Hitlers fähigster Todfeind
Von Arnold SchölzelAm 8. November 1939 explodierte um 21.20 Uhr im Münchner
Bürgerbräukeller eine Bombe. 13 Minuten zuvor hatte Adolf
Hitler mit der fast komplett versammelten Führung des
Nazireichs vorzeitig den Saal verlassen. Unmittelbar hinter dem
Rednerpult, an dem der deutsche Staats- und Regierungschef wie in
jedem Jahr zu diesem Datum eine wirre Rede zur Erinnerung an seinen
Putschversuch von 1923 gehalten hatte, war der Sprengstoff in einem
Pfeiler verborgen gewesen. Die acht Menschen, die bei dem Attentat
ums Leben kamen, waren außer der Aushilfskellnerin Maria
Henle »alte Kämpfer« der deutschen faschistischen
Bewegung. Bei der Apparatur handelte es sich um solides Handwerk.
In 30 Nächten und in zumeist auf Knien geleisteter harter
Arbeit hatte der schwäbische Schreiner Johann Georg Elser,
geboren am 4.Januar 1903 in Hermaringen, das Explosivmaterial und
den selbstgebauten doppelten Zündmechanismus im Boden einer
Säule des Saals, der 1500 Personen faßte, untergebracht.
Die noch nicht verschwundenen Schwellungen unter den Knien des
Verhafteten waren ein Indiz im Beweismosaik, das Kriminalpolizei
und Gestapo zusammentrugen.
Denn selbst als Elser vom Zoll in Konstanz am Abend des 8. November
beim Versuch, unbemerkt in die Schweiz zu gelangen, festgenommen
wurde und wegen konkreter Verdachtsmomente nach München
gebracht worden war, tappte das gerade gebildete
Reichssicherheitshauptamt noch einige Tage im Dunkeln. Hitler hatte
die Parole ausgegeben, es sei nach Hintermännern zu suchen,
und die seien entweder beim englischen Geheimdienst oder bei seinem
im Schweizer Exil lebenden Nazigegner Otto Strasser oder bei beiden
zusammen zu suchen. Nach schweren Folterungen gestand Elser, wurde
als »Sonderhäftling« in der Berliner Zentrale der
Gestapo, ab Ende 1940 oder Anfang 1941 im Konzentrationslager
Sachsenhausen und schließlich 1945 im Konzentrationslager
Dachau festgehalten. Er sollte nach dem »Endsieg« einen
Prozeß bekommen. Am 5. April 1945 ordnete Hitler seine
Ermordung an, am 9. April tötete ein SS-Mann Elser in Dachau
durch einen Genickschuß.
Hellmut G. Haasis resümiert im vorletzten der 24 Kapitel
seines Buches »Den Hitler jag ich in die Luft. Der
Attentäter Georg Elser«: »Elsers Anschlag
hinterließ zwei Schutthaufen: den ersten im
Bürgerbräukeller, den zweiten in den Köpfen der
Deutschen. Der geistige Trümmerberg konnte erst in den letzten
sechzig Jahren allmählich abgetragen werden.« Mit
letzterem ist gemeint, daß die Nazis auch nach 1945
angesichts der Legenden, die über Elser in Umlauf kamen, und
angesichts der Ignoranz ihm und seiner Tat gegenüber von
kommunistischer Seite den Gang der Dinge bestimmt hätten. Nach
der Lektüre von Haasis’ Buch läßt sich
konstatieren: Es spricht viel für diese These. Biographie,
Attentat und die Nachkriegslegenden darüber sind nach Haasis
miteinander verknüpft, nämlich durch die gemeinsame
Überzeugung von Nazis und von Historikern nach 1945, daß
die Tat von einem »einfachen« Arbeiter nicht allein
hatte begangen werden können. Haasis setzt dem ein zentrales
Zitat von Elser entgegen. Es stammt aus den Gestapo-Protokollen der
Verhöre in Berlin, die in den 60er Jahren aufgefunden wurden.
Der Attentäter erklärt darin zu seinen Motiven:
»Die seit 1933 in der Arbeiterschaft von mir beobachtete
Unzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1938 vermutete
unvermeidliche Krieg beschäftigten stets meine
Gedankengänge. Ich stellte allein Betrachtungen an, wie man
die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg
vermeiden könnte. Die von mir angestellten Betrachtungen
zeitigten das Ergebnis, daß die Verhältnisse in
Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen
Führung geändert werden könnten.« Haasis, der
1999 eine erste monographische Arbeit über Elser vorlegte,
mußte im vergangenen Jahrzehnt erleben, daß im
akademischen Bereich in besonders niederträchtiger Weise
über den Schreiner hergezogen wurde. In der Frankfurter
Rundschau durfte z.B. vor zehn Jahren ein in der DDR als
Ökonom ausgebildeter und nun als »weit nach rechts
hinaushängender« (Haasis) Moralphilosoph am
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden
fungierender Mensch namens Lothar Fritze losledern: Elser habe
»seine Beurteilungskompetenz überschritten«.
Haasis kommentiert: »Fritze hätte gleich sagen
können: Der Schreiner sei zu dumm, um voraussehen zu
können, wohin Hitler Deutschland und Europa führen werde,
denn dazu müsse man zuerst einmal über Jahre
Moralphilosophie studieren.«
Nun ist von Hofphilosophen eines Freistaates, in dem das Nazireich
per Gedenkstättengesetz als läßliche Sünde,
die DDR aber als weltgeschichtliches Verbrechen gilt, nichts
anderes zu erwarten. Die »Abwehr gegen den Widerstand von
unten«, wie Haasis Kapitel 23 überschreibt, ist
allerdings weit über die spezifisch sächsische
Naziverzärtelung hinaus bundesdeutsches und westliches
Allgemeingut. Es geht um das, was der italienische Philosoph
Domenico Losurdo »vertikalen Rassismus« einer
selbsternannten Elite in für sie schwierigen Zeiten genannt
hat.
Als Arbeiter hat Elser keine Traktate, keine Artikel, keine
Bücher hinterlassen. Das macht es Haasis nicht leicht, die
Entwicklung seines working class-hero zu skizzieren. Er macht das
mit viel Phantasie, in Einzelheiten manchmal nicht überzeugend
und teilweise redundant, aber in der Gesamttendenz überzeugend
und restlos spannend. Der Plot ist weniger das Attentat, sondern
die hierzulande als langweilig geltende Frage: Wieso kann ein
politisch nicht geschulter Arbeiter so klar denken? Haasis
beantwortet das plausibel. Stern, Spiegel und Focus interessierten
sich folgerichtig nicht für seine neuen Einsichten. Die
Antwort lautet nach Haasis: ein Arbeiter kann das, wenn er z. B. in
einer trostlos bigotten, durch Alkohol und Armut zerrütteten
Familie den Humor eines Karl Valentin entwickelt, wenn er die
Härte eines Konspirateurs ausbildet, aber Geselligkeit liebt,
der wortkarg ist, aber redselig, wenn er über sein Handwerk
spricht, wenn er nicht durch Tiraden, sondern durch klare Gesten
auffällt: Die Hakenkreuzfahne nicht grüßen, bei
Radioübertragungen von Hitlerreden rausgehen, auch wenn es
gefährlich ist. Elser gehörte dem
Rotfrontkämpferbund an, wählte nach eigenem Bekunden
stets KPD, fand Kontakt zu einem ortsbekannten Kommunisten, mit dem
er sich über die Notwendigkeit, daß Hitler verrecken
müsse, schnell einig wurde und arbeitete systematisch daran,
dem Verrecken nachzuhelfen. Elser ist der in der sogenannten
Unterschicht, von dem ein Thilo Sarrazin nichts ahnt und gegen den
Kanzler oder Kanzlerin, bundesdeutsche Medien und die Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft alle Höllenhunde loslassen,
sollte er als Typus auftauchen. Haasis meint: »Eigentlich ist
nicht so sehr Elser das Rätsel, eher ist ein Rätsel die
Neigung der Massen zum Krieg und zu einer unsolidarischen
Gesellschaftsordnung. Insofern ist dieser Elser auch unseren
heutigen Zuständen noch weit voraus.«
Solche Apotheose, ausgedrückt auch in Haasis’ Superlativ
»Hitlers fähigster Todfeind«, schmälert nicht
das Verdienst dieser Studie, die mehr ist als eine Biographie. Sie
schildert das Entstehen von Widerstandsbewußtsein unter
Umständen, in denen Widerstand als so exotisch galt wie heute,
allerdings weitaus mehr kostete. Ausgerechnet der Reichschef der
Nazi-Kripo Arthur Nebe, ein Massenmörder, der selbst nach dem
20. Juli 1944 hingerichet wurde, prophezeite: »Jawohl, der
Mann wollte ganz einfach nicht den Krieg... Gerade deswegen werden
die feinen Leute nichts von ihm wissen wollen, auch nicht
hinterher... Sie haben übrigens ganz recht damit; sie handeln
völlig instinktsicher. Der paßt nicht zu
ihnen.«
Haasis hebt immer wieder hervor, daß auch die marxistische
Geschichtsschreibung wenig von Elser wissen wollte. Ob das, wie er
meint, an einem »Tabu« oder weltpolitischen
Konstellationen lag – am 8. November 1939 war der
Freundschafts- und Beistandspakt zwischen dem »Dritten
Reich« und der Sowjetunion erst wenige Wochen alt –,
oder an Vorbehalten, weil Elser nicht Mitglied der KPD war, oder an
der Verleumdung, er sei Instrument der SS gewesen, was auch von
Mithäftlingen wie Martin Niemöller hartnäckig
behauptet wurde, sei dahingestellt. Haasis stellt jedenfalls zu
recht die Frage, warum sich kein marxistischer Historiker in Ost
oder West jahrzehntelang mit Elser befaßt hat.
Hellmut G. Haasis: Den Hitler jag ich in die Luft - Der Attentäter Georg Elser. Edition Nautilus, Hamburg 2009, 384 Seiten, 18 Euro
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