Revolution!
Von Oskar Maria GrafJe näher wir der Wiese kamen, desto mehr Menschen wurden es. Alle hatten es eilig. Vor der Bavaria waren dichte Massen und wuchsen von Minute zu Minute. Auf den Hängen und von den Treppen des Denkmals herab redeten Männer. Da und dort sah man eine rote Fahne aufragen. »Hoch!« schrie es, dann wieder »Nieder!« Die Menge schob sich unruhig ineinander. Gedränge entstand. Wir fanden endlich Eisner, der weither von einem Seitenhang herunter schrie ... Wenn er einen Augenblick Atem holte, klangen die Stimmen der anderen Redner auf. Immer mehr und immer mehr Leute kamen. Unabsehbar war die Schar der Zusammengeströmten, wie ein Ameisenhaufen, schwarz und bewegt.
»Hergott, heut ist ja ganz München da ... Da wär’ doch was zu machen! Hoffentlich gehen sie heut nicht wieder heim und tun nichts«, sagte ich zu Schorsch. Ein bärtiger Hüne in Militäruniform hatte es gehört, lächelte überlegen und meinte superklug: »Nana, heut gehen wir net hoam ... Heut geht’s ganz woanders hin ... Gleich wird’s losgehn.«
»Es lebe der Frieden!« schrien in diesem Augenblick um mich herum die Leute. »Frie-ie-iede!« pflanzte sich fort und scholl weithin. Und brausend riefen alle: »Hoch Eisner! Hoch die Weltrevolution!« Ungefähr eine Minute war es still. Von der Bavaria herüber drangen Beifallsrufe. Wir drängten uns über den Hang hinaus. Plötzlich schrie Felix Fechenbach in Feldgrau laut und beinahe kommandomäßig in die bewegte Menge: »Genossen! Unser Führer Kurt Eisner hat gesprochen. Es hat keinen Zweck mehr, viele Worte zu verlieren! Wer für die Revolution ist, uns nach! Mir nach! Marsch!« Und mit einem Schlage gerieten die johlenden Massen ins Vorwärtsdrängen. Wie eine kribbelige, schwarze Welle wälzten sich die tausend und abertausend Menschen hangaufwärts auf die Straße; weiter ging es im Schnellschritt, an geschlossenen Häusern und herabgezogenen Rolläden vorbei, den Kasernen zu. Wir marschierten, eingekeilt von einer dahinstürmenden Menge, fast an der Spitze, kaum fünf Schritt weit entfernt von Eisner, den ich unablässig betrachtete. Er war blaß und schaute todernst drein; nichts redete er. Fast sah es aus, als hätte ihn das jähe Ereignis selber überfallen. Ab und zu starrte er gerade vor sich hin, halb ängstlich und halb verstört. Arm in Arm mit dem breitschulterigen, wuchtig ausschreitenden blinden Bauernbundführer Gandorfer ging er. Diese Gestalt bewegte sich viel freier, derb auftretend, fest,und so eben, wie ein bayerischer Bauer dahingeht. Um die beiden herum war der Stoßtrupp der Getreuesten. Der Marsch hatte begonnen und war unaufhaltsam. Keine Gegenwehr kam. Alle Schutzleute waren wie verschwunden. Aus den vielen offenen Fenstern der Häuser schauten neugierige Menschen auf uns herunter. Überall gesellten sich neue Trupps zu uns, nun auch schon einige Bewaffnete. Die meisten Menschen lachten und schwatzten, als ging`s zu einem Fest. Hin und wieder drehte ich mich um und schaute nach rückwärts. Die ganze Stadt schien zu marschieren. Wir erfuhren auch schon, daß Matrosen die Residenz genommen hatten. [...]
Die meisten Kasernen übergaben sich kampflos. Es kam auch schon ein wenig System in dieses Erobern: Eine Abordnung stürmte hinein, die Masse wartete. In wenigen Minuten hing bei irgendeinem Fenster eine rote Fahne heraus und ein mächtiger Jubel erscholl, wenn die Abordnung zurückkam. [...]
Am Isartorplatz rannte ich in den Friseurladen, zu Nanndl. »Revolution! Revolution! Wir sind Sieger!« schrie ich Nanndl triumphierend an. Sie ließ die Brennschere fallen und strahlte. Ich war schon wieder weg. Gegen acht Uhr abends ungefähr landeten wir über der Isar, im Franziskanerkeller. Dort erfuhren wir, daß die Mehrheitssozialdemokraten unter Auers Führung mit Musik, ganz züchtig geordnet, durch die Stadt gezogen waren und sich am Max-Monument zerstreut hatten. Ein wüstes, bellendes Gelächter erscholl bei dieser Kunde. »Scheißkerle! Schulbuben!« spottete jeder. »Das ist die Armee der Reaktion!« schrie wer, und »Jawohl! Jawohl!« antwortete es von allen Seiten. Unschlüssig stand die gestaute Masse da. Es hieß, Eisner würde im Saal sprechen. Die Revolution hatte gesiegt. Alles war in ihren Händen, Post und Telegraph, Bahnhof und Residenz, Landtag und Ministerium.
Ich hatte Hunger. »Gehen wir in die Wirtsstube und essen und trinken was«, sagte ich zu Schorsch. Wir drängten uns durch und traten in das rauchige Lokal. Da saßen breit und uninteressiert Gäste mit echt Münchnerischen Gesichtern. Hierher war nichts gedrungen. »Wally, an Schweinshaxn!« rief ein beleibter, rundgesichtiger Mann der Kellnerin zu. Dort aß einer, dort spielten sie Tarock wie immer. Niemand kümmerte sich um uns. [...]
Am andern Tag klebten die Litfaßsäulen voll von Erlassen der neuen Regierung. In der Stadt war es ruhig. Lastautos mit Bewaffneten fuhren herum. Maschinengewehre standen vor den öffentlichen Gebäuden. Militärpatrouillen sah man. Sogar von den Frauentürmen herunter wehte die rote Fahne.
Aus: Oskar Maria Graf: Wir sind Gefangene, Berlin 192, 228-231
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