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Aus: migration, Beilage der jW vom 08.11.2006

Zutiefst inegalitäre Gesellschaft

Die Verweigerung elementarer Rechte für Arbeitsimmigranten sichert Extraprofite für die kapitalistischen Ökonomien der Industriestaaten. Herausforderung für Gewerkschaften und Linke
Von Jörn Boewe
Boat people im Hafen von Los Cristianos, Teneriffa, 19. Septembe
Boat people im Hafen von Los Cristianos, Teneriffa, 19. September 2006

Vier leere »Pateras« – kleine, offene Holzkähne – lagen am Sonntag morgen am Strand von Lanzarote, berichtete ein kanarischer Radiosender. 40 illegale Einwanderer konnte die Guardia Civil festnehmen. 40 weitere, vermuteten die Behörden, konnten untertauchen. Kleine Boote mit maximal 20 Insassen kommen in den letzten Tagen häufiger. Im Gegensatz zu den großen »Cayucos« – Booten mit 90 bis 170 Menschen an Bord – sind sie meist unsichtbar für die Radaranlagen der FRONTEX – der »Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen«.

Seit Jahresbeginn landeten auf den Kanaren rund 27000 Flüchtlinge. Zwei- bis dreitausend, so schätzen die Rotkreuz- und Roter-Halbmond-Gesellschaft, kamen beim Versuch, die EU zuerreichen, ums Leben.

Früher starteten sie mit ihren Booten im 90 Kilometer enfernten Marokko und der Westsahara. Doch nach massivem Druck aus Madrid und Brüssel auf Marokko und Mauretanien stechen die meisten heute an Senegals Küste in See – 1300 Kilometern vor den Kanaren.

»Umgeben von armen Ländern mit riesigen Heerscharen junger Menschen, die um die bescheidenen Jobs in der reichen Welt kämpfen werden – welche den Männern und Frauen nach den Standards von El Salvador oder Marokko immer noch Wohlstand versprechen würden –, werden die reichen Länder mit ihren vielen alten Bürgern und wenigen Kindern vor die Wahl gestellt sein, entweder massive Immigration zu gestatten (die zu politischen Problemen im eigenen Land führen würde) oder sich sogar gegen die Immigranten, die sie brauchen könnten, zu verbarrikadieren (was sich langfristig als undurchführbar erweisen könnte) oder irgendein anderes Rezept zu finden«, schrieb der britische Historiker Eric Hobsbawm 1996 in seiner Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts »Das Zeitalter der Extreme« über die Perspektiven am Fin de siècle. »Am wahrscheinlichsten schien, daß sie temporäre und an bestimmte Bedingungen geknüpfte Immigration erlauben würden, welche den Ausländern keine der üblichen sozialen und politischen Bürgerrechte gewähren würde, das heißt also, daß sie zutiefst inegalitäre Gesellschaften aufbauen würden.«

Die Debatten in der großen Koali­tion um die Neujustierung des Ausländerrechts auf der Inneministerkonferenz Mitte November, aber auch Wortmeldungen aus der Wirtschaft deuten daraufhin, daß es Kapital und politischem Establishment genau darum geht – eine zutiefst inegalitäre Gesellschaft.

Nach einem im September vorgestellten Bericht des »Centre für Global Development« (CGD) würde eine dreiprozentige Erhöhung des Anteils südlicher Arbeitskräfte in Industriestaaten ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 361 Milliarden US-Dollar bringen. Ausdrücklich weist der Autor Lant Pritchett daraufhin, daß es ihm nicht um »Massenzuwanderung« gehe, sondern um die »Anwerbung von Arbeitskräften für einen spezifischen Zeitraum und eine spezifische Aufgabe«, etwa das System der Altenpflege in Europa. In die gleiche Richtung zielt eine im August veröffentlichte Studie der spanischen Großbank Caixa Catalunya. Ohne Arbeits­immigration wäre das Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt in der EU in den letzten zehn Jahren jährlich um 0,2 Prozent gesunken.

Doch die Extraprofite, die die kapitalistischen Ökonomien Westeuropas aus der Arbeitsimmigration ziehen, sind auf Überausbeutung gegründet, wie der Migrationsexperte Carlos Martín Urriza von der spanischen Gewerkschaft Comisiones Obreras (CCOO) betont: 30 bis 50 Prozent der drei Millionen Arbeitsmigranten in Spanien seien ohne legalen Aufenthaltsstatus, arbeiteten zu Hungerlöhnen, ohne jeden Arbeitsschutz. Die Ausbeutung rechtlich benachteiligter Arbeitskräfte passe bestens in ein Wirtschaftsmodell, das auf Senkung der Lohnkosten, geringere Arbeitsplatzsicherheit und hohe Arbeitsintensität setze.

Stellt sich die Frage nach einer Alternative zur Option der »zutiefst inegalitären Gesellschaft«. Der Ruf nach Vater Staat, der »Familienväter« davor schützen solle, daß »Fremdarbeiter zu niedrigen Löhnen ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen«, ist es sicher nicht.

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