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Aus: literatur, Beilage der jW vom 15.06.2005

Nicht ganz allein

Hermann Kant schildert in »Kino«, was passieren kann, wenn man in einer Hamburger Fußgängerzone im Wege liegt
Von Arnold Schölzel

Es sei Kunst, was er da mache, antwortet der Erzähler in »Kino« auf die Frage einer einstigen Freundin, die ihn im Schlafsack auf dem nassen Pflaster von Hamburgs Spitalerstraße liegen sieht. Auf dem Trekkingbehälter besagen zwei Aufkleber: »Sinnstudie!« – »Nicht stören und nichts spenden!«.

War diese erste Begegnung Zufall, entwickelt sich die Aktion im weiteren mit Notwendigkeit: Wer im Umkreis des Erzählers auftaucht, tut das mit Zwangsläufigkeit – aus Gründen der persönlichen Bekanntschaft, des literarischen Herkommens, des Verlaufs von Hollywood-Filmen, der globalen Wirtschaft oder amtlicher Pflicht. Letztere treibt besonders viele Menschen in die Nähe des vom Boden aus Berichtenden. Bereits auf dem Weg vom Parkhaus zum Liegeplatz »fragte ein Mann, ob er sicherheitshalber mein Gepäck unter die elektronische Lupe nehmen dürfe. Er wies sich höflich aus und nannte seinen Namen dazu. Ich sagte meinen auf und durfte passieren.«


Showdown

Da liegt einer am Boden und rührt sich noch. Das unterscheidet ihn von Helden des Western, die nach dem Showdown für immer ruhig sind. Sie werden samt Filmtiteln in diesem Roman reichlich erwähnt – eine gewisse Vorliebe für Paul Newman sei hervorgehoben. Aber hier wird nicht geballert, sondern gesungen und getrommelt, wie es zur Inszenierung deutscher Fußgängerzonen gehört, und Hamburg ist nicht Tombstone, obwohl Schießeisen bei dem den Schlafsackmann beobachtenden amtlichen Personal zu vermuten sind und von ihm auch ausgemacht werden.

Er resümiert in seinem Roman Wesentliches der Geschichte in den etwa letzten 60 Jahren hierzulande. Das ist im Western auch so: Bevor scharf geschossen wird, wird knapp zusammengefaßt. Der Erzähler betont: »ich war der einzige, der zum unhörbaren Teil des Films als Kinoerklärer den Text hätte aufsagen können.« Das tut er. Aus unbändigem Erkenntnisdrang, »der mich in Fällen, die mich im Grunde nicht berühren sollten, beinahe unweigerlich fragen läßt: Wie geht denn das?«. Beim Anblick »einer fremden Frau, die in mittlerem Regen mitten im regen Publikumsverkehr auf belebtem Trottoir zu schlafen schien«, überwältigte den Erzähler die Neugier, die ihn auf die Platte vor Daniel Wischers Fischbratküche in der Spitalerstraße 12 führt, ein Etablissement, dessen Angebot an Backfisch und Kartoffelsalat dem Autor von Kindheit her bekannt ist und dessen Ruf sich inzwischen global verbreitet hat.


Geisteskampfgenossen

Bis zum Finale treten viele Personen in das Blickfeld des Erzählers. Neben der erwähnten einstigen Freundin sind das u. a. »der geölte Fritz« – man darf Raddatz ergänzen – und »Harri Bär«, den der Autor »aus der Sesam- oder der Lindenstraße« zu kennen meint. Am willkommensten »von allen elbstädtischen Geisteskampfgenossen« wäre dem Erzähler »der schwierigste« gewesen: »Weil er und sein entschieden linkes Ansichtenmagazin mich ohnedies als Mumie taxieren, so daß mein Eingewickeltsein sie nicht schockieren müßte.« H. L. G. aus Bahrenfeld kommt aber nicht in die Spitalerstraße. Dem »rühmlichen Publizisten« ist der Autor verbunden durch eine Packung holländischer Hustenbonbons, »Hostenbolchers«, die er jenem zuschickte, weil auf ihr der »allesversprechende deutsche Dichtername Dr. Hacks« geschrieben stand: Dr. Hacks’ Hostenbolchers eben. Das Päckchen wird in der Redaktion des Magazins für Sprengstoff gehalten.

Personage und Panorama der Erzählung weiten sich nun. Die Heilsarmee tritt singend an, eine Frau erhebt Anspruch auf den Liegeplatz, ein mephistophelisch gearteteter Stiefelmensch droht dem Erzähler nahezutreten, wenn er nicht verschwindet. Aber dem Faust am Boden gelingt es, durch lange Gespräche die Vollendung verschiedener Pläne zu seiner Entfernung von der Fischbratküche zu verhindern.

Eingeflochten ist der Bericht über einen Gang im Monat zuvor ins Ordnungsamt des Stadtbezirks, nahe beim »Hexensabbats-Blocksberg« zwischen Hamburg Hauptbahnhof und dem Hauptgüterbahnhof, zwecks Erkundigungen, wie es mit dem Liegen in der Fußgängerzone gehalten wird. Der Autor landet beim Bundesgrenzschutz, erhält nur Vages statt Auskunft. Die Behördenangestellten trifft er bei seiner Horizontalaktion in der Spitalerstraße wieder – zumeist verkleidet. Er ist umstellt, Camouflage ist alles, zumal wenn der von Geheimen unterstützte Heilsarmeechor ein »eingemeindetes Lied« von Hacks vorträgt: »... und das war im Oktober, / als das so war, / In einem Teil von Hamburg / im vorigen Jahr.« Zitate von Theodor Storm, Christian Geissler u. a. befördern ähnlich den Fortgang.


Steppenblühen

Es geht aufs Finale zu: Der Mann am Boden ist umstellt von amtlichen Beobachtern, die ihn seit seinem Behördenbesuch nicht aus den Augen ließen. Es taucht noch ein schriftstellernder Herr Schulz auf, aus östlichen Gefilden stammend, der dem Unternehmen »Steppenblühen-Ost« vorsteht. Finale: Eine indische Software-Milliardärin stattet mit ihren Kindern der bis zum Himalaja bekannten Fischbratküche in Hamburg einen Besuch ab. Dafür der Aufwand an verdeckt arbeitendem Wachpersonal, dafür die zeitweilige Schließung des Kaufhauses »Brinckmann« neben der Braterei: Die Kinder mögen keinen Fisch, und für die Dauer des Aufenthalts der »Megabyte-Maharani«, auf die sich höchste Erwartungen der deutschen Ökonomie richten, beim Verzehr von Goldbarsch mit Salat kaufen sie in H&M und Lego-Salons ein, die nach ihrem Besuch sofort wieder hinter einem Bauzaun und dann ganz verschwinden.

Der Bundesgrenzschutz füllt das Fischlokal. Der Schluß lautet: »Die Frau, von deren Wohlgefühl zugleich so viel für das Gemeinwohl abhing, verzehrte ihren Fisch wie eine, die sich in Sicherheit und ihre Kinder in vertrauter Nähe wußte. Ähnlich Scarlett O’Hara in ›Vom Winde verweht‹ und anders als Vivien Leigh in der Kinofassung war sie nicht eigentlich schön zu nennen. Und allein auch nicht so ganz.«

Das ist fast ein Zitat. Eine der ersten Erzählungen Hermann Kants heißt »Krönungstag« und beschreibt ein Kinderfest 65 Jahre vor dem Schlafsackexperiment in der Hamburger »Fischkistensiedlung«. Der Text schließt mit: »Die Königin war wunderschön, und sie war ganz allein.« Da hat sich einiges getan und vieles ist gleichgeblieben an der Elbe.

»Kino« ist eine Meistererzählung, ein Streifzug im Liegen, politisch grundiert, aufklärend, ironisch, getragen von wunderbarer Fabulierkunst, ein literarisches Vexierspiel und ein historisches Kaleidoskop, eine Unterrichtung über zeitgenössische Ökonomie und über behördliche Schutzdienste, übers Beobachten und übers Erkennen, über ein leicht, aber wirklich nur leicht melancholisches Menschenbild. Was soll sich in einer deutschen Fußgängerzone sonst bilden?

* Hermann Kant: Kino. Aufbau Verlag, Berlin 2005, 203 Seiten, 17,90 Euro

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