Ministeriales Schubladendenken
Von Thomas Wagner und Michael ZanderBehinderte Menschen sind von der andauernden Wirtschaftskrise
besonders stark betroffen – und das international. Die
britische Politikwissenschaftlerin Alison Sheldon prognostiziert
steigende Erwerbslosigkeit und macht darauf aufmerksam, daß
schon jetzt die Beschäftigungsraten behinderter und
nicht-behinderter US-Amerikaner verstärkt auseinanderdriften.
Die Einschränkung wichtiger Leistungen des Gesundheitssystems
werde möglicherweise zu einer Verringerung der Lebenserwartung
Behinderter führen. Es sei an der Zeit, ökonomische
Theorie zu büffeln. Als ermutigendes Zeichen wertet Sheldon
deshalb, daß sich die Verkaufszahlen von Karl Marx’
»Kapital« in der BRD im Jahr 2008 verdreifacht haben
sollen.
Hierzulande antworten die Regierenden auf die Krise wenig
überraschend mit Geldgeschenken für die Reichen
einerseits und dem »größten Sparhammer in der
Geschichte der Bundesrepublik« (Stern, 7.6.2010)
andererseits. Der Hammerschlag trifft unmittelbar vor allem die
Erwerbslosen und ihre Kinder. Gekürzt wird auf der Bundes- und
der Länderebene. Übergangsgeld, Elterngeld und
Rentenbeiträge werden gestrichen sowie der Zugang zu
Eingliederungsmaßnahmen erschwert. Die schwarz-gelbe
Regierung Schleswig Holsteins plant für 2011 eine Halbierung
des Blindengeldes (Kieler Nachrichten, 1.7.10).
Moral statt Politik
Die Auswirkungen der Kürzungen werden von den Regierenden freilich geleugnet. So erklärte etwa Finanzminister Wolfgang Schäuble: »Wer dauerhaft von der Gemeinschaft abhängig ist, Alte oder Behinderte, wird von unserem Sparpaket nicht getroffen werden.« Und die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen erklärte, sie sei auch für »Rentner, Witwen, Waisen und Behinderte« zuständig; sie wolle sich schützend vor jene stellen, die an ihrer Lebenssituation nichts ändern könnten. Erwerbslose hingegen könnten etwas ändern, »wenn es uns gelingt, sie in Arbeit zu bringen« (ddp, 8.6.2010).Mit den Tatsachen der Sparpolitik haben diese Aussagen nichts zu tun, dafür gewähren sie Einblick in Denkungsart und Ideologie der Regierenden. Schäuble, Jahrgang 1942, scheint sich selber nicht zu den Alten und Behinderten zu zählen. Demokratisch wäre es gewesen, hätte er sie nicht als »Abhängige«, sondern in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger angesprochen. Seine Rede von der »Gemeinschaft« erlaubt ihm, vom Staat zu schweigen und politische Fragen in moralische umzubiegen. Kein Mensch weiß, was er von einer obskuren »Gemeinschaft« zu erwarten hat; gegenüber einem Staat kann er, zumindest theoretisch, Rechte einklagen. Wer von »Abhängigkeit« bei den einen spricht, unterstellt zugleich »Unabhängigkeit« bei den anderen. Wenn Banken Staatshilfen in Milliardenhöhe erhalten, scheint dies deshalb wohl nicht als »Abhängigkeit« zu gelten.
Von der Leyen ruft »Witwen und Waisen« auf und stellt sich damit in die Tradition einer bis ins antike Babylon zurückreichenden Formel der Herrschaftslegitimation; Rentner und Behinderte gesellt sie problemlos dazu. Den Erwerbslosen dagegen empfiehlt sie zwischen den Zeilen, nicht auf der faulen Haut zu liegen, sich redlich zu bemühen und an jene zu denken, denen es noch schlechter geht.
Die Minister kultivieren ein bemerkenswertes Schubladendenken. Sie tun so, als ob ein Mensch immer nur eines sein könne, entweder lohnabhängig oder behindert. Wenn Behinderte erwerbslos sind, dann trifft auch sie der »Sparhammer« mit voller Wucht. Übrigens verteilt Frau von der Leyen an sie keine Almosen. Besondere arbeitsplatzbezogene Eingliederungshilfen zum Beispiel werden aus sogenannten »Ausgleichsabgaben« finanziert. Diese müssen die Unternehmen an den Staat zahlen, wenn sie die gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquote für behinderte »Arbeitnehmer« unterschreiten.
Streichungspläne
Wie immer man die Aussagen der beiden Politiker dreht und wendet, sie sind nicht wahr. Wie Financial Times Deutschland (23.7.10) berichtet, sammelt eine Arbeitsgruppe im Auftrag von der Leyens »weitere Sparideen«. Für einen Teil der Betroffenen ist die Nutzung des oft nicht behindertengerechten öffentlichen Personennahverkehrs bisher gratis. Dieser sogenannte Nachteilsausgleich könnte, den Vorschlägen aus dem Arbeitsministerium gemäß, bald gestrichen werden. Auch soll »der Zugang zu Behindertenwerkstätten (…) für alle beschränkt werden, die einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente haben«.Um die Werkstattarbeitsplätze als solche wäre es nicht in jedem Fall schade. Oft bedeuten sie Aussonderung und viel Arbeit für wenig Geld. Aber mit ihnen würden nicht nur Verdienstmöglichkeiten wegfallen, um die bescheidene Rente aufzubessern, auch die sozialen Beziehungen vieler behinderter Menschen müßten erheblich darunter leiden. Bisher nicht vorgesehen ist eine Intensivierung der Bemühungen, alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für Behinderte in regulären Betrieben zu schaffen.
Über weitere Baustellen der Behindertenpolitik und Beispiele der Behindertenkultur informiert diese Beilage. Der österreichische Schriftsteller Erwin Riess erzählt von seinem neuen Roman »Herr Groll und der rote Strom«, von der Linken und der Donauschiffahrt. »Sex & Drugs & Rock & Roll« heißt ein neuer Film über das Leben Ian Durys, den Michael Zander bespricht. Thomas Wagner hat herausgefunden, daß es auch zehn Jahre nach ihrer demonstrativen Umbenennung in »Aktion Mensch« noch immer eine »Aktion Sorgenkinder« gibt – bei der Bundeswehr. Über die Situation behinderter Flüchtlinge in Berlin berichtet Eva Gebel. Udo Sierck rezensiert ein Buch von Anne-Dore Stein über den Nazitäter Wilhelm Polligkeit. Zu guter Letzt kommentiert Barbara Stötzer-Manderscheid, gesundheitspolitische Sprecherin der »Interessengemeinschaft Selbstbestimmt Leben«, Mängel im Gesundheitssystem und zu erwartende Auswirkungen der angekündigten »Reformen«.
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