Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: brecht, Beilage der jW vom 09.08.2006

Verehrter Brecht,

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als ich in Weißensee das erste Mal in Ihrem kleinen Arbeitszimmer stand mit dem Blick über die Wiese und dahinter der kleine See, bemerkte ich, als ich mich wieder dem Zimmer zuwandte, auf Ihrem Schreibtisch zwei vergilbte Fotografien in Postkartengrüße, schmal in gewölbtes Schildpatt eingerahmt. Die erste Fotografie zeigte einen älteren Mann mit einem auffallend großen Kopf, und groß an seinem Kinn war auch sein Bart, und das Haar auf dem Haupt schien lockig. Und ich fragte Sie leise, mit der Hand auf ihn zeigend: »Ist das Ihr Vater?«

Sie brachen in ein kurzes, helles Gelächter aus und sagten dann so laut wie ein Ausrufer auf dem Marktplatz: »Das ist Karl Marx!« Als ich mich vorsichtig dem zweiten Foto zuwandte, aber keine Frage stellte und den Abgebildeten eine kleine Weile in seinem Anzug aus einer anderen Zeit betrachtete, riefen Sie nach dieser kleinen Weile: »Nun frage nicht, ob das mein Großvater ist!« Und da ich immerhin schon wußte, daß Goethe und Schiller, nur weil sie zur gleichen Zeit in Weimar lebten, häufig in einem einzigen Atemzug genannt werden, obgleich jeder beim Schreiben ganz anders geatmet haben muß, ahnte ich, daß der in dem Anzug auf dem Foto wohl Friedrich Engels sein mußte.

Bei mir im Garten von B. stehen seit zwölf Jahren auch zwei Fotografien auf dem Schreibtisch, und ich achte darauf, daß die Blumen dahinter nicht welken, daß sie mich frisch ansehen, wie ein Wunder. Die Rahmen für die beiden Bilder sind nicht viel größer als die aus dem Schildpatt, aber aus Holz und weiß gestrichen, so daß die Fotografien darin eingeschreint scheinen wie in weiße Särge für zu früh Verstorbene. Es sind nicht Fotografien von Menschen in dem weiß gestrichenen Holz festgehalten, sondern Steine, zwei Fotografien von Steinen. Auf dem linken, da wo bei Ihnen Marx stand, steht mit weißer Farbe in großen Buchstaben über dem Namen Bertolt Brecht geschrieben »Sau Jude«. Auf der roten Backsteinwand hinter dem Stein steht mit noch größeren Buchstaben: »Juden raus«. Und ich verstehe das so, daß Sie aus Ihrem vorsorglich eiser­nen Sarg sich erheben, daß Sie aufstehen sollen, um von diesem Friedhof zu gehen, der über Nacht mit dem schnellen Einzug von Freiheit und Demokratie als erstes Zeichen der Freiheit diese Schrift einziehen ließ ... ein Menetekel.

Auf dem zweiten, größeren Stein, der an einem anderen Ort, in Berlin-Friedrichsfelde, als Foto aber auf meinem Tisch so dicht neben diesem ersten steht, wie bei Ihnen einst Marx und Engels, liest man in nicht übersehbaren Buch­staben auf diesem sonst leeren Stein: Die Toten mahnen uns.

Und so ist die Frage beantwortet, warum man zu Zeiten dieser deutschen Konsens-Demokratie an einen Toten schreibt: weil man nur von den erfahrenen Toten Antwort erhält auf Fragen, die mit den Fragen noch nicht erfahrener Lebender in Konflikt geraten sind, die man belügen kann, wie man einst diese Toten belog, weil sie keine Zeit hatten, weil sie immerfort um ihre Existenz, um ihr Leben kämpfen mußten. Sie sind die einzigen, die nicht schlafen, die aus zu Ende gebrachter Erfahrung antworten können. Darum sind sie die Wächter der Lebenden. Ich könnte auch sagen: Sie sind ihre Bodyguards. Nur von ihnen erhält man Auskunft, weil sie hinter sich haben, was uns noch bevorsteht.

So haben Sie mir zum Beispiel aus Ihrem besudelten Grab heraus eine Antwort gegeben auf die höchst aktuelle Frage der Einigung Europas unter den Bedingungen, die jetzt Ihr Grab in Berlin nicht nur zu einem Schandmal in Deutschland, sondern auch für Europa gemacht haben, in dem die jetzt vollzogene Einigung in Paris, Rom, London, Berlin die Straßen freigefegt hat für die Aufmärsche der Faschisten.

In dieser Situation Europas haben Sie mir zugerufen: »Erinnern wir uns doch! Warum waren wir vor einundeinhalb Jahrzehnten plötzlich gegen die Einigung der deutschen Arbeiter, als Hitler sie in seiner Arbeitsfront zusammenfaßte? Gegen die Einigung Europas, als Hitler seine neue Ordnung verkündigte? Wir waren dagegen, daß das Ideal der Einigung mißbraucht wurde. Hitler einigte die Arbeiter und die Wirtschaften des Kontinents, wie der Fischer im Netz die Fische einigt. Der Kosmopolitismus, die Politik der Einigung aller Menschen der Erde, ist ein Ideal der bürgerlichen Ideologen, und die proletarischen Denker, die Sozialisten, haben es nicht verworfen. Die bürgerlichen Ideologen wußten nicht, was nötig ist, das Ideal zu verwirklichen, nämlich den Sozialismus. Bei einer bürgerlichen, nämlich kapitalistischen Wirtschaft, können die Menschen sich nicht über die ganze Erde hin schlechthin als Menschen behandeln. Denn diese Produktionsweise beruht auf der und zielt ab auf die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Im Maul des Kapitalismus wird das schöne Ideal, wie so manches andere Ideal, zu einer idealen Gelegenheit, mehr Menschen als bisher auszubeuten, womöglich alle Menschen über die ganze Erde hin.«

Dem Schein nach, Brecht, ist dies dem Kapitalismus mit dem Epochenbruch und dem danach sofort entfesselten Weltmarkt gelungen, der jetzt die Völker Europas an den Niedriglohn fesselt und die Dritte Welt in faschistischer Manier an den Hungerlohn kettet. Aber da taucht aus dieser neuen Weltordnung für alle zunächst der Einzelne auf, der Selbstmordattentäter. Wenn er in Massen gegen diese neue Weltordnung auftritt, was zu erwarten ist, muß der Kapitalismus seine Jalousien herunterziehen. Und dann wird es dunkel auf der Welt, auch wenn die Strompreise ins Aschgraue fallen.

Mitte November scheint es jetzt an manchen Tagen über Mittag fast wie im Frühling zu sein, und das, nachdem wir schon Schnee hatten.

Ich habe mir vorgenommen, in diesem Winter bei jedem Wetter in den Wald zu gehen, wo man durch die kahlen Bäume immer noch ein winziges Stück vom Himmel sieht. Ihre K.



Der obenstehende Brief ist ein Auszug aus dem Band »Windbriefe an den Herrn b.b.« von Käthe Reichel, der in diesen Tagen im Verlag Faber & Faber (Leipzig, ISBN 3-936618-85-2, 256 Seiten, 18 Euro) erscheint. Der Vorabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.



Käthe Reichel, geboren 1926 und aufgewachsen in einer Berliner Hinterhofwohnung, wurde 1950 von Bertolt Brecht an das Berliner Ensemble geholt. Seitdem spielte sie zahlreiche Rollen auf verschiedenen Bühnen und im Film (u.a. Die Legende von Paul und Paula, Die Verlobte oder Levins Mühle). Von 1961 bis 1996 war sie Ensemble-Mitglied des Deutschen Theaters Berlin.

Für seine Göttliche Komödie hat Dante den »Limbus« erfunden, eine Art Vorhof der Hölle oder auch des Himmels. Das ist der vorübergehende Aufenthaltsort für Künstler und andere in ihrer Zeit engagierte Menschen. Dort, so denkt Käthe Reichel, müßte sich auch ihr Lehr- und Theater-Meister Bertolt Brecht befinden, der sie den klaren Blick auf die Welt gelehrt und sie zum Erkennen ihrer Gegen­sätze angehalten hat. Ihm schreibt die nunmehr Achtzigjährige ihre fiktiven Briefe, Menetekel der Wut, der Ratlosigkeit, der heiteren Erinnerung und der Hoffnung; Briefe, die in den Wind gestreut werden, um die Menschen aufzurütteln zur Vernunft.

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