Bis auf die Knochen blamiert
Von Peter WolterSelten hat sich bürgerlicher Journalismus in Deutschland so
blamiert wie nach der Veröffentlichung brisanter Informationen
durch die Internetplattform Wikileaks: Die Mehrheit der
Kommentatoren empörte sich, Diplomatie werde unmöglich,
wenn die Vertraulichkeit diplomatischer Depeschen nicht mehr
gewährleistet sei.
Eine solche Haltung illustriert aber nur, wie tief die
publizistischen Standards in Deutschland in den vergangenen 30
Jahren gesunken sind: Immer mehr Journalisten reden Regierenden und
Wirtschaftsbossen nach dem Munde; Recherche findet nur noch selten
statt. Kritische Distanz und hartnäckiges Hinterfragen werden
als »Verschwörungstheorie« abgetan.
Okay, wir geben es zu: Wir sind Verschwörungstheoretiker. Und
darauf sind wir sogar stolz, denn nicht zuletzt durch Wikileaks
wird bestätigt, daß gesundes Mißtrauen
gerechtfertigt ist: Die USA sind alles andere als ein Hort der
Demokratie, die Bundesregierung ist politisch korrupt, die deutsche
Justiz ist keineswegs unabhängig.
Das alles könnten die bürgerlichen Journalisten-Kollegen
auch selbst herausfinden, wenn sie ihre Aufgabe ernst nähmen.
Dann allerdings müßten sie sich aufraffen, auch mal
nachzubohren, Themen gegen den Strich zu bürsten. Sie halten
sich gern an zwei zynisch gemeinte Grundsätze des
Journalismus: Durch Recherche macht man sich die schönste
Story kaputt. Und: Wer zu viel weiß, schreibt schlecht.
Statt dessen fühlen sie sich gebauchpinselt, wenn der
Regierungssprecher sie mit Namen anspricht, wenn sie zu
Hintergrundgesprächen ins Kanzleramt geladen und dort
»unter drei« zum Stillschweigen über Themen
verpflichtet werden, die der Regierung oder der jeweiligen Partei
peinlich sind. Sie wollen auch nicht auf Honorare für
Gastbeiträge oder die publizistische Beratung von
Versicherungen, Banken oder Industrieverbänden verzichten. Wer
selbst korrupt ist, hütet sich, andere der Korruption zu
bezichtigen. Im Gegenteil – um nicht ertappt zu werden,
stellt er die Korrupten, Unfähigen und Blender als
demokratische Lichtgestalten dar.
Und so werden Mythen in die Welt gesetzt und in den Köpfen
verankert: Guttenberg (CSU) ist ein begnadeter Politiker, Angela
Merkel (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) haben ökonomischen
Sachverstand, die BRD wird von den übrigen EU-Staaten
finanziell ausgenutzt, die Bundeswehr verteidigt die Freiheit, die
SPD ist »sozial«, Nobelpreisträger Liu Xiaobo hat
sich um Frieden bemüht. Die Erde ist eine Scheibe, aber das
wissen wir ja schon alle.
»Sie lügen wie gedruckt – wir drucken wie sie
lügen« – dieser Spruch ist mehr als ein
Werbeslogan unserer Zeitung, er ist auch eine Art redaktionelles
Programm. Lügen, Verzerrungen und Manipulationen durch Politik
und Mainstream-Medien haben wir schon immer aufzudecken versucht.
Die vorliegende Beilage ist zwar erst die zweite, die sich
ausschließlich dem Thema »Medien« widmet –
die nächste ist aber schon für den Februar avisiert. Und
außerdem überlegen wir derzeit, im kommenden Jahr eine
regelmäßige Medienseite zu bringen.
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Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
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