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Aus: X. rosa-luxemburg-konferenz, Beilage der jW vom 26.01.2005

Wirkliche Demokratie

Angela Davis sprach über die Situation der Welt, die Hegemonie des US-Imperialismus, den industriellen Gefängniskomplex und über globale Bewegungen gegen Krieg und Kapital

Es ist ein phantastisches Gefühl, hier zu sein unter so vielen alten und neuen Freundinnen und Freunden! Ich danke der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde für ihre wichtige Arbeit und daß sie mich heute mit dem Menschenrechtspreis 2004 auszeichnet. Ich danke Wolfgang Richter, dem Bundesvorsitzenden der GBM, für die Überreichung des Menschenrechtspreises – ich fühle mich sehr geehrt. Gleichzeitig danke ich der jungen Welt für die Einladung zur Teilnahme an dieser X. Rosa- Luxemburg-Konferenz.

Ich bin tief bewegt, wenn ich hier die vielen Menschen sehe und die Transparente im Saal: »Viva la solidaridad« (Cuba sí), »Lust auf Veränderung – junge Welt«, »Free the Cuban-5« und »Stop US-terrorism!«.

Diese Konferenz findet im Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht statt, die von den Feinden der Demokratie und des Sozialismus ermordet wurden. Wenn Rosa Luxemburg heute noch leben würde, dann wäre sie mit uns einer Meinung, daß am Anfang des 21. Jahrhunderts genau die Kräfte, die vorgeben, die Welt sicherer machen zu wollen, in Wahrheit Krieg, Folter, Rassismus und kapitalistische Ausbeutung über den ganzen Erdball ausbreiten. Diese Kräfte verteidigen heute nicht Demokratie und Freiheit, sondern sie sind deren größte Bedrohung. Die Bush-Regierung stellt ihre Politik als Projekt zur Verteidigung gegen den internationalen Terrorismus dar, aber ihre militärische Offensive erzeugt einen Staatsterrorismus, hinter dem die vorgeblichen Ziele verblassen.

Ich bin mir sicher, daß Rosa Luxemburg, wenn sie heute noch lebte, auf unserer Seite stehen würde. Sie wäre eine von uns, die wir versuchen, bestehende Bewegungen mit neuem Leben zu füllen und neue Bewegungen zu schaffen und die bereits existierende internationale Solidarität lebendig zu halten und neue internationale Solidarität zu schaffen. Rosa Luxemburg wäre heute auf der Seite aller, die überzeugt sind, daß wahre Demokratie nicht unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus erreichbar ist. Sie wäre auf der Seite derjenigen unter uns, die sich weigern, ihre Visionen einer demokratischen und sozialistischen Zukunft aufzugeben.

Ich danke noch einmal ausdrücklich für die Einladung zu dieser Konferenz.


Selbstzerstörung

Im Augenblick erscheint die Situation der Welt finster: Das Leiden und die Verzweiflung haben unbeschreibliche Ausmaße angenommen. Die verheerenden Auswirkungen der weltweiten kapitalistischen Ausbeutung und der Naturkatastrophe des Tsunami im südlichen Asien fallen zusammen mit dem Entsetzen über die Tatenlosigkeit der imperialen Mächte, dem Entsetzen über Folter und Krieg, welche die Welt ausmachen, in der wir heute leben. Was hat Rosa Luxemburg über den Krieg als Methode zur Verteidigung des Nationalstaates gesagt? Während sie 1915 im Gefängnis saß, schrieb sie die folgenden Zeilen, die später in ihrer Junius-Schrift veröffentlicht wurden:

»Das Kriegmachen einzig und allein zur Verteidigung des bedrohten Vaterlandes war übrigens nicht Bismarcks Erfindung. Er befolgte nur mit der ihm eigenen Skrupellosigkeit ein altes, allgemeines, wahrhaft internationales Rezept der bürgerlichen Staatskunst. Wann und wo hat es denn einen Krieg gegeben, seit die sogenannte öffentliche Meinung bei den Rechnungen der Regierungen eine Rolle spielt, in dem nicht jede kriegführende Partei einzig und allein zur Verteidigung des Vaterlandes und der eigenen gerechten Sache vor dem schnöden Überfall des Gegners schweren Herzens das Schwert aus der Scheide zog? Die Legende gehört so gut zum Kriegführen wie Pulver und Blei. Das Spiel ist alt. Neu ist nur, daß eine sozialdemokratische Partei an diesem Spiel teilgenommen hat.«

Diese Worte scheinen heute ganz besonders auf die Politik der Bush-Regierung zuzutreffen, auf den von ihr geführten globalen Krieg, auf die Folter und die verschärfte Unterdrückung von Migranten und politischen Aktivisten innerhalb der Grenzen der USA, allesamt als »vorbeugende Maßnahmen zur Sicherung des Heimatlandes« deklariert. Wieviel Tod, Zerstörung und Leid werden verursacht, nur um angeblich die Vereinigten Staaten von Amerika zu schützen? Diese sogenannte Demokratie, die entschlossen zu sein scheint, die letzten Reste von Freiheit und Menschenwürde aufzugeben, weil der Entwurf eines Imperiums national und international in Frage gestellt wird, hat sich auf den Weg der Selbstzerstörung begeben. Das Projekt, Freiheit und Demokratie in den Nahen Osten zu exportieren, ist ein nur schlecht verschleierter Plan, diese Region für den globalen Kapitalismus zu sichern. Und überall gibt es Widerstand – Widerstand innerhalb und außerhalb Iraks. Widerstand innerhalb und außerhalb der USA. Widerstand in Europa und auch hier in Deutschland. Widerstand in den Streitkräften der USA. Wir alle können der Bush-Administration entgegenhalten, was Rosa Luxemburgs Worte waren und das Thema dieser Konferenz ist: »Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut«.

George W. Bush und seine Kohorten haben nicht geglaubt, daß die Opposition und die gegen die USA gerichteten Gefühle in aller Welt zu einer solchen Flut anwachsen könnten. Warum, so fragte der scheidende US-Außenminister, gibt es soviel Kritik an der Rolle, welche die US-Regierung bei den Hilfsmaßnahmen für die Tsunami-Opfer gespielt hat? Gegenfrage: Warum wird der Beitrag der USA zu den Rettungsmaßnahmen und zur Wiederherstellung der Lebensbedingungen der Familien der wahrscheinlich 150000 Flutopfer bei weitem übertroffen von den Mitteln, die für den Krieg gegen Irak ausgegeben werden? Die Summe der US-Hilfe für Asien entspricht dem, was es kostet, anderthalb Tage Krieg in Irak zu führen. Was spielt es schon für eine Rolle, so fragen die Regierungsvertreter, daß die anfängliche Katastrophenhilfe der USA in Höhe von 35 Millionen Dollar weniger war als das, was die Feiern der zweiten Amtseinführung von George W. Bush kosten werden?


Kriegsdienstverweigerer

Es gibt Angehörige des US-Militärs, die sich weigern, an dem teilzunehmen, was sie als einen unmoralischen Krieg ansehen, einen Krieg, der unter betrügerischen Vorwänden geführt wird. Im Dezember 2004 hat ein Marinesoldat sich geweigert, an Bord eines Schiffes zu gehen, das Richtung Persischer Golf auslaufen sollte. Der Latino Pablo Paredes wird wahrscheinlich vor ein Kriegsgericht gestellt und unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen werden. Aber er ist ein Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen, und mehr als 5500 Soldatinnen und Soldaten sind aus der US-Armee desertiert. Einige von ihnen sind nach Kanada geflüchtet und machen nun die Erfahrungen so vieler GIs während des Vietnam-Krieges.

In Kanada fand gerade die erste gerichtliche Anhörung statt, die über das Schicksal eines US-amerikanischen Kriegsdienstverweigerers entscheidet, der nicht in den Irak-Krieg ziehen wollte: Jeremy Hinzman hat in Kanada einen Asylantrag als Flüchtling gestellt, nachdem er den Waffendienst in Irak verweigert hatte. Hinzman stammt aus North Carolina und hat sich als 17jähriger zum Dienst in der Armee verpflichtet, als sein Vater mit ihm das Rekrutierungsbüro unter anderem deshalb aufsuchte, weil ihm Geld für die Ausbildung seines Sohnes zugesagt worden war. Man muß sich klarmachen, daß viele Soldatinnen und Soldaten – vor allem Schwarze, Latinos und Menschen aus armen Verhältnissen – sich zum Militärdienst verpflichten, weil sie keine andere Chance haben, eine Ausbildung oder Beschäftigung zu finden. Für viele ist der Militärdienst der einzige Ausweg, ein Leben ohne Armut, Drogen und Gefängnisse führen zu können. Und dann bekommen sie den Befehl, in einem imperialistischen Krieg in Irak zu kämpfen.

In Kanada ist eine Petition zur Unterstützung dieser Kriegsdienstverweigerer aus den USA eingereicht worden. Dieser Antrag an die kanadische Regierung hat eine starke Unterstützung durch die kanadische Gewerkschaftsbewegung erfahren. Die Tatsache, daß es jetzt eine größer werdende Bewegung gibt, Kanada zu einem sicheren Hafen für Kriegsdienstverweigerer zu machen, gibt uns Hoffnung. Die Opposition gegen den Militarismus, der eine tragende Säule der gegenwärtigen Strategie des US-Imperialismus ist, geht Hand in Hand mit einem öffentlichen Bewußtsein von der Verbindung zwischen Krieg und Profit. Diesen Zusammenhang hat Rosa Luxemburg vor ihrem historischen Hintergrund bereits klar herausgearbeitet. Diese Opposition besteht aus den Antiglobalisierungsbewegungen, aus Kampagnen gegen die »Sweatshops« und die Feminisierung der weltweiten Arbeitsheere, aus den Bewegungen zum Kampf für die Rechte der Arbeitenden, den transnationalen Kampagnen gegen Rassismus und Todesstrafe, dem Kampf gegen den industriellen Gefängniskomplex und seine zunehmende Ausdehnung im Weltmaßstab. Sowohl im Norden als auch im globalen Süden bricht sich der Moloch der Privatisierung so mächtig Bahn wie ein Tsunami, und er zerstört dabei Strukturen, die den Bedürfnissen der Menschen dienen, und setzt Projekte an ihre Stelle, die nur noch dem Profitmachen dienen. Die letzten Überbleibsel des Sozialstaates werden demontiert – besonders hier in Deutschland. Aber die Menschen stehen auf und wehren sich.


Sozialismus ist möglich

Überall auf der Welt haben Aktivisten in den Gemeinden und Gewerkschaften, Studierende, Kulturschaffende und Betroffene keine Angst, davon zu träumen, daß eine andere, eine bessere Welt möglich ist. Wir sagen, daß eine nicht auf Ausbeutung basierende, eine sozialistische Ökonomie möglich ist, so daß die Menschen rund um den Erdball neue soziale Beziehungen eingehen können und nicht nur verbunden sind durch die Waren, die von den einen produziert und von den anderen konsumiert werden, sondern durch Werte wie Gleichheit, Solidarität, Kooperation und Respekt. Eine andere Welt ist möglich, und trotz der Hegemonie der Kräfte, die für Ungleichheit, Hierarchie, besitzorientierten Individualismus und Verachtung der Humanität stehen, werden wir im Geiste Rosa Luxemburgs tatkräftig daran arbeiten, Bedingungen zu schaffen für eine radikale gesellschaftliche Transformation.

Gerade jetzt müssen wir uns ständig bewußt machen, daß die Hegemonie des US-Imperialismus keine unumstößlich sichere Gegebenheit ist. Auch wenn George W. Bush behauptet, daß er in eine zweite Amtszeit gewählt wurde, so geschah es in der Folge einer ersten Amtsperiode, die nicht durch eine demokratische Wahl zustande gekommen ist, sondern durch das abgekartete Spiel der Obersten Bundesrichter. Kurz vor seiner erneuten Amtseinführung sieht sich Bush einem starken Widerstand gegenüber – Widerstand von den Gewerkschaften, von den Studierenden, von der Antikriegsbewegung und sogar von Mitgliedern des US-Kongresses, wie wir jetzt gesehen haben. Vor zwei Tagen, am 6. Januar, haben Abgeordnete des Kongresses, darunter die Senatorin Barbara Boxer aus Kalifornien, der parlamentarischen Bestätigung des Wahlergebnisses von 2004 widersprochen. Das mag Ihnen nicht wichtig vorkommen, aber es geschah erst zum zweiten Mal in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten und zum ersten Mal seit 1877, daß dem Stimmenergebnis der Wahlmänner durch Abgeordnete widersprochen wurde. Es geschah diesmal wegen der Unregelmäßigkeiten während der Wahl und wegen zahlreicher Fälle der Verweigerung des Wahlrechts im Bundesstaat Ohio. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie wissen, daß es vielen Wählern bereits im Jahr 2000 verweigert wurde, sich an der Wahl zu beteiligen, entweder weil sie Afroamerikaner waren, vorbestraft waren oder unter dem Verdacht standen, im Gefängnis gewesen zu sein. Das heißt, Tausende und Abertausende durften nicht wählen. Hätten sie aber wählen können im Jahr 2000, wäre es keine Frage gewesen, wie das Ergebnis ausgesehen hätte.

George W. Bush kann zwar behaupten, daß er der Präsident der Vereinigten Staaten ist, aber er ist auch der zweite Präsident in unserer Geschichte, dessen Wahl vom Kongreß angefochten wurde – nicht nur vom Kongreß, sondern auch von vielen Menschen im ganzen Land.

Und weil ich gerade über die Regierung spreche, lassen Sie mich sagen, daß Bush, dessen reaktionäre Haltung uns wohlbekannt ist, uns immer wieder aufs neue überrascht mit seiner Verachtung des demokratischen Prozesses und mit der Unverfrorenheit seines extremen Konservatismus. Wer anders als Bush würde es wagen, den Mann zum neuen Justizminister zu ernennen, der vorher als Berater des Weißen Hauses fungierte und dessen Aufgabe unter anderem darin bestand, die grundlegenden Rechtfertigungen für die Folter an Gefangenen in Guantanamo zu entwickeln? Er hat erklärt, daß die Genfer Konventionen »überflüssig« und veraltet seien und – ich zitiere – »in Zeiten des Krieges gegen den internationalen Terrorismus auf die Gefangenen in Guantanamo nicht anwendbar«. Zwei Jahre später haben die Bilder aus Abu Ghraib der Welt einen Schock versetzt. Dieser Mann, der Vernehmungsmethoden gerechtfertigt hat, die auf physischer, seelischer – und möglicherweise sexueller – Folter basierten, steht nun kurz davor, vom Kongreß als der neue Justizminister bestätigt zu werden.


Erbe der Sklaverei

Wir haben von der Bush-Administration gelernt, daß es ein Beziehungsgeflecht gibt, das von der Außenpolitik bis zur Innenpolitik reicht. Einige der Soldaten, die in Abu Ghraib Folter angewendet haben, haben möglicherweise gelernt, diese Befehle zu befolgen, als sie Gefängniswärter in den USA waren. Das ist ein leuchtendes Beispiel für dieses ganze Beziehungsgeflecht.

Vergegenwärtigen wir uns den Fall von Alberto Gonzales, der nun bald der neue US-Justizminister sein wird. Gonzales war Berater von George W. Bush, als dieser noch Gouverneur von Texas war, und hat ihn in 57 Todesstrafenverfahren beraten. Jeder dieser Fälle endete mit der Hinrichtung, selbst bei Gefangenen, die unter einer geistigen Behinderung litten.

Bush hat sich auf den Krieg gegen den Terrorismus vorbereitet, indem er selbst Terror in seinem Bundesstaat ausübte – als Gouverneur hatte er die Oberhoheit über 152 Hinrichtungen – die höchste Zahl von Hinrichtungen, die je ein Gouverneur in der US-Geschichte zu verantworten hatte.

Die fortdauernde Existenz der Todesstrafe und ihre Durchführung in einem Land, das sich selbst als die höchstentwickelte Demokratie in der Welt beschreibt, weist auf die großen Widersprüche im Hinblick auf die Bedeutung des Begriffs der »Demokratie« in den USA. Der rassistische Kontext der Todesstrafe – worüber Mumia Abu-Jamal sehr viel geschrieben hat. ... und ich möchte an dieser Stelle betonen, daß wir alle aufstehen sollten für die Freiheit von Mumia Abu-Jamal, nicht nur, weil er ein Opfer der Todesstrafe werden könnte, sondern auch, weil er einer der einflußreichsten intellektuellen Führer der Bewegung gegen die Todesstrafe in den USA und weltweit ist – wir sprechen also von der Todesstrafe in den USA und nennen sie rassistisch, weil sich in ihr das Erbe der Sklaverei zeigt, das bis heute lebendige Erbe der Sklaverei. Im Vergleich zu anderen Verfahren weltweit wird sie gegen Beschuldigte in den USA unverhältnismäßig oft verhängt. Wenn wir uns die Geschichte gegen Ende des 17. Jahrhunderts anschauen, also bevor die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit erklärten, dann gab es damals eine intensive öffentliche Debatte über die Unvereinbarkeit von Demokratie und Todesstrafe. Das Gefängnis sollte eigentlich eine Alternative zur Todesstrafe sein und wurde als eine wesentliche demokratische Institution angesehen.

In vielen Bundesstaaten der USA wurde die Todesstrafe damals abgeschafft, allerdings nur für Weiße und mit der einen Ausnahme, daß sie weiterhin für Mord verhängt wurde. Aber sie blieb eine generelle Strafe selbst für kleinste Vergehen, wenn der Delinquent ein Sklave war. In Virginia gab es nur ein Verbrechen, für das ein Weißer zur Todesstrafe verurteilt werden konnte, aber es gab 70 verschiedene Straftatbestände, für die ein Schwarzer zum Tode verurteilt werden konnte. Es fehlt jetzt die Zeit, diese komplexen historischen Zusammenhänge herauszuarbeiten, aber die Todesstrafe in den heutigen USA – egal, ob die Betroffenen Weiße sind, Latinos, ob sie asiatischer Herkunft sind oder Schwarze – ist ein Beleg für das Weiterbestehen der Strukturen der Sklaverei. Deshalb ist sie durch und durch rassistisch. Der Rassismus der Todesstrafe ist strukturell, und wir können sagen, daß deshalb nicht nur Schwarze oder farbige Menschen, die durch die Hand des Staates getötet werden, sondern auch Weiße ebenso Opfer des Rassismus sind.

Der Fortbestand der Todesstrafe – gegenwärtig erwarten 3500 Gefangene in den US-Todestrakten ihre Hinrichtung – zeigt, wie der Rassismus die US-Gesellschaft strukturell durchdringt. Die Rassentrennung ist abgeschafft, aber trotzdem spielen Hautfarbe und Herkunft eine Rolle, wenn es um die Frage geht, wer ins Gefängnis muß oder wer eine Universität besuchen kann. Hautfarbe und Herkunft spielen eine Rolle, wenn es darum geht, wer in die Streitkräfte eintritt und dort eine Ausbildung erhält, oder wer sich in Harvard oder eine andere Eliteuniversität einschreiben kann. Über die Hälfte der schätzungsweise 3500 Gefangenen in den Todestrakten sind Farbige, und wenngleich die meisten von ihnen in Kalifornien einsitzen, ist doch die Mehrheit der Todeskandidaten in den Südstaaten der USA zu finden, wobei Texas in der Statistik direkt hinter Kalifornien steht, gefolgt von Florida, einem Bundesstaat, der von Gouverneur Jeb Bush, dem Bruder des Präsidenten, regiert wird.


Industrieller Gefängniskomplex

Aber die Todesstrafe ist nicht isoliert zu sehen, sie steht im engen Zusammenhang mit der Entstehung und der Ausweitung dessen, was wir den industriellen Gefängniskomplex nennen, der sich über die ganze Welt ausdehnt und so groß und mächtig geworden ist, daß er sich mittlerweile selbst reproduziert und kontinuierlich wächst. Die Rohmaterialien, die für diesen industriellen Gefängniskomplex gebraucht werden, sind junge Migranten und Farbige überall auf der Welt. Wie ist es sonst möglich am Anfang des 21. Jahrhunderts, ein Gefängnis in Australien, Frankreich, den Niederlanden, Italien oder Schweden zu besuchen und, wenn man zuvor je ein US-Gefängnis von innen gesehen hat, dieses Gefühl des Déjà-vu zu haben? Weshalb setzen sich die Belegschaften der Gefängnisse überall zum großen Teil aus Migranten und Farbigen zusammen?

Die Bewegungen gegen die Todesstrafe und den industriellen Gefängniskomplex können nicht allein stehen, sie sind verbunden mit der Opposition gegen Krieg und das globale Kapital. Sie sind Teil eines zunehmend stärkeren Kampfes für eine demokratische Zukunft – für eine Demokratie der Ethnien und Geschlechter und ein Demokratie der Ökonomie. Diese demokratische Zukunft muß mit der Tradition des Kapitalismus brechen, das heißt, es muß eine sozialistische Zukunft sein. Es ist auch eine Bewegung zur Rettung unserer Umwelt. Es ist eine Bewegung, die unsere Welt aus dem Teufelskreis der Gewalt herausreißen muß, angefangen vom Krieg über die institutionalisierte Gewalt der Gefängnisse bis hin zum Bereich der persönlichen Beziehungen.

Eine Organisation in Nordaustralien hat eine Kampagne ins Leben gerufen, deren Losung lautet: »Abschaffung der sexuellen Belästigung durch den Staat!« Unter sexueller Belästigung faßt man normalerweise, daß eine Einzelperson – anonym oder in einer bestehenden Beziehung – einen Übergriff auf eine andere Person begeht. Die Menschen in den Gefängnissen müssen sich bei Leibesvisitationen völlig ausziehen, das heißt, Millionen Frauen müssen sich das tagtäglich gefallen lassen, und damit wird klar, worauf die Kampagne in Australien zielt. Die Organisation dort setzt sich ein für die Rechte der gefangenen Frauen und für die Abschaffung der unwürdigen Leibesvisitationen.

Das ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen: Wie können wir weltweite Bewegungen schaffen, die sich dem US-Imperialismus widersetzen? Über welche Alternativen, welche Versionen von Demokratie denken wir nach? Eine Demokratie, in der es zum Beispiel nicht möglich ist, daß Kinder und Jugendliche wegen eines Fehlverhaltens für lange Zeit in Gefängnissen oder ähnlichen Einrichtungen weggeschlossen werden. In der der islamische Glaube nicht dazu führen kann, daß man dafür ins Gefängnis oder Militärgefängnis geworfen wird, wo Folter und sexuelle Nötigungen als angemessene Behandlung betrachtet werden. Wir müssen nachdenken über Versionen der Demokratie, in denen wirkliche Rechte gewährt werden, in denen die Menschen das Recht haben auf einen anständigen Lebensstandard, gute Bildung, das Recht, in einer Welt zu leben, in der Bildung keine Ware ist, sondern eine kreative Disziplin. Eine Welt, in welcher der Patriotismus überwunden und nationale Grenzen überschritten werden können, die von der Bush-Administration so eng gezogen wurden. Eine Demokratie, in der wir zu Bürgerinnen und Bürgern des ganzen Planeten werden.


Der Jugend folgen

Indem wir uns organisieren und mobilisieren, wird es uns gelingen, die Hoffnung zu erzeugen, die wir brauchen, um die jetzige Zeit hinter uns zu lassen. Deshalb möchte ich damit schließen, daß ich sage: Vor dreißig Jahren, als ich zum ersten Mal in diesem Teil Berlins war – damals noch Hauptstadt der DDR – habe ich erklärt, wie sehr mich die Kampagnen inspiriert haben, die die Jugendlichen organisiert haben, vor allem die Schulkinder hier. Als ich damals in der Gefängniszelle saß in Kalifornien, habe ich viele Stunden, Tage und Wochen damit verbracht, die Postkarten zu lesen, die von Schulkindern geschrieben worden waren für die Kampagne »Eine Million Rosen für Angela«. Ich will damit sagen, daß die Bewegungen und Kampagnen in den USA und überall auf der Welt, die sich für meine Freiheit einsetzten, nur indirekt mit mir zu tun hatten. Ich bin zwar sehr dankbar für diese Anstrengungen, die unternommen wurden, aber die Solidarität war das Ergebnis vieler Menschen, an deren Namen wir uns vielleicht nicht mehr erinnern. Ich habe damals den Nutzen gezogen aus dieser Mobilisierung.

Und aus diesem Grunde ist es jetzt wichtig, daß wir uns an diese Phase erinnern und daß wir mit jüngeren Generationen darüber sprechen. Meine Meinung war immer, daß uns die Jugend den Weg weist. Vielleicht können sich die Älteren unter uns an die Zeit erinnern, als wir jung waren, als wir zu denen gehörten, die neue Richtungen einschlugen, neue Wege gingen. Und es kommt auch die Zeit, in der wir Älteren erkennen müssen, wann wir uns zurücknehmen müssen, wann wir uns zurückziehen müssen, wann wir lernen müssen, in einer neuen Welt zu leben mit neuen Strategien des Widerstands. Ich schließe also, indem ich meiner tiefempfundenen Dankbarkeit Ausdruck verleihe gegenüber allen, die sich beteiligt haben an Aktionen, ohne die ich wahrscheinlich heute immer noch in einem Gefängnis in Kalifornien säße, über dreißig Jahre nach diesen Ereignissen. Und ich sage auch, daß jetzt die Zeit gekommen ist, auf die jüngere Generation zu schauen. Diejenigen unter uns, die jetzt älter sind, müssen lernen, der Jugend zu folgen.

Herzlichen Dank! Freiheit für Mumia Abu-Jamal! Kämpfen wir gegen die Globalisierung des Kapitalismus und schreiten wir voran zu wirklicher Demokratie!

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!