Der Wendepunkt in der Geschichte Rußlands
Revolte oder Revolution? Das fragen sich die europäischen Journalisten und Reporter, die der ganzen Welt über die Petersburger Ereignisse berichten und sie einzuschätzen versuchen. Sind diese Zehntausende Proletarier, gegen die die Truppen des Zaren siegreich vorgegangen sind, Rebellen oder Insurgenten? Und die ausländischen Zeitungen, die am ehesten die Möglichkeit haben, die Ereignisse »als Außenstehende«, mit der Unvoreingenommenheit der Chronisten, zu betrachten, finden keine rechte Antwort auf diese Frage. Sie wechseln fortwährend von der einen Terminologie zur anderen. Und das ist nicht verwunderlich. Nicht umsonst sagt man, eine Revolution sei eine gelungene Revolte und eine Revolte eine mißlungene Revolution. Wer den Beginn großer und grandioser Ereignisse miterlebt, wer nur sehr unvollständig, ungenau, aus dritter Hand einiges über die Vorgänge zu erfahren vermag, der kann sich selbstverständlich zunächst nicht zu einer bestimmten Stellungnahme entschließen. Die bürgerlichen Zeitungen, die nach wie vor von Revolte, Aufruhr und Unruhen reden, können indessen nicht umhin, deren nationale, ja sogar internationale Bedeutung anzuerkennen. Aber diese Bedeutung ist es ja eben, die den Ereignissen den Charakter einer Revolution verleiht. Und wer von den letzten Tagen des Aufruhrs schreibt, beginnt unwillkürlich von den ersten Tagen der Revolution zu sprechen. Der Wendepunkt in der Geschichte Rußlands ist da. Das leugnet selbst der eingefleischteste europäische Konservative nicht, der für die gewaltige, keiner Kontrolle unterworfene Macht der allrussischen Selbstherrschaft schwärmt und von ihr begeistert ist. Von einem Frieden zwischen Selbstherrschaft und Volk kann keine Rede sein. Von der Revolution sprechen nicht nur irgendwelche Tollköpfe, nicht nur »Nihilisten«, wofür Europa die russischen Revolutionäre immer noch hält, sondern jedermann, der halbwegs fähig ist, für die Weltpolitik Interesse aufzubringen.
Die russische Arbeiterbewegung hat innerhalb weniger Tage eine höhere Stufe erklommen. Vor unseren Augen wird sie zu einem Aufstand des ganzen Volkes. Natürlich ist es uns hier, in Genf, aus der verwünschten Ferne, unvergleichlich schwerer, mit den Ereignissen Schritt zu halten. Aber solange wir noch dazu verurteilt sind, in dieser verwünschten Ferne zu schmachten, müssen wir bemüht sein, mit ihnen Schritt zu halten, die Ergebnisse festzustellen, Schlüsse zu ziehen, aus der Erfahrung der heutigen Geschichte Lehren zu schöpfen, die morgen von Nutzen sein werden, an anderer Stelle, wo heute noch »das Volk stumm bleibt« und wo über kurz oder lang in dieser oder jener Form die Flammen der Revolution auflodern werden. Wir müssen das tun, was ständig die Pflicht des Publizisten ist, die Geschichte der Gegenwart schreiben und uns bemühen, sie so zu schreiben, daß diese unsere Geschichte den an der Bewegung unmittelbar Beteiligten und den heldenhaften Proletariern dort, am Ort der Aktionen, die größtmögliche Hilfe bringt, so zu schreiben, daß wir dazu beitragen, die Bewegung zu verbreitern, dazu beitragen, bewußt die Mittel, Wege und Kampfmethoden auszuwählen, die geeignet sind, mit geringstem Kraftaufwand die größten und dauerhaftesten Resultate zu erzielen.
In der Geschichte der Revolutionen treten jahrzehnte- und jahrhundertelang heranreifende Widersprüche zutage. Das Leben wird ungewöhnlich reich. Auf die politische Bühne tritt als aktiver Kämpfer die Masse, die immer im Schatten steht und daher von den oberflächlichen Beobachtern oft ignoriert oder gar verachtet wird. Diese Masse lernt aus der Praxis, indem sie vor aller Augen Probeschritte macht, den Weg abtastet, Aufgaben stellt und sich selbst sowie die Theorien aller ihrer Ideologen prüft. Diese Masse macht heroische Anstrengungen, um sich zur Höhe der ihr von der Geschichte auferlegten gigantischen Aufgaben von Weltbedeutung zu erheben, und wie groß auch einzelne Niederlagen sein mögen, wie sehr die Ströme von Blut und die Tausende von Opfern uns auch erschüttern mögen – nichts wird jemals seiner Bedeutung nach verglichen werden können mit dieser unmittelbaren Erziehung der Massen und der Klassen im Verlauf des unmittelbaren revolutionären Kampfes. Die Geschichte dieses Kampfes muß nach Tagen gemessen werden. Und nicht umsonst führen einige ausländische Zeitungen bereits ein »Tagebuch der russischen Revolution«. Auch wir wollen solch ein Tagebuch führen.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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