« Sie konnte überleben, andere nicht.
Wenn die Frauen von den Soldaten nicht mehr gewollt werden, werden sie oft in der Wüste ausgesetzt. Dort wurde Joy von einer Hilfsorganisation gefunden. Später erfuhr sie, dass sie vier Jahre in der Haft eines lokalen Ablegers des sogenannten Islamischen Staats war: »Sie brachten uns in einen Raum, zehn Mädchen, eine erst 13, und sieben Männer.« Die 13jährige hieß Grace, sie war noch Jungfrau, erzählt Joy: »Sie vergewaltigten uns die ganze Nacht, einer nach dem anderen. Sie taten alles mit uns.« Am Morgen versammelten sich die Männer in einer Ecke des Raums zum Gebet: »Danach standen sie auf und vergewaltigten uns weiter.«
Als die Männer endlich gingen, sagte Grace zu Joy: »Bitte bete für mich.« Danach ging die 13jährige ins Badezimmer und nahm sich das Leben. Joy sitzt mit Tränen vor der Kamera. Vor jener Nacht hätte sie einfach nur sterben wollen, doch in dem Moment fasste sie den Entschluss weiterzuleben: »Ich muss leben, um die Geschichte von Grace zu erzählen und um den Tag zu erleben, an dem wir diese Sklaverei und Vergewaltigungen beenden.«
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