Das Versagen der Medien
Von Linn Washington33 Jahre, ein Monat und zwei Tag sind vergangen, seitdem Mumia Abu-Jamal am 9. Dezember 1981 verhaftet wurde. Seitdem sitzt er im Gefängnis, 12.052 Tage (am 10. Januar 2015 - jW). In dieser Zeit sind seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder gestorben, er konnte nicht an den jeweiligen Begräbnissen teilnehmen. Mehr als 20 von diesen 33 Jahren durfte er keinen physischen Kontakt mit irgend jemanden haben, weil er in der Todeszelle saß. Während dieser 12.000 Tage im Gefängnis oder 17 Millionen Minuten starb vor kurzem auch eine seiner Töchter. Sie war die Mutter von zwei seiner Enkelkinder.
Ich möchte hier zwei Dinge tun. Erstens möchte ich über die Medien sprechen, insbesondere über die in den USA, generell über Medien in den Demokratien. Zweitens möchte ich über Mumia sprechen, so wie ich ihn kenne. Die Ungerechtigkeit, die er erleidet, erleiden auch viele andere politische, aber auch normale Gefangene in den USA. Im März 2014 verabschiedete der Menschrechtsausschuss der Vereinten Nationen einen Bericht, der die USA wegen deren Versagen bei der Umsetzung der internationalen Konvention zu bürgerlichen und politischen Rechten scharf kritisierte. Der Fall Mumias spiegelt viele der Erkenntnisse des Berichtes wider. In ihm ist die Rede von Folter und Drohnenangriffen, von der Misshandlung von Emigranten, von Polizeibrutalitäten – das waren wichtige Informationen. Denn die USA stellen sich der Welt gegenüber dar als wichtigster Verteidiger der Menschenrechte. In diesem Papier – und es ist nur das neuste in einer langen Reihe über viele Jahrzehnte hinweg – lesen wir, dass die USA die Menschenrechte grob missachten. Man sollte meinen, dass das eine Nachricht wert ist. Denn wir haben Tageszeitungen, das Internet, wir haben Fernsehkanäle, wir haben mehr Nachrichtenmedien in den USA als in den meisten Ländern weltweit, aber wir erhalten sehr wenig substantielle Nachrichten.
Die Tageszeitungen der USA brachten sehr wenig über diesen Bericht. Die New York Times veröffentlichte nur einen kleinen Artikel mit 180 Wörtern auf der Seite zehn, also nicht auf der Titelseite, sondern weit hinten. Passiert allerdings irgend etwas in Russland, in Nordkorea, im Iran oder auf Kuba, ist das immer eine Schlagzeile auf der Titelseite wert. Immerhin hat die New York Times überhaupt etwas dazu geschrieben, die großen Fernsehnachrichtensender wie CNN, Fox, IBC, CNBC und all die anderen Kanäle brachten nichts.
Alltag Polizeibrutalität
Die wichtigsten Passagen des Berichts bezogen sich auf Polizeibrutalität und auf die Ungleichheit im Strafrechtssystem der USA. Vor einigen Monaten, im August 2014, also fünf Monate nach der Veröffentlichung dieses Berichtes durch die UN, erschoss ein Polizeioffizier in Ferguson/Missouri einen Teenager. Die Nachrichtenmedien informierten über diesen Mord, behandelten ihn aber, als wäre das ein isoliertes Ereignis. Sie tun so, als ob Polizeibrutalität nicht endemisch wäre, als ob es nicht an jedem Tag immer wieder gleiches gäbe.
Bereits 1951 bereitete eine Gruppe schwarzer und weißer US-Amerikaner eine Eingabe für die UN vor. Sie wollten die USA anklagen, einen Völkermord an den afrikanisch-amerikanischen Bürgern zu verüben. Die Regierung wurde wütend, zog die Pässe der Betreffenden ein und schickte die Gattin des Präsidenten zu den UN. Sie sollte dort erklären, alles sei in Ordnung. Das war vor mehr als 60 Jahren, und schon damals ging es um Polizeibrutalität, also um genau das gleiche, was im Bericht vom vergangenen Jahr wieder zu lesen ist. Es war das gleiche, was mein Kollege Mumia zu erleiden hat seit seiner Verhaftung. Es ist schwierig, in den USA bei Misshandlungen durch die Polizei die Wahrheit herauszufinden. Denn zu viele, die in den Medien arbeiten, ignorieren ihre Berichtspflicht und ihre Verantwortung, Schuldige zur Rechenschaft zu ziehen. Die Pressefreiheit ist eine Institution in den USA, aber das passiert nicht. Armut, Polizeibrutalität, Klassenkampf – all das kommt in den Medien praktisch nicht vor, schon gar nicht der Fall Mumia.
Im August 2011 wurde der 29jährige Mark Duggan in London von der Polizei ermordet. Das führte zu Aufständen in ganz Großbritannien. Wegen solcher von Polizeibeamten verursachten Todesfälle in Gefängnissen oder auch in psychiatrischen Anstalten finden in London praktisch in jedem Jahr Demonstrationen statt. Die Protestierenden gehen vom Trafalgar Square bis Downing Street Nr. 10, dem Sitz des Premierministers. Sie werden natürlich nicht vorgelassen. Über die Aufstände im August 2011 in London wurde breit berichtet, die Probleme aber, die dem Ausbruch zugrunde lagen, wurden ebenso ignoriert wie diese Demonstrationen.
Was waren die Anlässe für die Revolte? Das waren die Sparprogramme der Regierung, das Zurückschrauben der sozialen Hilfsprogramme, damit man Unternehmen, Banken und Reichen Steuererleichterungen anbieten kann. Die Medien ignorierten die systemische Armut in London, etwa dem Bezirk, in dem die Aufstände begannen, in Tottenham. Er hat die höchste Arbeitslosenrate in ganz London. Im folgenden Jahr, als die Olympischen Spiele in London stattfanden, erklärte man dem IOC, die olympische Bewegung werde genutzt, um den Armen zu helfen und die Infrastruktur auszubauen. Was haben die Leute in den Armenvierteln erhalten? Nichts. Die Arbeitslosigkeit in Tottenham ist immer noch unwahrscheinlich hoch, wie auch in jenen Vierteln, die unmittelbar an die olympischen Spielstätten grenzen. Die britischen Medien stellten so gut wie keine Verbindung zwischen der Armut und der Rebellion her. Sie gaben im Prinzip wieder, was die Behörden erklärten. Demnach war dieser Aufstand von Krawallmachern verursacht, von Hooligans, von den Leuten, die Turnschuhe und Bildschirme stahlen.
Selektive Berichte
Ich war 2011 drei Wochen nach dem Aufstand in Tottenham und bemerkte etwas Interessantes, über das in den Medien überhaupt nicht berichtet worden war: Die Polizeistationen der betreffenden Viertel waren abgebrannt, die Busse und andere Fahrzeuge der Polizei, außerdem Regierungsgebäude und – bemerkenswert – die kleinen Spielkasinos. Geschäfte und Wohnhäuser waren nicht in Brand gesteckt worden. Diese Spielkasinos gibt es überall in London, und die Leute in Tottenham hatten lange deren Schließung von den Behörden verlangt. Die hatten das abgelehnt, und als die Aufstände begannen, brannten sie diese Dinger ab. In den Medien wurde das mit keinem Wort erwähnt.
Ähnliches gilt für die US-Medien und ihre Berichterstattung über den Mord an Michael Brown in Ferguson. Sie machen einfach nicht ihren Job, die Öffentlichkeit zu informieren, die Behörden zur Verantwortung zu ziehen und über deren Untaten zu berichten. Um es aber klar zu sagen: Dieses Versagen der Medien ist nicht auf die USA oder Großbritannien beschränkt. Die parlamentarischen Demokratien in der ganzen Welt haben große Probleme bei der wahrheitsgemäßen Berichterstattung der Medien. Generell ist es z. B. in den Vereinigten Staaten nahezu unmöglich, Nachrichten über einen Verbündeten zu veröffentlichen, der ein brutales Besatzungsregime errichtet hat. Denken Sie an Marokko, das illegal seit 1985 die Westsahara okkupiert. Dazu gehört, dass dort bei Demonstrationen oder einfach nur, weil sie dort sind, Frauen und Kinder zusammengeschlagen werden. Marokko hat in der Westsahara eine Mauer, einen Wall entlang der Grenze zu Algerien gebaut, bis hin nach Mauretanien. Vor einigen Wochen war ich in Algerien und habe diese Mauer gesehen. Marokko gibt drei Millionen US-Dollar täglich aus, für über 100.000 Soldaten entlang dieser Mauer. Sie soll die Freiheitskämpfer der Polisario draußen halten. Woher bekommen sie das Geld? Aus der Westsahara. Sie plündern das Land aus. Westsahara hat sehr viel Phosphate, Eisenerz und Uran, es gibt Landwirtschaft und Fischerei. Allein der vor der Küste gefangene Fisch bringt jährlich vier Milliarden US-Dollar ein. Mit dem geraubten Geld kann Marokko diese Mauer und diese Besatzung finanzieren. Für das Volk der Westsahara ist das eine Hölle. Es wird diskriminiert, ähnlich wie das Israel in der Westbank macht. Systematisch werden mit finanzieller Unterstützung des Staates Marokkaner angesiedelt.
Von solchen Dingen hören und lesen wir so gut wie nichts. Dafür wurde in den USA viel zum Fall der Mauer in Berlin vor 25 Jahren berichtet. Darüber herrscht Freude, aber über die marokkanische Mauer wird nicht informiert. Und dieses Bauwerk ist klein im Vergleich mit der Mauer, die Israel in der Westbank baut.
Die marokkanische Regierung gibt jährlich übrigens Millionen US-Dollar aus, um Journalisten in Frankreich, Italien und den USA für freundliche Artikel über das Land zu bezahlen. Journalisten dürfen weder der Zensur von Regierungen noch der großer Unternehmen unterliegen, aber auch nicht der Selbstzensur. Journalisten wissen sehr häufig, wenn ihre Chefs nicht möchten, dass man über dieses oder jenes schreibt und zensieren sich selbst. Das mag verständlich sein, sie möchten ihren Job behalten, aber sie müssen mehr tun als im Augenblick. Sie haben eine Verantwortung, der sie besser gerecht werden müssen.
Mumias Haft
Zum Schluss möchte ich noch etwas von meinem Kollegen Mumia Abu-Jamal erzählen. Ich habe ihn 1973 zum ersten Mal getroffen, als wir in einer Radiostation in Philadelphia arbeiteten. Ich sah mich damals als Jazz-Discjockey, wollte mein Leben lang Platten spielen, er wollte aber Nachrichten machen. Wir wurden Freunde. Als er 1981 von der Polizei verhaftet wurde, verfolgte ich seinen Fall, berichtete immer wieder über ihn. Die Mängel des Strafsystems in den USA halten ihn im Gefängnis fest. Man hat einfach neue Gesetze beschlossen, nur um ihn im Gefängnis zu behalten. Auch darüber wird nicht informiert, auch wenn sich die Berichterstattung etwas zum Positiven verändert hat, aber nicht viel. In Pennsylvania wurde ein neues Gesetz verabschiedet, wonach die Webseite eines Gefangenen geschlossen werden kann, wenn sie für die Familie des Opfers eine psychische Belastung darstellt.
Wir haben in den USA noch einen langen Weg vor uns, insbesondere was die Medien angeht. Glücklicherweise gibt es neue und sehr lebendige linke Medien, aber leider sind die meisten Menschen in den USA zu faul. Sie verstehen nicht, dass sie nicht nur die Pflicht haben, sich zu informieren, sondern dass sie praktische Schritte gehen müssen, um zu verstehen, was passiert. Tun sie es nicht, können sie für lange Zeit von der Regierung kontrolliert werden. Und das ist nicht gut, unabhängig davon, ob man sich in einer Demokratie oder in einem faschistischen Staat befindet.
Linn Washington ist Journalist und Professor für Publizistik an der Temple-Universität in Philadelphia. Er ist langjähriger Weggefährte und Freund von Mumia Abu-Jamal. Er ist Mitbegründer des Onlinemagazins This Can't Be Happening, in dem er wöchentlich eine Kolumne zu Medien und zum Strafrechtssystem der USA veröffentlicht.
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