Machtfaktor Grün geht bis an die Schmerzgrenze
In mehreren Ländern stiegen die Grünen am Wochenende in den großen Wahlkampf ein. So zogen Sachsen-Anhalts Bündnisgrüne bis zum Sonntag in Stendal auf ihrem Parteitag eine demonstrativ positive Bilanz von drei Jahren Regierungsbeteiligung in der Koalition mit der SPD. Vize- Regierungschefin und Umweltministerin Heidrun Heidecke bezeichnete die rot-grüne Koalition als politisch zuverlässig und stabil, mahnte die Sozialdemokraten jedoch, nicht zu vergessen, daß die Grünen ein »Machtfaktor« seien, »der die SPD und Ministerpräsident Reinhard Höppner in diese Landesregierung getragen hat.«
Zugleich machte sie deutlich, daß die Koalition bei der Diskussion um die Nutzung der Colbitz-Letzlinger Heide an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gegangen ist. Der Umstand, daß die SPD für eine teilweise militärische Nutzung plädiert und damit den grünen Partner überstimmt hatte, müsse eine einmalige Ausnahmesituation bleiben. Die Grünen - die nicht von ihrem Vetorecht Gebrauch gemacht hatten, um die Koalition nicht zu gefährden - seien an ihre politische Schmerzgrenze gegangen.
Schmerzgrenzen sprach auch Bundesvorstandssprecher Jürgen Trittin an. Er forderte am Sonnabend in Stendal vorgezogene Bundestagswahlen. Die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP habe sich in »unvereinbare Beschlüsse eingemauert.« Bundeskanzler Helmut Kohl sei zum »Risiko, Hindernis und gar zur Blockade« für die europäische Einigung geworden. Trittin warf der Bundesregierung vor, einem »fundamental verbohrten Neoliberalismus« zu frönen.
Mit einem Eklat begann die Landesdelegiertenkonferenz der Berliner Bündnisgrünen am Freitag. Mit 54 gegen 51 Stimmen weigerten sich die Delegierten, das vom Vorstand vorgelegte ehrgeizige »Eckpunkte-Programm« zu verabschieden, mit dem die Partei sich als Leiterin einer rot-grünen Koalitionsregierung empfehlen wollte. Im Herbst soll eine überarbeitete Version des alternativen Regierungsentwurfs vorliegen.
Am Sonnabend stand die Wahl zweier neuer Sprecher des Landesvorstandes auf dem Programm. Die bisherigen Vorstandssprecher Angelika Albrecht und Christan Ströbele hatten nicht wieder kandidiert. Ohne Gegenkandidatur wurde der Treptower Andreas Schulze, der 1989 die Grüne Partei der DDR mitbegründet hatte, zum Sprecher gewählt. Mit einem blauen Auge kam die ehemalige Europa-Abgeordnete Birgit Daiber davon. Im ersten Wahlgang bekam die gebürtige Württembergerin durch Enthaltungen lediglich eine relative Mehrheit der Stimmen. Im zweiten Wahlgang war sie dann wegen der Delegierten erfolgreich, die aufgrund der Demonstration der Republikaner am Brandenburger Tor verspätet eintrafen.
In Bonn denken die Partei-Realos derweil bereits über die Postenverteilung bei einem Machtwechsel nach. Einem Bericht des Spiegel zufolge habe Joseph Fischer seine Mitstreiter gemahnt, sich rechtzeitig auf eine Regierungsbeteiligung vorzubereiten. Im einem ebenfalls heute veröffentlichten Interview des Magazins Focus ermutigt Karsten Voigt, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Fischer dazu, »für seine Position zu kämpfen.« Voigt ruft die Grünen zu einem Kurswechsel in der Sicherheitspolitik auf. Ein rot-grünes Regierungsbündnis müsse »europa- und bündnisfähig« sein.
AP/ddpADN/jW
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Mehr aus: Inland
-
Die Industriewalze ist von der Politik nicht aufzuhalten
vom 16.06.1997