Daß es einem graut
Von Franz DoblerDas ist eine schöne Geschichte, die man jedem guten Verlag
wünscht. Erfolg haben mit einem tollen Roman. Und nicht mit
dem neuen Heimatmist, der nun auf der Krimischiene und oft noch mit
Comedy-Einflüssen angelabert kommt oder dieser
Gegenwartsliteraturabteilung, die so neobiedermeierlich um das
Familiennachtkästchen hingehäkelt ist, daß man
schon nach den ersten Zeilen (mit Wolfgang Pohrt gesprochen) einen
fünfstöckigen Espresso braucht.
Der Aufbau Verlag hat nun einen Hit, den niemand auf der Rechnung
hatte, »Jeder stirbt für sich allein« von Hans
Fallada, 1947 erschienen und seit Jahrzehnten ziemlich vergessen;
eine Geschichte vom alltäglichen Wahnsinn im Nazi-Berlin und
vom Widerstand eines einfachen, eigentlich unpolitischen
Arbeiterehepaars. Woher das Interesse für diesen Stoff 2011 in
Deutschland?
Es hat schon eine gewisse Komik, daß es der ungeahnte und
fulminante Erfolg in Großbritannien, USA, Israel und anderen
Ländern ist, der zu einer deutschen Neuausgabe geführt
hat (die sich erstmals an Falladas ursprüngliche Fassung
hält, die, schreibt Almut Giesecke im Nachwort, für die
Erstausgabe geglättet worden war). Und woher das Interesse im
Ausland?
Der Erfolg von »Jeder stirbt für sich allein«
beziehungsweise in der englischen Ausgabe »Alone in
Berlin« zeige, »daß das britische
Schwarzweißbild der Hitlerjahre endlich einer nuancierteren
Wahrnehmung weicht«, schrieb Gina Thomas vor einem halben
Jahr in der FAZ. Mag sein. Aber ich weiß nicht recht.
»Endlich« also; und endlich nuancierter. Endlich haben
die Briten mal erkannt, so interpretiere ich das, daß es
nicht nur den Stauffenberg-Widerstand gab, der sich so unglaublich
mutig formierte, als das Regime schon am Ende war, sondern auch
einen Widerstand bei den ganz einfachen Leuten. Ich bin mir sicher,
daß jeder Brite das schon immer wußte, aber sich sagte,
fuckin’ so what, was hat’s geholfen, die Nuancen sind
nun mal unter so einem großen Ganzen ziemlich egal. Was ja
nicht heißt, daß so ein kleiner folgenloser Widerstand,
wie ihn Fallada beschreibt, jemals egal wäre.
Alles Spekulation. Man würd’s eben gern wissen; weil
dieses Nazi-Deutschland in Griechenland, Italien, England und
vielen anderen Ländern nicht so vergessen ist, wie das die
Deutschen gern hätten. Ich kann mir eher vorstellen, daß
es sich irgendwie herumgesprochen hat, wie es Roger Cohen in der
New York Times unter dem Titel »The Banality of Good«
beschrieb: Falladas Roman vereinige »den Horror von Conrad,
den Wahnsinn von Dostojewsky und das kühl Bedrohliche von
Capotes ›Kaltblütig‹«. Mehr Sprengkraft
kann man hinter einem Roman nicht aufbauen. Und wenn er bei seinem
Erfolgslauf einen Tarantino-»Inglourious
Basterds«-Effekt bekommen hat und als Nazi-Thriller im
Supermarkt mitgenommen wird, dann vollkommen zu Recht.
Ich lasse den Text hier eine Stunde ruhen, und was passiert
inzwischen? Weil der Sarrazin als Hetzredner grade etwas weniger
herumkrakeelt, springt der Seehofer als dumpfer Haßredner
ein. Keine Überraschung, aber immer wieder ekelhaft. Ja,
Falladas letzter Roman ist bestens geeignet, um sich über die
deutsche Leitkultur zu informieren.
Hans Fallada, berühmter Autor seit 1932, als er mit
»Kleiner Mann – was nun?« einen Welterfolg hatte,
blieb während der Naziherrschaft in Deutschland. Ein verfemter
Autor, der sich – Wiglaf Droste hat es im Juli 2003 in einer
Serie für diese Zeitung beschrieben – mehr schlecht als
recht durchschlug und -schrieb, mit viel Alkohol, Morphium,
Tragödien. Mal mußte er sich Dr. Goeb-bels vom Leib
halten, dann war er als »gemeingefährlicher
Geisteskranker« im Irrenhaus. Immer verzweifelt auf dem
schmalen Grat arbeitend, den Nazis nicht ins Messer zu laufen und
keine Naziliteratur zu schreiben. Es entstanden Werke, mit denen er
nicht glücklich sein konnte.
Im Herbst 1946 konnte Fallada abrechnen. 668 Seiten, geschrieben in
vier Wochen oder, wohl besser gesagt, reingehämmert,
rausgekotzt; als hätte er geahnt, daß es seine letzte
Chance war, es denen heimzuzahlen. Man spürt, daß er all
seine Erfahrungen und seinen Haß reingepackt hat. Johannes R.
Becher hatte ihm die Unterlagen über den Fall der Eheleute
Hampel gegeben, die 1943 hingerichtet wurden, nachdem sie zwei
Jahre lang Postkarten in Berlin ausgelegt hatten. Einige sind im
Anhang abgebildet, auf der von der Gestapo als Nr. 176
registrierten heißt es: »Freie Presse! Fort mit dem
Hitler Verreckungs System! Der gemeine Soldat Hitler und seine
Bande stürzen uns in den Abgrund! Diese Hitler Göring
Himmler Goebbels Bande ist in unser Deutschland nur Todes Raum zu
gewähren!«
Um sein Ehepaar Quangel baut Fallada ein vollständiges
Berliner Alltagsbild, macht einen kompletten Schwenk vom Mietshaus,
zu dessen Bewohnern auch eine alte Jüdin und SS-Männer
gehören, auf die Straßen. Sein Personal reicht vom
Arbeiter Quangel über die kleine Nutte bis zur kleinen
krakeelenden Nazigröße, die den Kriminalkommissaren
vorgesetzt wurde. Eine Versammlung von Spitzeln, miesen Typen,
verschlagenen, tretenden, kuschenden, herzlosen Drecksäcken.
Eine überwältigende Trostlosigkeit, von der die wenigen
Personen, die gegen das Pack sind, erdrückt werden. Oder wie
Tucholsky über einen anderen Fallada-Roman schrieb, das ist
»so unheimlich echt, daß es einem graut«. Wer
glaubte, ein besseres Bild vom Unterschichten-Berlin haben zu
können, wird es nuancierter sehen.
Ich habe nicht so viel und lange nichts von Fallada gelesen. Und
bin überrascht, wie modern der Roman daherkommt. Durch die
Aufsplitterung in 73 Kapitel, die sich gegenseitig permanent
weiterzujagen scheinen. Drive, Szenenwechsel, Sogwirkung, Tempo.
Das Gespür des Profis für Action und Cliffhanger. Der
Stoff, aus dem die Amerikaner eine ihrer großartigen neuen
Serien machen würden. Als hätte Fallada sich gesagt, hier
ist das Hoffnungsloseste, was es gibt, aber ich will, daß ihr
es lest, ich kriege euch, es ist ein Thriller. Der auch immer
wieder einen grotesken, schneidenden Humor entwickelt, der
vielleicht erst heute so ankommt. Wenn zwei kleine Spitzel die
Wohnung der jüdischen alten Dame ausräumen möchten,
sich dabei betrinken und von einem Nazi-Papa mit seinen eifrigen
HJ-Jungs gestellt werden, die denselben Plan hatten, dann ist das
auch eine komische Nummer, die mit jeder Zeile ins Bösartigste
kippen kann.
Schwarzweiß wäre zu hell, Falladas Blick zieht uns in
die tiefste Schwärze. Laßt den letzten Funken Hoffnung
fahren. Selbst dieses Ehepaar ist ja trostlos mit seinen
Postkarten, und erst nachdem der Sohn auf dem Schlachtfeld gefallen
ist, beginnen sie mit ihrem Widerstand. Umgeben von kleinen
Denunzianten, die hinter jeder Ecke auf ihren Verräter
treffen, der schon von seinem Gestapo-Kontakt hängengelassen
wird. Ausgerechnet Kommissar Escherich, der die Postkartenschreiber
verfolgt, eine miese und mörderische Type, faszinierend in
seiner Gerissenheit, begeht zuletzt Selbstmord und sieht sich als
den einzigen Menschen, den Postkarten-Attentäter Quangel
überzeugen konnte. Es gibt keine Klischeefiguren in diesem
Roman, Fallada seziert jeden bis ins genaueste, und deswegen nannte
es Primo Levi »das beste Buch, das je über den deutschen
Widerstand geschrieben wurde«.
Erst mit dem letzten Kapitel richtete der Autor den Blick nach
vorn: »Aber nicht mit dem Tode wollen wir dieses Buch
beschließen, es ist dem Leben geweiht…« Kurz
nach Kriegsende trifft ein Junge auf den Vater, der für
’ne halbe Zigarette alles und jeden denunziert hatte, und der
Sohn ist von derselben Art. Doch der Sohn hat sich inzwischen
geändert, ein neues Leben angefangen. Und nun verprügelt
der Sohn den Vater, um ihn sich vom Hals zu halten. Das war
Falladas Hoffnung kurz vor seinem frühen Tod. Was die
Deutschen von diesem Bild und von seinem Buch hielten, erlebte er
nicht.
Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein. Ungekürzte Neuausgabe, mit einem dokumentarischen Anhang. Aufbau Verlag, Berlin 2011, 704 Seiten, 19,95 Euro
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