Wie von Maikäfern
Von Robert Mießner
Ende 1914, als Hugo Ball längst keine patriotischen Illusionen
mehr über den Ersten Weltkrieg hatte, schrieb der spätere
Mitbegründer des Dadaismus aus Berlin an seinen Vetter August
Hofmann in München: »Ich lese hier Kropotkin, Bakunin,
Mereschkowski (›Der Zar und die Revolution‹) und
muß sagen, das ist sehr interessante Lektüre.«
Ball wollte es nicht dabei belassen. Im selben Brief kündigte
er an: »Hier geht ein neues Leben los:
anarcho-revolutionär (so heißt mans glaub ich).«
Zwei Monate später schon, am Abend des 12. Februar 1915,
veranstalteten Ball und Richard Huelsenbeck, auch er sollte einer
der Dada-Pioniere werden, im Berliner Architektenhaus eine
»Gedächtnisfeier für gefallene Dichter«. Sie
erinnerten an Ernst Stadler (»Fahrt über die Kölner
Rheinbrücke bei Nacht«), Ernst Wilhelm Lotz
(»Aufbruch der Jugend«), Walther Heymann
(»Nehrungsbilder«) und den Franzosen Charles
Péguy. Den französischen Schriftsteller nahmen sie im
zweiten Kriegsjahr bewußt ins Programm und machten es sich
mit dieser Entscheidung bei der Presse nicht leichter. Ball
gedachte auf dem Abend seines Freundes Hans Leybold, mit Franz Jung
und Ball Herausgeber der Münchener Zweiwochenschrift
Revolution. Zu den Beiträgern der
expressionistisch-frühdadaistischen Zeitschrift gehörten
Johannes R. Becher, Max Brod, Balls spätere Frau Emmy
Hennings, Jakob van Hoddis, Erich Mühsam und viele mehr. Als
im November 1913 Georg Groß, der »Psychoanalytiker der
Münchener Boheme«, als Anarchist verhaftet, nach
Österreich verschafft und auf Betreiben seines
Kriminalistenvaters psychiatrisiert wurde, brachte die
»Revolution« eine Sondernummer heraus.
Ball, obwohl nicht im klassischen Sinne Politiker, ist damals
bereits mit anarchistischem Gedankengut in Berührung gekommen:
»Gegen das Gesäß, gegen die Verdauung und gegen
das Finanzherz« war die Tendenz der Zeitschrift, erinnert
sich Ball. Und: »Jeglichen Fanatismus im Gegensatz zu
jeglichem Traum- und Innenleben. Jegliche Anarchie im Gegensatz zu
jeglichem Bonzentum.« Ball mußte einfach irgendwann auf
Bakunin stoßen, den russischen Revolutionär, der im
Dezember 1848 an Georg Herwegh schrieb: »Nirgends ist der
Bourgeois ein liebenswürdiger Mensch, aber der deutsche
Bourgeois ist niederträchtig mit Gemütlichkeit. Selbst
die Art dieser Leute, sich zu empören, ist
empörend.« Aus der Lektüre sollte für Ball ein
mehrjähriges Projekt werden. Bakunin hatte zur damaligen Zeit
im deutschsprachigen Raum zwar einen Ruf, sein Denken und seine
Werke waren aber erst in geringem Umfang zugänglich. Ball
schickte sich an, das zu ändern. Den Plan dazu hatte er
bereits in Berlin entwickelt. Nachdem er im Mai 1915 mit Emmy
Hennings in die Schweiz emigriert war und der Intellektuelle Ball
tatsächlich Bohemien geworden war (nicht aus Attitüde, es
blieb ihm ökonomisch keine andere Wahl), verschaffte ihm der
Schweizer Arzt, libertäre Sozialist und Schriftsteller Fritz
Brupbacher Material und gibt ein Arbeitszimmer in seinem Haus frei.
Was Ball, nicht ahnend, daß er für die Schublade
arbeiten und einmal zum Katholizismus konvertieren würde, da
zusammenstellte, wurde weniger eine Biographie im
herkömmlichen Sinne, sondern eine Montage aus Stimmen von und
über Bakunin.
»Michael Bakunin. Ein Brevier«, jetzt von Hans Burkhard
Schlichting und Gisela Erbslöh herausgeben und mit einem
beeindruckendem Kommentar und Nachwort versehen, gliedert sich in
zwei Teile. Der erste umfaßt die Jahre 1815 bis 1849, der
zweite die von 1849 bis 1866. Ball beginnt mit dem »Fragment
einer Selbstbiographie«, in der sich der Empörer
ankündigt. Bakunin über sich selbst: »Ich war mehr
skeptisch, als gläubig, oder vielmehr indifferent. Ich glaube,
Indignation und Revolte waren wohl die ersten Gefühle, die
sich energischer in mir entwickelten.« Nach einer kurzen
militärischen Laufbahn und einer philosophischen Zeit in
Moskau, Bakunin wurde ausgewiesener Hegel-Kenner, ging er nach
Berlin. In einem Brief an seinen Freund und Förderer Alexander
Herzen schreibt er aus der preußischen Hauptstadt:
»Berlin ist eine gute Stadt – vortreffliche Musik,
billiges Leben, sehr anständiges Theater, in den Konditoreien
viele Zeitungen, und ich lese sie alle der Reihe nach, mit einem
Worte alles gut, sehr gut.« Ein Ärgernis aber gibt es:
»Die Deutschen sind schreckliche Philister. Wäre der
zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewußtseins ins Leben
übergegangen, so wären sie herrliche Leute. Bis jetzt
aber sind sie, ach, ein höchst lächerliches Volk
…«. »Philister« sollte eine von Bakunins
Lieblingsschmähungen werden. Arnold Ruge, Mitbegründer
der »Halleschen Jahrbücher für deutsche Kunst und
Wissenschaft« und nach Ausbruch der Märzrevolution 1848
Breslauer Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung,
erinnert sich an eine Leipziger Begegnung mit Bakunin. Ruge, in
einem politischen Meeting sitzend, erhielt die Nachricht, Bakunin
wolle ihn sprechen. »Laß Deine Philister im
Stich«, riet er ihm, und: »Komm, alter Freund, trinken
wir eine Flasche Champagner! Es wird ja doch nichts draus. Ein
Redeübungsverein mehr, weiter nichts.« Er fügte
hinzu: »Glaub du nur nicht, daß ihr Sachsen die
Philister gepachtet habt. Paris schwärmt davon wie von
Maikäfern.« Bakunin hatte sich 1844 in Paris
niedergelassen, mit Karl Marx heftig diskutiert, mit Pierre-Joseph
Proudhon Freundschaft geschlossen und an der Februarrevolution 1848
teilgenommen.
Das permanente, von der Generation Balls aufgegriffene Sticheln
gegen den Bürger als solchen war Bakunin kein Selbstzweck.
Geistiges Bewußtsein ins Leben überführen, der
kurze Halbsatz aus dem Brief an Herzen, das war es, worum es dem
russischen Adelssohn ging. Unbedingt dazu gehörte für ihn
die Revolution. 1866, hinter Bakunin lag der Versuch, Deutsche und
Slawen zum gemeinsamen Kampf gegen die herrschende Unordnung
aufzurufen, eine die Gesundheit zermürbende Kerkerhaft in
Rußland, die Flucht über Yokohama, San Francisco,
Panama-Stadt und Boston und mehr als eine politische
Enttäuschung, schrieb er an Herzen und Nikolaj Ogarjow:
»Ich weiß, daß Euch das Wort Revolution
verhaßt ist, aber was ist zu tun, Freunde? Ohne Revolution
ist es weder Euch noch irgendeinem andern möglich, einen
Schritt vorwärts zu machen. Um doppelt so praktisch zu sein,
habt Ihr Euch eine unmögliche Theorie einer sozialen
Umwälzung ohne eine politische ausgedacht, eine Theorie, die
in jetziger Zeit ebenso unmöglich ist wie eine soziale
Revolution ohne eine politische, beide Umwälzungen gehen Hand
und bilden eigentlich ein Ganzes.« Das längere Schreiben
schickte er aus Italien, wo Bakunin in Auseinandersetzung mit
Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi seine für Ball
wichtige Kritik des Patriotismus und seine anarchistische Theorie
entwickelte. Es war in Italien, daß sich Bakunin das erste
Mal selber als Anarchist bezeichnete.
Leider endet Balls Sammlung mit dem Statut der
»Fraternité internationale«, Bakunins
»Internationaler Brüderschaft«. Wer sich über
seine zunehmenden Konflikte mit Karl Marx und Friedrich Engels, mit
der Zeit in der Internationalen Arbeiterassoziation und seinem
Ausschluß auf deren Kongreß in Den Haag 1872 befassen
möchte, sollte zu Arthur Lehnings »Unterhaltungen mit
Bakunin« greifen, aber sein ganzes abenteuerliches Leben
abdecken. Die Differenz zur Marxschen Richtung wird aber bereits in
Balls Sammlung deutlich. Dem Buch war wenig Glück beschieden,
obwohl ohne die umfangreichen Arbeiten daran Balls »Zur
Kritik der deutschen Intelligenz« kaum entstanden wäre.
Nach anfänglichem Publikationsinteresse von René
Schickele und Erich Reiss konnte Hugo Ball keinen Verleger finden.
Nach seinem frühen Tod vermittelte Hermann Hesse, Ball war
sein Biograph geworden, Emmy Hennings einen Kontakt zum Berliner
Malik-Verlag. Auch dieser Versuch blieb erfolglos. Emmy
Ball-Hennings in einem Brief: »Rasputin und Lenin sind mehr
Trumpf in Deutschland.«
»My head is a bubble with interesting trouble« lautet
der Titel, unter dem Fehmi Baumbach Einblick in ihre
»wunderbare Welt der aufgeklebten Gedankenblitze«
gewährt, die gerade eben als Bildband im Ventil Verlag
erschienen sind. Sämtliche Illustrationen stammen aus diesem
Band, den Rebecca Spilker auf Seite 24 vorstellt.
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!