Das dicke Ende kommt noch
Von Jörn BoeweHartz IV regt niemanden mehr wirklich auf«, schrieb die
Frankfurter Allgemeine dieser Tage. Nun ist auch nicht jeder
gedruckte Blödsinn wirklich aufregend. Und daß es
für den »klugen Kopf« von Redakteur, der hinter
diesem Zeitungsartikel steckt, ganz okay ist, wenn ein Drittel der
Gesellschaft für Kost und Logis arbeitet, solange er seinen
gehobenen Lebensstandard halten kann, kann man sich denken.
Bemerkenswert war daran nur, daß es sich um einen Text
handelte, der durchaus wohlwollend darüber sinniert, »ob
die Linke es bis 2013 schafft, wieder politisches Gewicht zu
bekommen«. Forderung nach Mindestlöhnen, Kritik an Hartz
IV, radikale Absage an den Afghanistan-Einsatz – »diese
Themen ziehen nicht mehr«, weiß der Autor. Gemeint ist
natürlich nicht die Linke, sondern »Die Linke«.
Aber auch das wäre noch nicht interessant, wenn diese Art von
Politikberatung in jüngster Zeit nicht ein bißchen
überhandnehmen würde.
Und nicht nur das: Die Debatte wirkt wie bestellt.
Parteifunktionäre, die als »Reformer« firmieren
(ohne daß man von ihnen bislang allzuviel konkrete
Reformvorschläge vernommen hat), tröten in dasselbe Horn.
»Unsere Kernthemen erodieren in der öffentlichen
Wahrnehmung, und mit den alten Mitteln Protest und Kritik kommen
wir nicht weiter«, erzählt André Brie, von Beruf
»Linken-Vordenker«, der Frankfurter Rundschau –
grad so, als hätten er und seine Genossen jahrelange
Straßenkämpfe hinter sich – und rät seiner
Partei, sich »nicht in Träumen von massenhafter
Verstaatlichung« zu verlieren, grad so, als ob irgendjemand
dies fordern würde.
Offensichtlich besteht ein gesteigertes Interesse daran, die
Linkspartei bis 2013 regierungsfähig im Bund, im Klartext:
kompatibel für die Bedürfnisse des deutschen
Großkapitals und, sagen wir, des oberen einen Prozents der
Bevölkerung zu machen. Und das Interesse scheint
beiderseitig.
Wenn sich deutsche Leitmedien bemühen, ein »linkes
Reformprojekt« herbeizuschreiben, sollten die Warnleuchten
angehen – zumindest bei allen, die die Episode
Schröder/Fischer noch in Erinnerung haben. Das deutsche
Besitzbürgertum fühlt sich in ruhigen Zeiten mit einer
konservativ-liberalen Regierung am wohlsten. Wenn die
Verhältnisse instabil werden, präferiert es eine
große Koalition. Sauereien von historischem Ausmaß
überläßt man seit der Jahrhundertwende am liebsten
Mitte-Links: Das war so bei der weitgehenden Zerschlagung der
Arbeitslosenversicherung und Etablierung eines »der besten
Niedriglohnsektoren (...), den es in Europa gibt«, wie sich
seinerzeit Kanzler Gerhard Schröder ausdrückte. Das
könnte sich wiederholen, wenn die Masse der Bevölkerung
die komplette Rechnung über die Kosten der Bankenrettung und
Krisenbewältigung präsentiert bekommt: Ab 2016 greift die
Schuldenbremse im Bund, ein ausgeglichener Haushalt ist zwingend
vorgeschrieben, ab 2020 gilt das uneingeschränkt auch für
die Länder. Für die Durchsetzung der künftigen
Kahlschlagspolitik könnte manchem bürgerlichen Strategen
eine zahme Linke in der Regierung sinnvoller erscheinen als eine
unzuverlässige auf der Straße.
Allerdings ist auch die andere, rechtpopulistische Option nicht vom
Tisch. Auch wenn der Wortführer der neuen Deutschnationalen
SPD-Mitglied ist und, wie wir seit Ostern wissen, bis auf weiteres
auch bleibt. Sarrazin hat ihnen allen den Rang abgelaufen: Roland
Koch, René Stadtkewitz, Udo Voigt – keiner hat den
Nerv, wenn schon nicht der Massen, so immerhin der professionellen
Meinungsführer in Drecks- und Qualitätspresse je so
getroffen wie der Herrenreiter aus Berlin-Westend mit seinem roten
Parteibuch.
Interessanter als die Überlegung, ob die Talfahrt in Richtung
Sozialabbau und Prekarisierung unter »linker« oder
rechter Flagge fortgesetzt wird, wäre die Frage, wann es in
dieser Republik endlich mal knallt – wie in Tunis, Reykjavik,
Lissabon, Madison. Wir wissen es auch nicht. Aber fest steht,
daß so etwas vorkommt, obwohl niemand, weder Rechte noch
Linke (ja nicht mal die »Mitte«, die momentan wieder
schwer im Kommen ist), etwas davon geahnt hat.
Arbeiter und Studentenproteste in Wisconsin, Illinois, Pennsylvania, Virginia – Februar, März, April 2011: Hunderttausende gingen gegen geplante Renten- und Sozialkürzungen sowie Einschränkungen des Streik- und Tarifrechts auf die Straße. Die Fotos dieser Beilage zeigen Eindrücke von diesen Arbeitskämpfen.
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