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Aus: 1956, Beilage der jW vom 22.02.2006

Der XX. Parteitag – Tragödie in mehreren Akten

Das Versprechen der Entstalinisierung der Sowjetunion wurde nie eingelöst
Von Von Werner Pirker
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Leninstatue statt Stalinporträts im Großen Kremlpalast in Moskau

Der XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Februar 1956 markierte eine Bruchlinie in der Entwicklungsgeschichte nicht nur der UdSSR, sondern des gesamten sozialistischen Staatensystems und der internationalen kommunistischen Bewegung. Die Führungsgruppe der KPdSU um Nikita Sergejewitsch Chruschtschow hatte das große Wagnis auf sich genommen, mit Stalins persönlichem Machtregime abzurechnen. Der Schock saß tief. Die Entzauberung Stalins, die Aufdeckung seiner kriminellen Energien, hatte die Menschen in der Sowjetunion und die Kommunisten in aller Welt weitgehend unvorbereitet getroffen. Mit einem Paukenschlag war die Entstalinisierung eröffnet worden. Zu Ende geführt wurde sie nie. Doch auch das gesellschaftliche Trauma, das sie auslöste, konnte nie überwunden werden.

Über die Beweggründe, die Chruschtschow und die Seinen dazu getrieben haben, den toten Despoten aus kommunistischen Höhen herunterzuholen und aus dem Mausoleum an der Kremlmauer zu delogieren, gibt es bis heute keine Klarheit. Nicht zuletzt dürfte es dem Ersten Sekretär des ZK der KPdSU auch darum gegangen sein, sich lästiger Rivalen zu entledigen. Chruschtschow kam selbst aus dem engsten Machtzirkel um Stalin, doch war er weniger in die eliminatorische Politik involviert als andere Epigonen. Namentlich waren es Malenkow, Kaganowitsch, Molotow und Bulganin, die über die Aufdeckung der Verbrechen des Stalinregimes moralisch delegitimiert und damit kaltgestellt wurden. Doch Chruschtschows Machtpolitik folgte nicht dem reinen Selbstzweck. Der Russe aus der Ukraine war dem Kommunismus, wie er ihn verstand, der Vorstellung einer sozial gerechten Gesellschaft üppigen Wohlstandes und minimierten staatlichen Zwanges, treu ergeben.

Innere Widersprüche


Die Regisseure des XX. Parteitages entsprachen wohl auch dem objektiven Bedürfnis der Gesellschaft, die Stalinsche Vergangenheit zu bewältigen, die unschuldigen Opfer der Repressionspolitik zu rehabilitieren und ein demokratisches System sozialistischer Machtausübung herzustellen. Die Sowjetgesellschaft hatte Jahrzehnte äußerster Anspannungen und äußerster Konflikte hinter sich. Konflikte, die sich aus der Stellung der UdSSR als erstem sozialistischen Staat der Erde ergaben und sich im Bürgerkrieg und im räuberischen Überfall der Hitlerwehrmacht entluden. Konflikte aber auch, die sich aus den inneren Widersprüchen des revolutionären Großprojekts ergaben und in der mangelnden Befähigung der – großteils analphabetischen – Volksmassen zur Machtausübung ihren ursächlichen Grund hatten. Stalin war ein Großmeister in der Zuspitzung von Widersprüchen – nicht um sie einer Lösung zuzuführen, sondern um sie – immer wieder – zur Festigung seiner Machtposition zu instrumentalisieren. Dem entsprach seine absurde These, daß sich die Klassenwidersprüche im Sozialismus zwangsläufig verschärfen würden.

Weit davon entfernt, tatsächlich vorhandene Widersprüche im Sozialismus in ihrer Objektivität zu benennen – den Widerspruch zwischen egalitärer Gesellschaft und Machtprivilegien etwa – entwickelte der Generalissimus eine subjektivistische Klassenkampftheorie mit einem unerschöpflichen Reservoir an »Klassenfeinden«, die es jeden Tag aufs neue zu entlarven und zu vernichten galt. Dabei war der Mann, der aus Georgien kam, kein linksradikaler Übertreiber der Revolution, sondern ein klassischer, oder besser: ein radikaler Zentrist, der im ewigen Kampf gegen linke und rechte Abweichungen die Machtbalance, das heißt sein Machtregime sicherte.

Stalin hinterließ ein erschöpftes Land. Die Sowjetbürger waren der ständigen Entbehrungen leid und gaben zunehmend der Erwartung Ausdruck, daß sich die Erfolge beim Aufbau des Sozialismus auch auf ihre Lebensverhältnisse auswirken würden. Soziale Unzufriedenheit drang an die Oberfläche. Der gesellschaftliche Konsens, der auf Massenheroismus und Massenrepressalien beruhte, war brüchig geworden. Stalins Tod löste eine nihilistische Stimmung aus. Das kommunistische Zukunftsideal verblaßte.

Der Parteiführung um Nikita Chruschtschow ist es im Februar 1956 auch um die Bewältigung dieser moralischen Krise gegangen. Mit der Verurteilung des exzessiven Machtmißbrauchs durch das Stalinregime sollte die ursprüngliche Leninsche Konzeption einer sich auf breiter Basis vollziehenden sowjetischen Form der Machtausübung wieder ins Bewußtsein gerückt werden. Dem XX. Parteitag war vor allem die Aufgabe zugedacht, die führende Rolle der Partei neu zu begründen. Denn es war in erster Linie die Partei, die Stalin seiner Selbstherrschaft zum Opfer gebracht hatte.

Säuberungswut


Der zentrale Vorwurf, den Chruschtschow in seiner am 25. Februar gehaltenen »Geheimrede« – sie wurde in einer geschlossenen Sitzung vorgetragen – erhob, lautete, daß sich Stalin über Volk und Partei gestellt habe. Doch war der Vortragende selbst ein Geschöpf der Stalinisierung der KPdSU. Die vom Stalinschen Zentrum gegen die linke und rechte Parteiopposition durchgesetzte »Generallinie« blieb über jede Kritik erhaben. Chruschtschow hielt unbeirrbar an der Auffassung fest, daß die Opposition ein Vehikel der Konterrevolution gewesen sei und ihr Sieg unweigerlich die Restauration des Kapitalismus bewirkt hätte. Die Zerschlagung der »parteifeindlichen Gruppierungen« rechnete er Stalin als bleibendes Verdienst an. Die Kritik setzte erst ab dem Zeitpunkt an, als die Säuberungswut des Selbstherrschers sich auch gegen das Parteizentrum zu richten begann und in einem Teufelskreis der Repression mündete.

Der Redner merkte an, daß die Repressionen »mit voller Wucht einsetzten, als die Ausbeuterklassen im Prinzip liquidiert waren und sich die gesellschaftliche Basis der parteifeindlichen Gruppierungen verengt hatte«. Das Protokoll vermerkt »Empörung im Saal«, als Nikita Chruschtschow auf das Schicksal des auf dem XVII. Parteitag 1934 gewählten Zentralkomitees verwies, von dessen 139 Mitgliedern 98 den XVIII. Parteitag nicht mehr erlebten. Welch tragische Ironie: Ausgerechnet dieser XVII. Parteitag, auf dem der Generalsekretär die endgültige Niederlage der linken und rechten Abweichler bekanntgab, ist als »Parteitag der Sieger« in die Geschichte eingegangen.

Chruschtschow gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß der Sieg der »Parteilinie«, von deren Richtigkeit die KPdSU-Nomenklatura bis ans Ende ihrer Tage überzeugt war, auch mit weniger blutigen Mitteln erzielt hätte werden können. Er erinnerte an die Großmütigkeit, die Lenin gegenüber Sinowjew und Kamenew, die am Vorabend der Oktoberrevolution die bolschewistischen Aufstandspläne an die Menschewiki verraten hatten, walten ließ und gab zu bedenken, daß Trotzkisten mehrheitlich ihren falschen Ansichten abgeschworen hätten und längst auf den richtigen Weg zurückgekehrt wären, bevor sie Stalins rächende Hand dann doch noch ereilte.

Der wichtigste Auftrag des XX. Parteitages bestand darin, ein despotisches Machtregime, wie es Josef Stalin Gesellschaft und Partei aufgezwungen hatte, nicht mehr zuzulassen. Das lag nicht nur im Interesse der gesellschaftlichen Basis, sondern auch der Machteliten. Denn die »Stalinschtschina« bildete sowohl die Voraussetzung der bürokratischen Herrschaft als auch ein Element ihrer existentiellen Bedrohung. Der einsame Kreml-Herrscher hatte sehr wohl erkannt, daß der Nomenklatura die Tendenz zur Herausbildung einer neuen Besitzerklasse innewohnte. Um sich nicht als Klasse etablieren zu können, mußte die Bürokratie, wie Isaac Deutscher in seiner Stalin-Biographie glänzend analysierte, ständig in Fluß gehalten werden: durch ein mörderisches Rotationsprinzip. Stalin war der Schirmherr der Bürokratie – und ihr Henker.

Doch ausgerechnet Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der in der Verurteilung der Stalinherrschaft von allen KPdSU-Granden am weitesten ging, war es, der sich dem neuen bürokratischen Konsens der »Überwindung des Personenkultes« nicht anzupassen vermochte. Dem Bauernsohn aus der Kursker Region war nicht nach »kollektiver Führung« zumute. An die Spitze von Partei und Staat gestellt, entledigte er sich umgehend des Zwanges der »ehernen Parteinormen«. Chruschtschows Art der Machtausübung war individualistisch, mitunter ungehobelt. Sein Umgang mit dem Machtapparat, dessen Trägheit er durch immer neue Kampagnen zu überwinden suchte, trug Züge von Willkür. Doch ebensowenig wie der Apparat seinen unbeherrschten Vorsitzenden auf die Einhaltung der bürokratischen Spielregeln zu verpflichten vermochte, vermochte es der Erste Sekretär, den Apparat zu beherrschen. Die strukturelle Macht der Nomenklatura erwies sich als stärker als die institutionelle Macht des Partei- und Staatschefs, zumal der auch noch die Rolle des Oppositionsführers beanspruchte. Doch Chruschtschow wurde nicht an die Wand gestellt, sondern 1964 vom Oktoberplenum des ZK auf zivilisierte, statutengerechte Weise abgesetzt. Das war sein Sieg in der Niederlage.

Korrupte Selbstverwaltung


Als Repräsentant der »kollektiven Führung« war Leonid Iljitsch Breschnew die ideale Besetzung. Mit ihm setzte ein Prozeß der Verflachung der Hierarchie ein. Der Apparat beherrschte den Generalsekretär und der Generalsekretär beherrschte souverän dieses Verhältnis. Eine Periode innenpolitischer Entspannung und bescheidener Prosperität, mitunter auch als das »Goldene Zeitalter« der Sowjetunion bezeichnet, trat ein. Die Massenrepressalien gehörten unwiederbringlich der Vergangenheit an. Aber auch Chruschtschows Bestrebungen nach wirklicher sozialer Gerechtigkeit und Überwindung der schwerwiegenden Deformationen in den gesellschaftlichen Beziehungen. Breshnews eigentliche Macht bestand in einem weitverzweigten System von Begünstigungen. Er leitete damit einen schleichenden Prozeß des Verfalls der sozialistischen Staatsmacht ein. Es erfolgte ihre Metamorphose zu einem System der korrupt-bürokratischen Selbstverwaltung, in dem sich der Bastard aus Bürokratie und Wirtschaftskriminalität als neues konterrevolutionäres Subjekt herauszubilden begann.

Gorbatschows Perestroika erschien als ein letzter Versuch, diesen Prozeß umzukehren. Doch sie bewirkte – gewollt oder ungewollt – das Gegenteil. Die damals eingeleiteten Wirtschaftsreformen legalisierten die in der Schattenwirtschaft angehäuften Schwarzgelder und verhalfen den offiziellen und mehr noch den inoffiziellen Wirtschaftseliten zu einer kapitalistischen Eigentumsbasis. Im Schatten einer paralysierten KPdSU, auf deren Nährboden sich die konterrevolutionäre Wende vollzog, eroberte die bürgerliche Partei der »Demokraten« die kulturelle Hegemonie und dann die Staatsmacht.

Von »marxistisch-leninistischer«, »antirevisionistischer« Seite wird die Auffassung vertreten, daß der Verrat am Sozialismus mit dem XX. Parteitag seinen Ausgang genommen habe. Umgekehrt ließe sich einwenden, daß die Entstalinisierung ihre erste oberflächliche Phase nie zu vertiefen vermochte und somit alle – mitunter auch ernstgemeinte – Bestrebungen zur Überwindung der Entfremdung des Volkes von der Macht im Sande verlaufen mußten. Die bürokratischen Eliten waren zu ihrer Selbstentmachtung niemals bereit. Wohl aber zur Entmachtung der Kommunisten, als die Zeit für den Umsturz der Eigentumsverhältnisse gekommen war. Nicht der XX. Parteitag hat die Tragödie ausgelöst, sondern sein historisches Scheitern.

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