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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 18.12.2013

Europäische Abwärtsspirale

Zur Lage kranker und behinderter EU-Bürger angesichts der internationalen Wirtschaftskrise
Von Michael Zander
Selbsterfahrung durch Ausdruckstanz: Die Fotos dieser Beilage ze
Selbsterfahrung durch Ausdruckstanz: Die Fotos dieser Beilage zeigen Mitglieder der Tanzgruppe »Fusion­ arte« während einer Übungsstunde in Madrid im April 2013. Der argen­ tinische Choreograph und Tänzer Pau Vazquez gründete das Ensemble 2007.

Regelmäßig berichten hiesige Medien über ökonomische Verwerfungen vor allem in den südlichen Ländern der Europäischen Union. Art und Blickwinkel ihrer Darstellungen sind aber oft verharmlosend, deutschtümelnd selbstgerecht und markt-, das heißt kapitalkonformistisch. Hinter dem Geschwätz der Pressekonferenzen, den inhaltslosen Nachrichten von Gipfeltreffen oder der voyeuristischen Zurschaustellung individueller Armut verschwinden die Massenhaftigkeit des Elends und die Systematik der Ursachen. Die sogenannte europäische Austeritätspolitik, die den Bevölkerungen die Lasten des Kapitals aufbürdet, wird auch und gerade auf Druck der deutschen Regierung durchgesetzt. Man schröpft vor allem diejenigen, von denen man die geringste Gegenwehr erwartet. Zu diesen gehören, aller Rhetorik über »Inklusion« und »Teilhabe« zum Trotz, nicht zuletzt kranke und behinderte Bürger.

Offensichtlich ist dies in den von der Krise besonders schwer getroffenen Ländern. Die griechische Regierung, so ist in einer Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung nachzulesen, kürzte 2011 das öffentliche Budget für orthopädische Hilfsmittel wie Rollstühle oder Prothesen um 50 Prozent. Halbiert wurde auch die Finanzierung von Gebärdenübersetzungen für Gehörlose. Spätestens seit diesen und weiteren drastischen Einschnitten gehen viele Behinderte in Griechenland, zum Teil buchstäblich, auf die Barrikaden.

Ähnliche Entwicklungen gibt es in Spanien. Anfang Dezember 2012 beteiligten sich in Madrid zehntausende Behinderte, Pflegebedürftige und Pflegekräfte an einer landesweiten Demonstration. Die spanische Regierung hatte zuvor die Kürzung von 2,7 Milliarden Euro im Pflegebereich angekündigt. Zudem litten Betroffene und Pflegekräfte unter der mangelnden Zahlungsmoral und der schleppenden Bearbeitung von Anträgen durch die Behörden. Unter den 75000 Menschen, die im November des Jahres ihre Arbeit verloren hatten, waren insbesondere viele Pflegekräfte (Neues Deutschland, 6.12.12).

Rückschläge

Derartige Probleme sind aber keineswegs auf diese Länder beschränkt. Dies zeigt ein Bericht, den das European Founda­tion Centre (EFC), eine Dachorganisation von internationalen Stiftungen, im Oktober 2012 veröffentlichte. Dem Report zufolge sind Behinderte EU-weit besonders von Armutsrisiken betroffen. Vor allem in Rumänien und in Großbritannien seien behinderte Beschäftigte unter den ersten, die ihre Arbeit verlieren. Britische und irische Studien weisen zudem darauf hin, daß die ökonomische Krise die psychische Gesundheit sowohl der Beschäftigten als auch der erwerbslosen Bevölkerung beeinträchtigt; Arbeitsbelastungen sowie Medikamenten- und Alkoholmißbrauch nähmen deutlich zu. Mit Blick auf Ungarn weist der Bericht ausdrücklich auf die negative Rolle der neuen Verfassung hin, die von den Rechtspopulisten um Ministerpräsident Viktor Orbán erlassen wurde. Dieser zufolge ist der Staat nicht mehr verpflichtet, den vom Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen ein existenzsicherndes Einkommen zu garantieren.

EU-weit ist dem Bericht zufolge der frühere Trend »ambulant vor stationär« ins Gegenteil verkehrt worden. Menschen würden zunehmend wieder in Heimen untergebracht, weil die Mitgliedsstaaten ihnen die nötigen Mittel für ein Leben in den eigenen vier Wänden verweigerten. Zudem würden die stationären Leistungen verschlechtert: So erhöhte Portugal die Bettenzahlen pro Zimmer in der stationären Pflege und reduzierte die Quadratmeter Wohnraum, auf die ein Mensch im Heim Anrecht hat. Besonders dramatisch ist die Situation wiederum in Griechenland, wo es in den psychiatrischen Kliniken an elementaren Dingen wie Nahrungsmitteln, Medizin, Toilettenpapier, Bettzeug und ausreichender Stromversorgung fehlt.

Die wirtschaftliche Repression hat auch in ideologischer Hinsicht Folgen. Die Autoren verzeichnen die Rückkehr zu einem auf medizinische Aspekte reduzierten Verständnis von Behinderung. Soziale Modelle, die stärker gesellschaftliche Dimensionen berücksichtigen, seien demgegenüber in der Defensive. Verändert haben sich auch die Einstellungen in der Bevölkerung: Wie Untersuchungen aus dem Vereinigten Königreich und Irland zeigen, überschätzten Befragte das Ausmaß von »Sozialbetrug« durch Behinderte und führten zur Begründung ihrer Mutmaßungen Mediendarstellungen an. Zugenommen hat außerdem die Ablehnung einer gemeinsamen Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Kindern. Die vielfach gehegte Illusion, man könne Behindertenrechte durch selbstgenügsame Lobbypolitik schützen, ohne den größeren gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen, dürfte angesichts solcher Tendenzen zumindest angeschlagen sein.

Gegen Sprachkosmetik

Krisengewinnler Deutschland, dessen Leistungen an seinem gesamtgesellschaftlichen Reichtum zu messen sind, wird unverdienterweise nur wenig kritisiert. Man konstatiert lediglich, daß hierzulande die Spaltung zwischen den gesetzlich Pflegeversicherten und denjenigen wächst, die privat versichert sind. Aktuelle Nachrichten wie die, daß in Sachsen-Anhalt das Blinden- und Gehörlosengeld gekürzt wurde, ließen sich gut in eine Neuauflage des EFC-Reports einfügen. Und der frisch ausgeknobelte Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD gibt einen Vorgeschmack auf die Zukunft. Er enthält zwar einige noble Absichtserklärungen, insbesondere im Bereich Arbeit hört aber der Spaß auf: Man möchte die »Beschäftigungssituation nachhaltig verbessern« und nennt im Folgesatz exemplarisch die »Stärkung des ehrenamtlichen Engagements (!) der Schwerbehindertenvertretungen«; außerdem seien »Arbeitgeber« zugunsten einer Beschäftigung Behinderter zu »sensibilisieren«.

Was die Koalition mit dem von ihr geplanten Bundesleistungsgesetz bezwecken könnte, erklärt Sonja Kemnitz in ihrem Beitrag für diese Beilage. Unser Autor Claude Lessing berichtet über die Proteste gegen unseriöse Begutachtungsverfahren als Instrument des Krisenmanagements in Großbritannien. Udo Sierck nimmt die Sprachkosmetik rund um den Inklusionsbegriff aufs Korn. Von seiner Recherche über die faschistischen »Euthanasie«-Morde in Berlin erzählt der US-Schriftsteller Kenny Fries. Anne Garten analysiert, welche Botschaften uns die behinderten Charaktere der Fantasy-TV-Serie »Game of Thrones« vermitteln. Der Psychiater ­Theiß Urbahn erläutert den problematischen Doppelcharakter der Psychiatrie und weist Perspektiven zu dessen Überwindung.

Diese Beilage ist dem Linke-Politiker und Freund Stephan Lorent gewidmet, der in der Nacht zum 29. November einem Krebsleiden erlag. Lorent, Jahrgang 1961, kam mit einer Contergan-Schädigung zur Welt. Zuletzt war er Koordinator der BAG Selbstbestimmte Behindertenpolitik der Partei. 2011 schrieb er für die Beilage der jungen Welt einen Artikel darüber, was nötig wäre, um Behindertenwerkstätten zugunsten der in ihnen Beschäftigten überflüssig zu machen.


Selbsterfahrung durch Ausdruckstanz: Die Fotos dieser Beilage zeigen Mitglieder der Tanzgruppe »Fusionarte« während einer Übungsstunde in Madrid im April 2013. Der argentinische Choreograph und Tänzer Pau Vazquez gründete das Ensemble 2007 in der spanischen Hauptstadt. Seither unterrichten er und drei weitere Trainer dort jeden Samstag Gruppen von 20 erwachsenen Männern und Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen. Die Aufnahmen stammen von der Reuters-Fotografin Susana Vera.

Der Bericht des European Foundation Centre ist abrufbar unter: http://kurzlink.de/european-report

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