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Aus: literatur, Beilage der jW vom 02.12.2009

Angeln im Alter

Pascal Rabaté erzählt das Märchen vom Rentner Émile, der auszieht, um die Lust neu zu lernen
Von André Weikard
Bild 1

Als Andreas Dresen im letzten Jahr seinen Film »Wolke 9« vorstellte, war das Publikum hingerissen. Bei der Premiere in Cannes gab es zehn Minuten lang stehende Ovationen, eine Frau aus dem Publikum marschierte voller Rührung auf Dresen zu und umarmte den Regisseur dankbar. Erleichterung. Endlich, endlich spricht mal jemand darüber: Sex im Alter. So was findet in den Medien nicht statt. Bestenfalls in abgehalfterte Nachmittagstalkshows werden flippige Alte eingeladen – und ausgebuht. Sex ist was für die Jungen. Wer in Rente geht, ist zu Rommé, Bridge und Canasta verdammt. Oder zum Angeln.

So verbringt jedenfalls Émile, die Hauptfigur in Pascal Rabatés Graphic-Novel »Bäche und Flüsse«, den Lebensabend. Der Fang ist für die Kinder oder für die Katz. Spaß macht die Anglerei nur, weil der dicke Edmond mit Émile am Tümpel hockt. Einer kurbelt, der andere hält den Kescher, so sehen Männerfreundschaften aus. Große Erzähler sind sie beide nicht. In vier Worten berichtet Émile von seinem großen Fang: »53 Zentimeter, zehn Minuten Kampf«. Und daß Edmond da was am Laufen hat, muß Émile aus der Kneipe erfahren.

Schweigen kann man nicht gut beschreiben, aber man kann es zeichnen. Rabaté tut das mit kleinen Serien von Bildern, auf denen das Motiv sich kaum verändert. Der hilflose Kleine mit der Mütze druckst herum, dann tut der Dicke mit dem Rollkragenpulli Butter bei die Fische: »Ob ich gebumst habe? Na ja, nicht jedes Mal, aber es kam vor.« Oh lala. Jetzt ist es raus. Der Schwerenöter mit dem Doppelleben erzählt, die dritte, die er durch eine Kontaktanzeige kennengelernt habe, hatte »riesige Schwimmer und Beine so lang wie ein Tag ohne Brot. Sie hatte den IQ einer Flunder.« Und weil man schon mal bei den Geständnissen ist, nimmt er Émile mit ins Nebengebäude und zeigt ihm die Bilder, die er in letzter Zeit gemalt hat. Klar, auch ein paar radfahrende Fische. Aber die stammen aus der »surrealistischen Periode«. Jetzt geht es um Aktmalerei. Vorlage ist das »Playmate des Monats«. »Altes Ferkel«, meint Èmile. Die Akte gefallen ihm trotzdem besser als die Fische.

Es war Edmonds letztes Geständnis. Er stirbt. Der Freundeskreis der Algerien­kämpfer salutiert mit Trikolore in der Hand am Grab, und die Angehörigen verbrennen die Schmuddel-Bilder (»Altes Ferkel«). Nur zwei kann Émile retten. Die Barbusige und die Breitbeinige hängen links und rechts vom Kruzifix über seinem Bett. Das ist aber ein schlechter Trost für den trauernden Freund. Der packt ein Röhrchen Schlaftabletten und seine Angel ein und macht sich auf, seinen letzten Fisch zu fangen.

Rabatés Erzählweise ist unaufgeregt, seine kolorierten Zeichnungen sind Kleinode der Reduktion. Matte, fast ausgeblichene Farben wirken schon mal altersgrau aber nie trist. Das Abgebildete ist auf die Figuren konzentriert. Gesten, Blicke und Körperhaltung vermitteln ganz subtil Stimmungen und Einstellungen. Der eine bohrt sich ungeniert in der Nase, der andere zuppelt sich beim Lesen am Ohr, die Dritte streicht sich verlegen die Haare glatt. Rabaté, der als Jugendlicher im Laden seiner Eltern aushalf und Angelzubehör verkaufte, hat vor allem seinen Émile ganz genau herausgearbeitet. Der kleine, stille Mann mit dem gebückten Gang, der Halbglatze unter dem blauen Mützchen und den wachen Augen ist ein liebenswerter Schelm, den man gerne durch die Geschichte begleitet.

Rabaté variiert das Tempo, verfolgt Änderungen im Gesichtsausdruck manchmal über mehrere Bilder und springt dann wieder zügig zur nächsten Episode. Er karikiert, um zuzuspitzen, und porträtiert, um stimmungsvoll und tiefgründig zu erzählen. Immer hat er sein Milieu genau im Blick. Er kennt das Palaver in den kleinen Bars, die es in Frankreich noch überall gibt, weil öffentlich zugängliche Zigarettenautomaten verboten sind und man nur dort seinen Tabak bekommt. Da wird über Kapern und Muschelsoße philosophiert, darum gestritten, ob das komplizierte Gewinde eines Schneckenhauses ein Gottesbeweis ist und ob Hühner mehr stinken als Schweine. Wenn den Hobby-Winzern die Weinflasche zu voll ist, wird ein Schlückchen abgetrunken und dann erst eingekorkt. Frankreich-Urlauber erkennen die französische Provinz aber auch an den Leclerc-Supermärkten und dem kleinen R4 wieder, mit dem Émile unverdrossen durch die Landschaft tuckert. Langweilig wird es auch deshalb nie, weil die Handlung immer wieder Haken schlägt und sich nie dazu verleiten läßt, in die Kitschfallen zu tapsen, die bei dem Thema überall aufgestellt sind.

Émile unternimmt eine letzte Reise zum Haus, in dem er aufgewachsen ist. Das steht noch, wird aber mittlerweile von einer Landkommune bewohnt, die den Alten aufnimmt. Es wird zusammen Obst geklaut, getanzt, gekifft und Gitarre gespielt.

Der lebensmüde Kauz ist niedlich, wenn er sich wegen seines runzeligen Körpers schämt, nackt mit den Hippies ins Flußwasser zu steigen und dann wegen seiner Erektion schämt, wieder aus dem Wasser rauszukommen. Émile, der auf der Suche nach der verlorenen Sexualität wieder mutiger wird, schaut beim Warten auf Madame zwar noch mal unter der Bettdecke nach, ob da auch alles in Ordnung ist, läßt sich dann aber von der eigenen Biologie überzeugen und flüstert am Morgen danach lüstern: »Ich erkunde dich, ich zähle deine Falten und streichle sie mit meinen Händen voller Altersflecken«, während seine Krücke am Nachttischchen lehnt und das Gebiß im Wasserglas schwimmt.

Der Film zum Comic, der einem beim Blättern unweigerlich vor Augen kommt, ist schon abgedreht und soll im kommenden Frühjahr in die französischen Kinos kommen. Obwohl Rabaté das Drehbuch selbst schrieb und Regie führte, ist es keine Animation, sondern ein Realfilm, mit Daniel Prévost in der Hauptrolle.

Nach einer Studie der Universität Chicago haben 53 Prozent der 65 bis 74jährigen Amerikaner noch Sex. 37 Prozent der Männer klagen über Erektionsstörungen, 39 Prozent der Frauen über eine trockene Scheide. Wer nicht auf öde Statistiken steht und sich unterhaltsamer mit Alterslust, Einsamkeit, Freundschaft und der Liebe beschäftigen will, für den ist »Bäche und Flüsse« das Richtige. Ein Comic ohne »Puff«, »Peng« und »Krach«, dafür aber mit feiner Ironie, die wie ein Hintergrundrauschen die spielerischen Zeichnungen begleitet. Andreas Dresen gewann 2008 mit »Wolke 9« in Cannes den Jurypreis in der Nebenreihe »Un certain regard«, Rabaté gewann 2007 mit »Bäche und Flüsse« beim Comic-Festival in Angoulême den »Prix de la Critique«. Nicht schon wieder Socken zu Weihnachten. Buch und DVD kann man auch gut zusammen verschenken.

Pascal Rabaté: Bäche und Flüsse. Reprodukt, Berlin 2009, 94 Seiten, 18 Euro

Sämtliche Abbildungen dieser Beilage sind diesem Band entnommen und erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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