Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Gegründet 1947 Montag, 23. Dezember 2024, Nr. 299
Die junge Welt wird von 3005 GenossInnen herausgegeben
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025 Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
Aus: literatur, Beilage der jW vom 06.10.2010

Stalin unter Eichenlaub

Der Ostberliner Lehrer Manfred Beier hat die DDR auf mehr als 60000 Fotografien gebannt
Von Robert Mießner
Bild 1

Das Schwarz-Weiß-Foto hat Film-noir-Qualitäten: Eine junge Frau, sie trägt Mantel mit Pelzbesatz, geht eine breite Magistrale hinunter. Hinter ihr verschwindet ein Auto im Regen. Zu ihrer Rechten türmt sich ein Kohlehaufen, auf der Höhe der nächsten Straßenlaterne kehrt ein Mann in Hut und Mantel dem Betrachter den Rücken zu. Die Straße ist die neubebaute Stalinallee in Ostberlin auf der Höhe Tilsiter Straße am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1952. Anfang Januar 1953 können die ersten Wohnungen in den Prachtbauten bezogen werden. Die DDR ist drei Jahre alt, der Zweite Weltkrieg liegt siebeneinhalb Jahre zurück. Das Alter der jungen Frau läßt vermuten, daß sie ihn bewußt erleben mußte. Sie hat ihn überlebt und lacht. Ein halbes Jahr später, am 17. Juni 1953, wird die DDR-Regierung nach Karlshorst flüchten und Bertolt Brecht ihr kurz darauf empfehlen, sich ein neues Volk zu wählen. Seit dem 13. November 1961 heißt die Straße Karl-Marx-Allee. Wohin es die Frau auf dem Foto verschlagen hat, wohin sie sich geschlagen hat, wissen wir nicht. Wir kennen aber ihr Namenskürzel: Fräulein S.

Manfred Beier, der Fotograf des Bildes, war ein akribischer Mann. Er hat über die Abertausenden Bilder, die er von 1949 bis zum Ende der DDR geschossen hat, gründlich Buch geführt. Als die Söhne Wolfram Gerhard und Nils Beier nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2002 seinen fotografischen Nachlaß in Kellerräumen und im Gartenhaus entdeckten, ahnten sie noch nichts von den Dimensionen ihres Fundes. Sie wußten: Manfred Beier trug stets mehrere Kameras und eine komplette Fotoausrüstung mit sich. Einen Beruf hat er daraus nicht gemacht. Beier, geboren in Berlin-Friedrichshain zwei Jahre vor der Weltwirtschaftskrise, zweites Kind eines Malergesellen und einer Hausfrau, wuchs in einer Kleingartenkolonie auf. Der Oberschüler erlebte den Krieg Hitlers und seiner Generäle als Luftwaffenhelfer und beim Volkssturm. Nach 1945 wollte er studieren. Statt dessen, Studienplätze gab es wenige, wurde er Neulehrer. Er unterrichtete Erdkunde, Deutsch, Englisch und Astronomie. 1980 schied Beier aus dem Schuldienst aus und war bis 1990 bei der Deutschen Außenhandelsbank tätig. Ein angefülltes Leben: Ein Foto von 1958 zeigt ihn mit seinem Vater bei der Bildentwicklung. Es ist 23.50 Uhr. Nils Beier, er hat an die 300 Fotografien seines Vaters aus den Jahren 1949 bis 1971 für den ziegelsteinschweren Band »Alltag in der DDR: So haben wir gelebt« ausgewählt, kann nur vermuten, was Manfred Beier antrieb: »Über das Warum kann ich nur spekulieren. Es hatte wohl etwas Zwanghaftes. Mir scheint, daß er sein Leben dokumentieren wollte, um es für sich selbst zu bewahren. Als ob er einen Beweis erbringen mußte, daß es überhaupt stattgefunden hat.«

Das Material ist strukturiert in die Kapitel Familienleben, Schule, Unterwegs, Arbeit, Freizeit und Berlin (Ost wie West). Die Fotos zeigen Beier und seine Freunde beim abendlichen Rommé-Spiel. Einer lehnt sich in Hemdsärmeln nebst Zigarre zurück. Mehr Genußmittel brauchen die Herren nicht. Ihre Frauen greifen dafür auf Konfekt und Likör zurück. Ein Kollegenkreis feiert und tanzt zu einem tausend Mark teuren Tonbandgerät im Vorbereitungsraum für den Unterricht. Gefeiert wird oft. Auf einem Farbfoto sieht die Familie fern. Das Gerät ist das Modell Staßfurt Patriot und bringt um 15 Uhr 40 das Testbild in Schwarzweiß. Manfred Beier packt mit seinen Söhnen ein Westpaket aus. Neubaublocks werden hochgezogen. Eine Schulklasse hört Westradio. Zehn Jahre vorher wird in der Lichtenberger Schule, an der Manfred Beiers Bruder Günther unterrichtete, Stalins 70. Geburtstag gefeiert. »Der verdiente Mörder des Volkes« (Brecht) erhält einen Schrein, staffiert mit Blumentöpfen und Eichenlaub. Starke Fotos im Kapitel »Arbeit«: Zwei Frauen schauen angetan und amüsiert einem Mann zu, der einen Preßluftbohrer bedient. Er trägt ein weißes Hemd und eine Haartolle. Das Bild entstand im Sommer 1950. Im Winter zuvor bat der Kutscher Georg S., ihn mit seinen zwei Pferden zu fotografieren: Er brachte Kriegsschutt auf den Trümmerberg nahe des Betriebsbahnhofs Rummelsburg. Der LPG-Vorsitzende Georg P. sitzt in Jackett und Mütze auf dem ersten Motorrad mit MZ-Logo und raucht dazu. Dann ist da wieder das Fräulein S. von der Stalinallee: Sie steht vor der Baustelle am Strausberger Platz und lächelt. Auf vielen dieser Fotos wirken die Porträtierten eins mit sich und ihrer Welt. Manfred Beier hat die gesamte Epoche der DDR porträtiert. Es wäre interessant, auch die Bilder zu sehen, die nach 1971 entstanden sind. Speziell die der achtziger Jahre.

Manfred Beier: Alltag in der DDR: So haben wir gelebt. Fotografien 1949–1971. Herausgegeben von Nils Beier. Fackelträger Verlag, Köln 2010, 288 Seiten, 29, 95 Euro.

Sämtliche Abbildungen dieser Beilage sind diesem Band entnommen und erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags und des Bundesarchivs.

Solidarität jetzt!

Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.

In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.

Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!