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Aus: literatur, Beilage der jW vom 17.03.2011

Daß es einem graut

Hans Falladas letzter Roman »Jeder stirbt für sich allein« erstmals ungekürzt
Von Franz Dobler
»Égérie et j’ai pleuré / Egeria / Muse und ich habe geweint = Et
»Égérie et j’ai pleuré / Egeria / Muse und ich habe geweint = Et j’ai ri et j’ai pleuré / und ich habe gelacht und ich habe geweint«

Das ist eine schöne Geschichte, die man jedem guten Verlag wünscht. Erfolg haben mit einem tollen Roman. Und nicht mit dem neuen Heimatmist, der nun auf der Krimischiene und oft noch mit Comedy-Einflüssen angelabert kommt oder dieser Gegenwartsliteraturabteilung, die so neobiedermeierlich um das Familiennachtkästchen hingehäkelt ist, daß man schon nach den ersten Zeilen (mit Wolfgang Pohrt gesprochen) einen fünfstöckigen Espresso braucht.

Der Aufbau Verlag hat nun einen Hit, den niemand auf der Rechnung hatte, »Jeder stirbt für sich allein« von Hans Fallada, 1947 erschienen und seit Jahrzehnten ziemlich vergessen; eine Geschichte vom alltäglichen Wahnsinn im Nazi-Berlin und vom Widerstand eines einfachen, eigentlich unpolitischen Arbeiterehepaars. Woher das Interesse für diesen Stoff 2011 in Deutschland?

Es hat schon eine gewisse Komik, daß es der ungeahnte und fulminante Erfolg in Großbritannien, USA, Israel und anderen Ländern ist, der zu einer deutschen Neuausgabe geführt hat (die sich erstmals an Falladas ursprüngliche Fassung hält, die, schreibt Almut Giesecke im Nachwort, für die Erstausgabe geglättet worden war). Und woher das Interesse im Ausland?

Der Erfolg von »Jeder stirbt für sich allein« beziehungsweise in der englischen Ausgabe »Alone in Berlin« zeige, »daß das britische Schwarzweißbild der Hitlerjahre endlich einer nuancierteren Wahrnehmung weicht«, schrieb Gina Thomas vor einem halben Jahr in der FAZ. Mag sein. Aber ich weiß nicht recht. »Endlich« also; und endlich nuancierter. Endlich haben die Briten mal erkannt, so interpretiere ich das, daß es nicht nur den Stauffenberg-Widerstand gab, der sich so unglaublich mutig formierte, als das Regime schon am Ende war, sondern auch einen Widerstand bei den ganz einfachen Leuten. Ich bin mir sicher, daß jeder Brite das schon immer wußte, aber sich sagte, fuckin’ so what, was hat’s geholfen, die Nuancen sind nun mal unter so einem großen Ganzen ziemlich egal. Was ja nicht heißt, daß so ein kleiner folgenloser Widerstand, wie ihn Fallada beschreibt, jemals egal wäre.

Alles Spekulation. Man würd’s eben gern wissen; weil dieses Nazi-Deutschland in Griechenland, Italien, England und vielen anderen Ländern nicht so vergessen ist, wie das die Deutschen gern hätten. Ich kann mir eher vorstellen, daß es sich irgendwie herumgesprochen hat, wie es Roger Cohen in der New York Times unter dem Titel »The Banality of Good« beschrieb: Falladas Roman vereinige »den Horror von Conrad, den Wahnsinn von Dostojewsky und das kühl Bedrohliche von Capotes ›Kaltblütig‹«. Mehr Sprengkraft kann man hinter einem Roman nicht aufbauen. Und wenn er bei seinem Erfolgslauf einen Tarantino-»Inglourious Basterds«-Effekt bekommen hat und als Nazi-Thriller im Supermarkt mitgenommen wird, dann vollkommen zu Recht.

Ich lasse den Text hier eine Stunde ruhen, und was passiert inzwischen? Weil der Sarrazin als Hetzredner grade etwas weniger herumkrakeelt, springt der Seehofer als dumpfer Haßredner ein. Keine Überraschung, aber immer wieder ekelhaft. Ja, Falladas letzter Roman ist bestens geeignet, um sich über die deutsche Leitkultur zu informieren.

Hans Fallada, berühmter Autor seit 1932, als er mit »Kleiner Mann – was nun?« einen Welterfolg hatte, blieb während der Naziherrschaft in Deutschland. Ein verfemter Autor, der sich – Wiglaf Droste hat es im Juli 2003 in einer Serie für diese Zeitung beschrieben – mehr schlecht als recht durchschlug und -schrieb, mit viel Alkohol, Morphium, Tragödien. Mal mußte er sich Dr. Goeb-bels vom Leib halten, dann war er als »gemeingefährlicher Geisteskranker« im Irrenhaus. Immer verzweifelt auf dem schmalen Grat arbeitend, den Nazis nicht ins Messer zu laufen und keine Naziliteratur zu schreiben. Es entstanden Werke, mit denen er nicht glücklich sein konnte.

Im Herbst 1946 konnte Fallada abrechnen. 668 Seiten, geschrieben in vier Wochen oder, wohl besser gesagt, reingehämmert, rausgekotzt; als hätte er geahnt, daß es seine letzte Chance war, es denen heimzuzahlen. Man spürt, daß er all seine Erfahrungen und seinen Haß reingepackt hat. Johannes R. Becher hatte ihm die Unterlagen über den Fall der Eheleute Hampel gegeben, die 1943 hingerichtet wurden, nachdem sie zwei Jahre lang Postkarten in Berlin ausgelegt hatten. Einige sind im Anhang abgebildet, auf der von der Gestapo als Nr. 176 registrierten heißt es: »Freie Presse! Fort mit dem Hitler Verreckungs System! Der gemeine Soldat Hitler und seine Bande stürzen uns in den Abgrund! Diese Hitler Göring Himmler Goebbels Bande ist in unser Deutschland nur Todes Raum zu gewähren!«

Um sein Ehepaar Quangel baut Fallada ein vollständiges Berliner Alltagsbild, macht einen kompletten Schwenk vom Mietshaus, zu dessen Bewohnern auch eine alte Jüdin und SS-Männer gehören, auf die Straßen. Sein Personal reicht vom Arbeiter Quangel über die kleine Nutte bis zur kleinen krakeelenden Nazigröße, die den Kriminalkommissaren vorgesetzt wurde. Eine Versammlung von Spitzeln, miesen Typen, verschlagenen, tretenden, kuschenden, herzlosen Drecksäcken. Eine überwältigende Trostlosigkeit, von der die wenigen Personen, die gegen das Pack sind, erdrückt werden. Oder wie Tucholsky über einen anderen Fallada-Roman schrieb, das ist »so unheimlich echt, daß es einem graut«. Wer glaubte, ein besseres Bild vom Unterschichten-Berlin haben zu können, wird es nuancierter sehen.

Ich habe nicht so viel und lange nichts von Fallada gelesen. Und bin überrascht, wie modern der Roman daherkommt. Durch die Aufsplitterung in 73 Kapitel, die sich gegenseitig permanent weiterzujagen scheinen. Drive, Szenenwechsel, Sogwirkung, Tempo. Das Gespür des Profis für Action und Cliffhanger. Der Stoff, aus dem die Amerikaner eine ihrer großartigen neuen Serien machen würden. Als hätte Fallada sich gesagt, hier ist das Hoffnungsloseste, was es gibt, aber ich will, daß ihr es lest, ich kriege euch, es ist ein Thriller. Der auch immer wieder einen grotesken, schneidenden Humor entwickelt, der vielleicht erst heute so ankommt. Wenn zwei kleine Spitzel die Wohnung der jüdischen alten Dame ausräumen möchten, sich dabei betrinken und von einem Nazi-Papa mit seinen eifrigen HJ-Jungs gestellt werden, die denselben Plan hatten, dann ist das auch eine komische Nummer, die mit jeder Zeile ins Bösartigste kippen kann.

Schwarzweiß wäre zu hell, Falladas Blick zieht uns in die tiefste Schwärze. Laßt den letzten Funken Hoffnung fahren. Selbst dieses Ehepaar ist ja trostlos mit seinen Postkarten, und erst nachdem der Sohn auf dem Schlachtfeld gefallen ist, beginnen sie mit ihrem Widerstand. Umgeben von kleinen Denunzianten, die hinter jeder Ecke auf ihren Verräter treffen, der schon von seinem Gestapo-Kontakt hängengelassen wird. Ausgerechnet Kommissar Escherich, der die Postkartenschreiber verfolgt, eine miese und mörderische Type, faszinierend in seiner Gerissenheit, begeht zuletzt Selbstmord und sieht sich als den einzigen Menschen, den Postkarten-Attentäter Quangel überzeugen konnte. Es gibt keine Klischeefiguren in diesem Roman, Fallada seziert jeden bis ins genaueste, und deswegen nannte es Primo Levi »das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde«.

Erst mit dem letzten Kapitel richtete der Autor den Blick nach vorn: »Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch beschließen, es ist dem Leben geweiht…« Kurz nach Kriegsende trifft ein Junge auf den Vater, der für ’ne halbe Zigarette alles und jeden denunziert hatte, und der Sohn ist von derselben Art. Doch der Sohn hat sich inzwischen geändert, ein neues Leben angefangen. Und nun verprügelt der Sohn den Vater, um ihn sich vom Hals zu halten. Das war Falladas Hoffnung kurz vor seinem frühen Tod. Was die Deutschen von diesem Bild und von seinem Buch hielten, erlebte er nicht.

Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Ungekürzte Neuausgabe, mit einem dokumentarischen Anhang. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 704 Seiten, 19,95 Euro

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