Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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Aus: Land & Wirtschaft, Beilage der jW vom 10.08.2016

Bauernlegen 4.0

Die Milchpreiskrise hat zu massenhaftem Höfesterben geführt. »Hilfen« aus Brüssel verschärfen die Situation in der EU – und tragen zur Vernichtung von Existenzen in Entwicklungsländern bei
Von Jana Frielinghaus
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Wut in Brüssel: Im September vergangenen Jahres protestierten rund 6.000 Bauern aus ganz Europa gegen die EU-Agrarpolitik und fehlende Unterstützung für notleidende Milchbauern und Mäster

Auch Burkhard Schultz denkt ans Aufhören. »Diese Verluste, die wir hier täglich erleiden, das hält niemand durch«, sagt der Chef der Landwirtschaftlichen Produktions- und Dienstleistungsgenossenschaft Biesen nahe Wittstock. In dem 1.500-Hektar-Betrieb im Nordwesten Brandenburgs werden täglich 300 Kühe gemolken. Seit zwei Monaten bekommt der Betrieb weniger als 20 Cent pro Liter Milch ausgezahlt. Schon im Herbst 2014 sanken die Preise von damals 37 bis 40 Cent stark ab. Kurz nach dem Fall der EU-Milchquote Ende März vergangenen Jahres brachen sie weiter ein auf 25 bis 29 Cent, verharrten lange auf diesem längst nicht kostendeckenden Niveau und stürzten seit April/Mai noch einmal ab.

Burkhard Schultz ist sicher, »dass man weder mit 20 noch mit 22 Cent pro Liter die Milcherzeugung nachhaltig rentabel organisieren kann«. Niemand könne das in Deutschland. »Für uns wären 35 bis 37 Cent kostendeckend, um nachhaltig produzieren zu können«, sagt er. Das bedeutet, dass auch anfallende Ersatzinvestitionen eingerechnet sind: Bausubstanz muss erhalten, veraltete und marode Technik ausgetauscht werden. In seinem Betrieb sind derzeit 20 Menschen in Lohn und Brot. Wird die Milchviehhaltung eingestellt, stünden mindestens acht von ihnen ohne Job da. Warum die Kühe noch da sind? »Wir haben schon in den 90er Jahren eine Tochtergesellschaft gegründet, in der Mutterkühe gehalten und Mastrindkälber aufgezogen werden«, berichtet Burkhard Schultz. »Weil wir uns auch als Zuchtbetrieb einen Ruf erarbeitet haben, können wir Tiere oft zu einem guten Preis verkaufen. Weil wir dieses weitere Standbein haben, kommen wir zur Zeit trotz dieser wirklich katastrophalen Krise noch über die Runden.«

Das Problem für Milchviehhalter: Sie haben Ställe, die vor zehn, 20 oder 30 Jahren mit Hilfe von langfristigen Darlehen gebaut wurden. Der Pachtzins für die bewirtschafteten Flächen steigt seit Jahren parallel zu den Bodenpreisen. Denn nach der Finanzkrise 2007/2008 entdeckten Spekulanten Ackerland als sichere Anlage. Dazu kommt: »Die Milch muss jeden Tag weg, um frisch verarbeitet zu werden«, so Burkhard Schulz. Man kann sie nicht wie Getreide zurückhalten und auf einen besseren Preis warten.

Wegen der Krise haben viele Bauern inzwischen weitere Kredite aufgenommen – in der Hoffnung auf in absehbarer Zeit bessere Verhältnisse. Sie stecken längst in einer Art Schuldknechtschaft nicht nur gegenüber Banken, sondern auch gegenüber Maschinen-, Futter-, Saatgut-, Düngemittel- und Spritzmittelhändlern fest. Viele müssen ihre Ernte schon vor der Saat bei Lieferanten verpfänden.

Aktuell kommt hinzu, dass der Preis von Weizen, Gerste und Co. trotz eines international sinkenden Angebots an den Börsen offenbar künstlich klein gehalten wird. Burkhard Schultz: »Die Getreidepreise sind derzeit um 20 bis 30 Prozent niedriger als im vergangenen Jahr. Dazu kommt, dass bei uns auch der Ertrag deutlich schlechter ausfallen wird.«

Die Zwangslage der Milchviehhalter strahlt unterdessen längst auf die erwähnten Handelspartner aus, unter denen zahlreiche kleine und mittlere Bau- und Handwerksbetriebe sind. Sie führt in erheblichem Umfang zu Kurzarbeit und Entlassungen im ländlichen Raum.

Zwar sind heute nur noch 1,5 Prozent der Beschäftigten direkt in der Landwirtschaft tätig. Aber die Jobs Hunderttausender, also auch diejenigen in der lebensmittelverarbeitenden Industrie, sind von ihr abhängig. Einem Bericht des Deutschen Bauernverbandes (DBV) zufolge steht in der Bundesrepublik jeder neunte Arbeitsplatz mit der Agrarwirtschaft in Verbindung. Behält man das im Blick, stimmt nur noch sehr bedingt, was ein Kommentator des Neuen Deutschlands (14.7.) heraustrompetete: »Milch ist nicht systemrelevant.«

Wegen dieses Befundes ist ND-Redakteur Robert D. Meyer auch der Meinung, die Bauern, die »auf Teufel komm raus« viel zuviel von einem Produkt herstellten, sollten nicht schon wieder gerettet, sondern für die Überproduktion mindestens mit entschädigungsloser Mengendrosselung bestraft werden – und dafür, dass sie die Milch, die keiner haben will, »einfach solange hektoliterweise in den Ausguss oder vor das EU-Parlament« kippen, »bis die Subventionen weiter fließen«.

Es bedarf schon einer gehörigen Portion Ignoranz zu übersehen, welche Verzweiflung hinter dieser »dreisten Strategie« (Meyer) steckt und wie miserabel die Einkommenssituation einer großen Zahl vor allem kleiner und mittelgroßer Milchviehhalter auch schon vor der aktuellen Zuspitzung der Verhältnisse war, vom Übermaß an harter Arbeit gar nicht zu reden. Eine aktuelle Studie der Agrarsoziologin Karin Jürgens in Zusammenarbeit mit dem Kasseler Agrarwissenschaftler Onno Poppinga liefert einen Überblick über die Kosten der Milcherzeugung in den deutschen Bundesländern. Die Gesamtaufwendungen je Liter lagen demnach im vergangenen Jahr zwischen 39 Cent in Mecklenburg-Vorpommern und knapp 51 Cent in Bayern – nach Abzug der EU-Beihilfen. Die bekommen die Milchbauern genau wie alle anderen Landwirte pro Hek­tar Nutzfläche. Darüber hinaus erhalten sie: nichts – obwohl sie erheblich mehr Arbeitskräfte beschäftigen als reine Ackerbaubetriebe.

Im September 2015 kamen sie übrigens ohne Milchtanker nach Brüssel, aber sie zündeten in ihrer Wut Strohballen an, mancher warf Steine und trotzte mit Einwegcape den Wasserwerfern der Staatsgewalt. Danach gab es »Soforthilfen« in Höhe von 500 Millionen Euro, die längst in den Schuldendienst geflossen sind. Zu einer von vielen Landwirten selbst seit langem geforderten akuten Prämierung einer reduzierten Milchmenge war die EU-Kommission nicht bereit. Am 18. Juli dieses Jahres wurde in Brüssel dann ein weiteres Hilfspaket in Höhe von insgesamt 500 Millionen Euro beschlossen. 150 Millionen sollen dieses Mal direkt als Unterstützung an Landwirte gezahlt werden, die weniger Milch liefern. Verteilt auf alle EU-Länder ist das allerdings eine winzige Summe. Allein in der Bundesrepublik gibt es – noch – 71.000 Milchkuhhalter. Ginge dieses Geld komplett nach Deutschland, bekäme jeder von ihnen etwa 2.100 Euro. So viel verliert ein Betrieb mit 500 Kühen in drei Tagen, ein Hof mit 50 Tieren in einem Monat.

Der größte Teil aus dem Paket der EU, 350 Millionen Euro – davon erhält die BRD ca. 58 Millionen –, wird nur in weitere Zinserleichterungen oder in Bürgschaften für zusätzliche Kredite gesteckt. Wie Agrarkommissar Phil Hogan verweigert sich auch der deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) weiter jeder Form der administrativen Mengenbegrenzung. Der Staat könne und dürfe nicht in das Spiel der Marktkräfte eingreifen, wiederholt letzterer seit dem vergangenen Jahr wie ein Automat – ebenso wie das Mantra von der Erschließung neuer Exportmärkte, die die Lösung bringen soll.

Billigstrohstoff für die Industrie

Bislang deutet nichts darauf hin, dass die Kommission in Brüssel, die deutsche Bundesregierung und Organisationen wie der DBV an einer echten Lösung für die Landwirte interessiert sind. Sie alle spielen offenkundig das Spiel der Milchindustrie und vor allem der großen Einzelhandelsketten. Die wollen den Rohstoff Milch so billig wie möglich haben.

Von regional festgelegten, kostendeckenden Mindestpreisen, die die Landwirte für die Milch bekommen müssten, sprechen derzeit nur noch einige Linke-Politiker. Dabei wären sie, verbunden mit Auflagen wie der mittelfristigen Senkung der Kraftfuttergaben, ein sinnvoller Weg zum Abbau der Überproduktion einerseits und zu einer Verringerung der Sojaimporte aus Südamerika andererseits, wo deren Anbau zur Vertreibung Zehntausender, zur Abholzung von Wäldern, zur massiven Schädigung der Gesundheit von Menschen und der Umwelt führt. Für Mindestpreise und Mengenregulierung mittels Kraftfutterreduzierung und Weidehaltung spricht – neben der dadurch möglichen Sicherung einer menschenwürdigen Existenz von Bauern, einem längeren und stressreduzierten Leben für die Kühe und der Vermeidung von Importen – noch etwas: Schaffen Landwirte die Tiere ab, fällt kein Rinderdung mehr an. In der Folge setzen sie auf ihren Feldern vielfach mehr synthetischen Dünger ein, dessen Herstellung extrem energieaufwendig und dessen Anwendung grundwasserbelastend ist. Darüber hinaus könnte mit der Kombination von Preisuntergrenze und Mengenreduzierung die Flutung der Märkte in Entwicklungsländern mit billigem Milchpulver gestoppt werden.

Genau diese Art von Exporten aber will die EU-Kommission mit ihren Beschlüssen vom Juli weiter fördern. Denn erneut erklärte sie sich bereit, die Kosten für die Einlagerung von Magermilchpulver zu übernehmen. Das ist dann aber nicht verschwunden, sondern wird später sehr billig zum Beispiel in Westafrika verkauft – oder wieder auf den europäischen Markt geworfen, womit nach einer Erholung der Preise zu deren erneutem Absinken beigetragen wird.

Welche Folgen die Exporte nach Westafrika haben, zeigten die Autoren der Ende Juni ausgestrahlten SWR-Dokumentation »Milchflut. Melken bis zum Ruin« am Beispiel von Burkina Faso. Dort kostet der Liter Frischmilch aus einer Gemeinschaftsmolkerei von Kleinbauern dreimal so viel wie die gleiche Menge Getränk aus Milchpulver, das im Supermarkt daneben steht. Das bringt die heimischen Viehhalter in Not, denn sie werden ihre Produkte nicht mehr los. In Burkina Faso lebt ein Drittel der Menschen von der Tierhaltung. Ein Milchbauer hat dort drei bis fünf Kühe, von jeder bekommt er pro Tag gerade mal zwei Liter Milch. Diese Kleinproduzenten müssen heute mit Kollegen aus Europa konkurrieren, deren Kühe täglich 25 bis 30 Liter geben. Davon haben allerdings die Bauern in der EU wenig. Sie sind »längst zu Sklaven der Milchindustrie geworden«, sagt der oberbayrische Landwirt Josef Westenrieder im erwähnten Dokumentarfilm.

Teufelskreis

2015 wurden in der EU 159 Millionen Tonnen Milch ermolken, im Jahr zuvor waren es noch 148 Millionen Tonnen. Das hat zwar auch mit dem Wegfall der Milchquote zu tun. Etliche Betriebe investierten kurz vor dem absehbaren Ende der Mengenbegrenzung in größere neue Stallanlagen. Sie konnten also unmittelbar danach mehr Milch produzieren.

Doch Krisen gab es auch schon vor dem Ende der Quote. Zuletzt hatten die Landwirte 2009 mit Tiefpreisen zu kämpfen. In den 30 Jahren der Existenz der EU-Mengendeckelung sank die Zahl derer, die Milchkühe halten, um 80 Prozent auf 75.000. Ein wesentlicher Grund für das gewachsene Produktionsvolumen dürfte auch die Tatsache sein, dass eine Erhöhung der ermolkenen Menge noch immer die einzige Möglichkeit für die Landwirte ist, niedrige Preise zu kompensieren und so ihren vielfältigen Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können – ein Teufelskreis, denn dadurch sinken die Erlöse pro Liter weiter.

Irgendwann bleibt nur noch, die Kühe zu verkaufen: an einen Konkurrenten – oder an den nächsten Schlachthof. Nach Angaben der Agrarzeitung vom 24. Juni hat 2016 die Zahl der Kuhschlachtungen im Vergleich zum Vorjahr um 16 Prozent zugenommen.

Fraglich bleibt, ob sich der Preis bei sinkendem Angebot wirklich erhöht. Der Report der »Zentralen Milchmarkt Berichterstattung« vom 5. August zeigt, dass die erzeugte Menge in der Bundesrepublik aktuell deutlich unter dem Niveau von August 2014 liegt, als die Milchquote noch existierte und der durchschnittliche Preis pro Liter noch bei 38 Cent lag.

Kosten der Milcherzeugung: www.europeanmilkboard.org/de/special-content/produktions­kosten-der-milch.html

Aktuelle Daten zu Milchmengen und -preisen in der EU: www.milk.de

Forschungsprojekt zur Wirtschaftlichkeit einer Milchviehhaltung ohne Kraftfutter: www.landforscher.de

Datensammlung zur Lage der Landwirtschaft: www.bauernverband.de/situationsbericht-2015-16

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