60 Jahre zuviel
Von Rainer RuppAllein die beiden jüngsten US- und NATO-Kriege in Afghanistan
und im Irak haben weit über eine Million zivile Todesopfer
gefordert. Hinzu kommen Millionen zu körperlichen oder
seelischen Krüppeln geschossene Menschen und Millionen
Flüchtlinge. Und alles im Namen von Demokratie und
Menschenrechten, für die freie Marktwirtschaft und den
»American style«.
Und genug ist niemals genug. Unaufhörlich drängen die
US-geführte NATO und die EU danach, ihren Einfluß immer
weiter auszudehnen, nach Afrika, in den sogenannten
Größeren Mittleren Osten und insbesondere in die
zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken. Denn dort
warten große Reichtümer an Öl und Gas und andere
Rohstoffe nur darauf, zur Ausbeutung durch westliche Konzerne
befreit zu werden.
Dafür aber müssen erstens die Zugänge durch den
Kaukasus und durch Afghanistan gesichert, zweitens die lokalen
Regierungen durch Zuckerbrot oder Peitsche gefügig gemacht und
drittens muß Rußland geschwächt und marginalisiert
werden.
Genau diese drei Ziele verfolgen NATO und EU in dieser Region,
nicht zuletzt mit solch harmlos klingenden Programmen wie
»NATO-Partnerschaft für den Frieden« oder dem im
Mai letzten Jahres von der EU aufgelegten »Eastern
Partnership« (Östliche Partnerschaft). Dabei ziehen die
EU, die NATO und die USA am gleichen Strang, und zwar nicht erst
seit kurzem.
NATO-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer konstatierte
bereits vor vier Jahren: »Die NATO und die EU machen ziemlich
gute Fortschritte bei der Koordinierung der modernen
militärischen Fähigkeiten. Ich bin optimistisch,
daß wir unsere Kooperation auf weitere Gebiete ausdehnen
können, wo wir gemeinsame Sicherheitsinteressen haben und wo
wir uns gegenseitig ergänzen und verstärken können.
Und hier meine ich Gebiete wie … den Kaukasus und
Zentralasien« (NATO International, 31. März
2005).
Der Staatssekretär im US-Außenministerium Nicholas
Burns, der zuvor US-Botschafter beim Militärpakt gewesen war,
begrüßte den Appell des NATO-Generalsekretärs und
unterstrich seinerseits, »daß das NATO-Bündnis und
die EU ihre Kooperation verstärken müssen, um jenseits
der NATO-Grenzen in Europa, Afrika und Zentralasien für
Sicherheit zu sorgen.« (AP, 26. Mai 2005)
In diesem Reigen durfte natürlich auch ein deutscher
Verteidigungsminister nicht fehlen. Peter Struck (SPD) unterstrich
damals: »Es wäre vollkommen falsch, die Fortschritte der
europäischen Verteidigungsfähigkeiten getrennt von den
Fortschritten innerhalb der NATO zu sehen«. Denn beide, NATO
und EU zusammen, müßten vor dem Hintergrund eines sich
schnell wandelnden Sicherheitsumfeldes besser für
Einsätze außerhalb der NATO-Grenzen vorbereitet sein.
(Deutsche Welle, 13. April 2005)
Sinn und Zweck dieser Einsätze rund um die Welt werden in den
verschiedenen Weißbüchern der NATO-Armeen, so auch in
dem der Bundeswehr, und ebenso im geltenden Neuen Strategischen
Konzept des Pakts aus dem Jahr 1999 hinreichend beschrieben. Zwar
werden die imperialen Ambitionen wie üblich mit dem Gerede um
Menschenrechte und Frieden, Freiheit und Demokratie vernebelt,
unterm Strich jedoch geht es stets um die Sicherung des Zugangs zu
Rohstoffen und Märkten, und /oder um die Beherrschung
geostrategisch wichtiger Positionen. Schon in den
»Verteidigungspolitischen Richtlinien« des
Bundesverteidigungsministerium vom 26. November 1992 wurde es u.a.
zur Aufgabe der Bundeswehr gemacht, für deutsche Konzerne
»den ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in
aller Welt« und die »Aufrechterhaltung des freien
Welthandels« zu sichern.
In der Tat haben EU/NATO/USA inzwischen einen großen Teil der
Welt bereits unter sich aufgeteilt, mit Ausnahme der westlichen
Hemisphäre, welche die USA nach wie vor für sich allein
beanspruchen. In diesem Zusammenhang sei auch die jüngst
erfolgte Wiederindienststellung der Vierten US-Flotte verweisen.
Andere Regionen, ja ganze Kontinente sind bereits filetiert. Am
deutlichsten wird das in Afrika. Hier haben sich die
»Missionen« der EU vervielfacht, insbesondere in der
rohstoffreichen Region des Kongo aber auch am strategisch
wichtigen Horn von Afrika.
Unverfroren hatte der NATO-Interventionsexperte Jamie Shea in einer
öffentlichen Sitzung des »Unterausschusses für
Sicherheit und Verteidigung« des Europäischen Parlaments
(EP) in Brüssel im Dezember 2006 das Konzept zur besseren
Arbeitsteilung zwischen EU und NATO präsentiert, die sowohl
regional als auch funktional sein müßte. Funktional
sollte die EU sich mehr um die nicht-militärischen Aspekte der
gemeinsamen Sicherheitsinteressen kümmern, während die
militärische Hardware, also die großen Kriege zu
führen, Aufgabe der NATO sei. Regional sollte das ehemalige
koloniale Afrika in den Zuständigkeitsbereich der EU fallen
und der »Größere Mittlere Osten« in den der
NATO, meinte Shea, der für seine Verdienste zur verlogenen
Rechtfertigung des Angriffskrieges gegen Jugoslawien (»Wie
verkauft man einen Krieg«) vom Sprecher zum Direktor für
Politikplanung des Militärpakts befördert worden ist.
Vorwärts ins 19. Jahrhundert
Die imperiale Neuaufteilung der Welt zeigt, daß seit dem Untergang des realexistierenden Sozialismus 1991 eine konservative Restauration stattgefunden hat, die direkt ins 19. Jahrhundert, ins Zeitalter der Expansion des Kolonialismus zurückführt. Die drückt sich auch im Verhalten der euro-atlantischen NATO-Eliten aus. In ihrem Umgang mit anderen Ländern erkennt man den gleichen kolonialen Hochmut wie im 19. Jahrhundert, die gleichen herrischen Ansprüche, die gleiche Arroganz, mit der verbriefte Rechte der anderen in den Dreck getreten werden und die gleiche Kanonenbootpolitik, mit der »widerspenstige Eingeborene« zusammengeschossen werden.Faktisch, wenn auch nicht formal haben die Mächte des Westens im Rahmen von EU und NATO eine Parallele zum Wiener Kongreß 1815 und zum Kongreß von Berlin im Jahr 1878 geschaffen. Zur Erinnerung: Der Wiener Kongreß fand nach dem Ende der Napoleonischen Kriege statt. Er legte die Grundlage für die sogenannte Heilige Allianz, also für die Restauration der Monarchie und des Feudalismus in Europa. Mit dem Spuk der gefährlichen republikanischen Gedanken der französischen Revolution sollte ein für allemal Schluß sein. Kurz, die Neue Weltordnung der »Heiligen Allianz« sollte sicherstellen, daß niemals wieder in Europa ein gekröntes Haupt von einer republikanischen Bewegung bedroht würde.
In der Neuzeit erlebt seit 1991 das damalige Verbot aller Formen republikanischen Denkens und Regierungsformen eine Renaissance. Man muß heute nur »republikanisch« mit »sozialistisch« oder »kommunistisch« ersetzen. In der Tat herrscht heute wieder eine neue »Heilige Allianz«, die versucht, alle politischen Parteien und Bewegungen, die die Rechte der großen Mehrheit der Menschen verteidigen, zu verteufeln, zu marginalisieren, ja sogar zu kriminalisieren. In einem systematisch von oben geführten Klassenkampf soll jeder Widerspruch, sogar jeder Gedanke an eine gesellschaftliche Alternative zur vorherrschenden neoliberalen »Wahrheit« unterdrückt werden.
Als zweites haben sich die euro-atlantischen Eliten des Großkapitals mit der Zusammenarbeit von EU und NATO ein Pendant zum Berliner Kongreß von 1878 geschaffen. Er läutete damals die kooperative Phase unter den damaligen europäischen Großmächten zur Aufteilung der Welt ein. Die begann mit der Ziehung neuer Grenzen und Einflußzonen auf dem Balkan, ohne daß die Vertreter der betroffenen Länder dazu gefragt worden wären. Wenige Jahre später wurde auf einer neuerlichen Konferenz in Berlin (15. November 1884 bis 26. Februar 1885) die Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten vorgenommen. Beteiligt waren Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich, Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Schweden-Norwegen, Italien, Portugal und Spanien.
Ähnlichkeiten zwischen damals und heute sind unverkennbar. Damals wie heute wurde der von Macht- und Profitgier motivierte Wettlauf der europäischen Großmächte um die afrikanischen Rohstoffe vor der Öffentlichkeit mit humanitären Phrasen gerechtfertigt. Den armen Wilden auf dem »dunklen Kontinent« mußten der Erlöser Jesus Christus und die anderen Werte der europäischen Zivilisation gebracht werden. Ja, die Kolonisierung wurde sogar als schwere, opferreiche und selbstlose Aufgabe der Kolonialmächte hingestellt: als die »Bürde des weißen Mannes«.
Auch hier sind die Parallelen zur Gegenwart nicht zu übersehen. Man muß nur die operativen Schlagwörter ersetzen: »Menschenrechte« statt »Zivilisation«, »Bürde des weißen Mannes« heißt heute »globale Verantwortung übernehmen«, usw. Die Ziele sind die alten geblieben: Zugang zu Rohstoffen und Märkten und strategische Positionen zu erobern.
Um zu demonstrieren, wie sehr die Vergangenheit bereits wieder Gegenwart geworden ist, sei hier aus einem Artikel in The Times vom 12. Juni letzten Jahres zitiert. Geschrieben wurde er vom ehemaligen britischen Verteidigungsminister und späteren NATO-Generalsekretär (1999–2004) Lord George Robertson und dem ehemaligen Hohen Kommissar der EU für Bosnien-Herzegowina, Lord Paddy Ashdown, der jüngst als Koordinator für die EU und NATO in Afghanistan im Gespräch war. »Die Anstrengungen zur Schaffung europäischer Schlachtgruppen müssen vermehrt und voll kompatibel mit den NATO-Reaktionskräften gemacht werden, um so eine Basis für eine europäische Fähigkeit zur Aufstandsbekämpfung zu schaffen, die imstande ist, in zerfallenden Staaten (failed states) und ähnlichen Umfeldern zu operieren.«
Dieses an die westlichen Eliten gerichtete Manifest zur gemeinsamen Rebellenbekämpfung in den Kolonien der neuen, neoliberalen Weltordnung fährt mit der Bemerkung fort: »Diese [militärischen Fähigkeiten zur Aufstandsbekämpfung] sind unerläßlich, wenn wir gerufen werden, um in irgendwelchen unregierbaren Räumen, welche durch die Globalisierung geschaffen wurden, die staatliche Autorität wiederherzustellen.«
Der NATO-Gipfel 2009
Auf dem NATO-Gipfel in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden am 3. und 4.April feiert das westliche Establishment nicht nur den 60. Gründungtag der Organisation, die mit brutalen Interventionen und völkerrechtswidrigen Kriegen die wirtschaftliche und politische Macht der herrschenden Eliten absichern soll. Es geht auch um die Erneuerung der NATO-Strategie zur Festigung ihres Selbstverständnisses als globale Ordnungsmacht. Allerdings ist bei den Vorbereitungen nicht alles nach Plan gelaufen. Mit der Ausarbeitung der neuen Strategie, die in Strasbourg/Baden-Baden hätte abgesegnet werden sollen, ist noch nicht begonnen worden. Statt dessen gab es Streit über Sinn und Zweck der NATO. Manche Mitglieder befürchten, daß eine erneute Strategiediskussion das Bündnis sprengen könnte. Zu unterschiedlich sind in manchen Bereichen die Vorstellungen. Nicht einmal über das Forum, in dem die neue Strategiedebatte stattfinden soll, war man sich eine Woche vor dem Gipfel einig.Ginge es jedoch nach den strammen Atlantikern, dann würde die NATO für den globalen Einsatz noch schlagkräftiger und noch gefährlicher gemacht. Blaupausen dafür haben im Vorfeld der Strategiedebatte bereits vor einem Jahr fünf NATO-Schwergewichte, darunter der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Klaus Naumann, präsentiert. In dem Papier »Towards a new Grand Strategy« wird der Kurs der NATO weiter auf globale Kriege gerichtet. Globale Militärinterventionen sollen selbstverständlich auch ohne UN-Mandat durchgeführt werden können, um NATO-Interessen zu verteidigen.
Ferner soll das bisherige Konsensprinzip im NATO-Rat abgeschafft werden, so daß jederzeit eine »Koalition der Willigen« unter Rückgriff auf NATO-Kapazitäten Krieg führen kann. Dieses Papier enthält neben der Rechtfertigung von Präventivkriegen auch den Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen zu deren Unterstützung, z.B. wenn die NATO-Atomwaffenstaaten andere Staaten davon abhalten wollen, Atomwaffen herzustellen.
Zunehmend Widersprüche
Die von NATO/EU/USA vertretene neoliberale Weltordnung ist jedoch heute weniger fest etabliert als noch vor einem Jahr, denn im Inneren dieser Allianz zeigen sich zunehmend starke Widersprüche: unterschiedliche Einstellungen zu Rußland sorgen für Ärger, insbesondere wegen der Versuche Washingtons, die Länder des »neuen Europa« für seine Zwecke zu instrumentalisieren und gegen das »alte Europa« auszuspielen. Dieses strebt eine »strategische Partnerschaft« mit Rußland an, was von US-gestützten EU-Neulingen wie Polen, Tschechien und Ungarn blockiert wird.Zugleich sind die »widerspenstigen Eingeborenen« in Afghanistan für Krisenstimmung in der NATO verantwortlich. Am Hindukusch, auf dem Friedhof der Imperien, stehen laut Aussagen führender US-Strategen nicht nur die »Glaubwürdigkeit« und »die Zukunft der NATO auf dem Spiel«, sondern auch der Führungsanspruch der Amerikaner über Europa.
Hinzu kommt die derzeitige schwere Krise des Kapitalismus, welche die ideologischen Fundamente der herrschenden neoliberalen Eliten zutiefst erschüttert. Die weitreichenden Folgen lassen sich nur erahnen. »Hier ist eine Weltanschauung kaputtgegangen«, sagte der deutsche Außenminister und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am 16. März dieses Jahres. Und laut US-Geheimdienst CIA stellt nicht mehr der »globale Terror« die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika dar, sondern die Wirtschaftskrise.
Nicht zuletzt gibt es immer mehr Menschen, insbesondere junge, die die Machenschaften der neuen »Heiligen Allianz« durchschauen und sich der Aufgabe der NATO, die neoliberale Globalisierung militärisch abzusichern, widersetzen.
Rainer Rupp ist Diplom-Volkswirt und Publizist. Ab 1977 arbeitete er in der politischen Abteilung des NATO-Wirtschaftsdirektorats in Brüssel – als Kundschafter der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung). Unter dem Decknamen »Topas« lieferte er zwölf Jahre lang wichtige Informationen aus dem Inneren des westlichen Militärpakts an den Auslandsgeheimdienst der DDR. Für seine dem Frieden dienende Arbeit wurde Rupp 1994 vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Der Artikel in dieser Beilage basiert auf seinem Vortrag auf der Konferenz »Nein zur NATO – Nein zum Krieg« des Europäischen Friedensforums (epf) am 14./15. März 2009 in Berlin.
Zu den Illustrationen: Im Vorfeld des NATO-Gipfels in Strasbourg hat sich die jW-Gestaltung intensiv Gedanken über ein Plakat zur Unterstützung der Proteste gemacht. Einige der zahlreichen Entwürfe sind in dieser Beilage zu sehen. Die Grafik für obiges Plakat stammt von Thomas J. Richter.
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