Den Praxistest bestehen
Von Thomas WagnerDer aktuelle Bericht (2009) der Bundesregierung über die Lage
von Menschen mit Behinderungen steht ganz im Zeichen neuer
nationaler und internationaler Regelungen: »Dabei zieht die
Bundesregierung auch einen nationalen Aktionsplan zur Umsetzung des
UN-Übereinkommens in Betracht«, schreibt der
zuständige Bundesminister für Arbeit und Soziales, Olaf
Scholz (SPD), in seinem Vorwort. Dabei hat die Bundesregierung
elementare behindertenpolitische Hausaufgaben bis heute noch nicht
gemacht. So hat nach der systematischen Mordpolitik des
Nazifaschismus in Deutschland seit langer Zeit zum ersten Mal eine
Generation von Menschen mit einer »geistigen
Behinderung« die Chance, alt zu werden. Aber eine angemessene
medizinische Versorgung dieser Personengruppe ist nicht
sichergestellt. Sie erfordert im Durchschnitt mehr
Einfühlungsvermögen, Kommunikationsaufwand und Zeit als
die von anderen Patienten. »Als Patientengruppe sind geistig
und mehrfach behinderte Menschen doppelt benachteiligt«,
stellt das Magazin Menschen (3/2009) fest: »Sie haben einen
erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf, können ihn
aufgrund ihrer Behinderung aber oft nicht durchsetzen.«
Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. hat
festgestellt, daß das derzeit gültige
Vergütungssystem den behinderungsbedingten Mehrbedarf und den
darauf zurückzuführenden Mehraufwand der
Vertragsärzte nicht angemessen abbildet. Daher ist die
optimale gesundheitliche Versorgung dieser Patienten nicht
immer gewährleistet. In der Beantwortung einer Kleinen Anfrage
der FDP-Bundestagsfraktion offenbarte die Bundesregierung im
vergangenen Jahr, daß ihr überhaupt keine Daten
vorliegen, »die eine umfassende Beschreibung der
gesundheitlichen Situation von Menschen mit geistiger oder
mehrfacher Behinderung ermöglichen«. Doch wollte sie
nicht ausschließen, daß es für Ärzte, die
sich auf die Behandlung dieser Personengruppe spezialisierten,
»zu Nachteilen bei der Vergütung kommen kann«.
(Drucksache 16/9180)
Heute behaupten alle im Bundestag vertretenen Parteien, etwas
für Behinderte tun zu wollen. Während dieser
selbsterklärte Anspruch noch den Praxistest bestehen
muß, stellen Teile der selbsterklärten geistigen Elite
des Landes den mühsam erkämpften Grundkonsens im Zeichen
der Wirtschaftskrise und vorgeblich notwendiger Einschnitte in die
Sozialsysteme schon wieder radikal in Frage. Der
Medienwissenschaftler und Dauertalkshowgast Norbert Bolz klagt in
seinem neoliberalen »Diskurs über die
Ungleichheit« (2009): »den Menschen mit Handicap stehen
immer mehr Berater zur Seite, die einen immer größeren
Fürsorgebedarf durch die Erfindung von Defiziten
erzeugen.« »Die Nachfrage nach Gesundheit und Bildung
wird in Zukunft das Angebot weit übersteigen«, lautet
seine zynische Zukunftsprognose. Für den
Unternehmenshistoriker Manfred Pohl scheint die Forderung nach
gleichen Bildungschancen für alle ohnehin pure
Geldverschwendung zu sein. Der Vorsitzende des mit Peter Sloterdijk
und Wolfgang Clement prominent besetzten Thinktanks Frankfurter
Zukunftsrat erklärte 2007 über 20 Prozent aller Menschen
für »nicht bildungsfähig, egal wie viele Millionen
für ihre Bildung aufgewandt werden«. Wie
realitätsfern solche Behauptungen sind, zeigt das Interview
mit der von der 68er-Bewegung geprägten Pädagogin und
Buchautorin Christel Manske in dieser Beilage. In ihrem privaten
Institut beweist sie tagtäglich, daß viele
»geistig behinderte« Kinder nicht nur
bildungsfähig sind, sondern mit Hilfe eines adäquaten
Unterrichts sogar einen berufsvorbereitenden Schulabschluß
erreichen können. Sigrid Graumann erläutert, inwiefern
die Realität behinderter Menschen in der BRD trotz
anderslautender Erklärungen der Bundesregierung den in der
UN-Behindertenkonvention geforderten Mindeststandards
hinterherhinkt. Für Irene Müller, Landtagsabgeordnete
für Die Linke in Mecklenburg-Vorpommern, ist das
internationale Dokument daher ein Leitfaden für ihre
praktische politische Arbeit. Der Behindertenaktivist und Autor Udo
Sierck resümiert die kämpferische Geschichte der
westdeutschen »Krüppelbewegung« und erinnert
daran, daß die UN-Konvention angesichts von
Finanzierungsvorbehalten der öffentlichen Haushalte ohne
Engagement der Behindertenbewegung nicht das Papier wert ist, auf
dem sie steht. Noch weiter zurück in die Vergangenheit
führt eine Recherche über den KPD-nahen
»Internationalen Bund der Opfer des Krieges und der
Arbeit« (1919–1933). Michael Zander und Thomas Wagner
stellen den noch wenig erschlossenen Aktenbestand des Bundesarchivs
vor.
behindertenpolitik erscheint als Beilage der Tageszeitung junge Welt im Verlag 8. Mai GmbH, Torstraße 6, 10119 Berlin. Redaktion: Stefan Huth (V. i. S. d. P.), Thomas Wagner, Michael Zander; Anzeigen: Silke Schubert; Gestaltung: Michael Sommer. Fotos: Christian Ditsch/version.
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