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Aus: Literatur zur Buchmesse Frankfurt am Main, Beilage der jW vom 16.10.2019
Literatur

Wenn das Fleisch aufreißt

Los wird man sie nie: Colson Whiteheads Roman über die Besserungsanstalt Nickel Academy
Von Michael Saager
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Sämtliche Abbildungen dieser Beilage stammen aus der Graphic Novel »Wir waren Charlie« (Reprodukt) von Luz, in dem der frühere -Mitarbeiter den Anschlag auf das Satiremagazin 2015 verarbeitet. Sie erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Siehe Rezension Seite 13

»Am Tag seiner Verhaftung, kurz bevor der Deputy kam, lief im Radio eine Werbung für Fun Town. Er summte mit.« Der Vergnügungspark Fun Town, Elwood erinnert sich genau: Die weißen Kinder geben das Geld ihrer Eltern aus, die schwarzen schauen ihnen durch den Zaun dabei zu. Doch wäre Elwood, ein sympathischer, leicht nerdiger 16jähriger, inzwischen ohnehin zu alt für die eher kindlichen Vergnügungen. Karussell fahren, solche Sachen.

Mutter und Vater suchten das Weite, bloß weg aus Frenchtown in Tallahassee, ab nach Kalifornien. Den kleinen Elwood ließen sie zurück. Lange her. Gewissenhaftigkeit, Fleiß, Hartnäckigkeit und seine strenge, aber liebevolle Großmutter Harriet, bei der Elwood aufgewachsen ist, haben dem klugen Jungen ein Collegestipendium eingebracht, und das Anfang der 60er im mörderisch rassistischen Florida. Was für ein unfassbares Glück! Seine politische Sozialisation verdankt Elwood den Jim-Crow-Rassengesetzen, Reverend Martin Luther King und einem aufmerksamen Lehrer, einem Bürgerrechtler. Er denkt über sich: »Das war Elwood – genausoviel wert wie jeder andere.«

Der Gedanke wird ihm nichts nützen. Ein paar Tage später, rund 20 Seiten weiter in Colson Whiteheads so spannendem wie wichtigem Roman »Die Nickel Boys« – für den es leider weder Pulitzerpreis noch National Book Award gab, da der Autor sie bereits für seinen Vorgänger »Underground Railroad« über Sklaverei in den Südstaaten bekommen hat – befindet sich Elwood in der sogenannten Besserungsanstalt Nickel Academy, genauer gesagt im »Weißen Haus«, auch »Eiscremefabrik« genannt. Oberaufseher Spencer und ein behänder, kräftiger Helfer haben ihn geholt, ihn und drei andere Jungs. Elwood hatte sich in deren Streitigkeiten eingemischt, eines der vielen ungeschriebenen Gesetze gebrochen, die jede totale Institution kennt. Elwood (noch) nicht: Man mischt sich nun mal nicht ein, wenn zwei größere Jungs einen kleineren fertigmachen. Und man fährt als schwarzer Jugendlicher auch besser nicht per Anhalter ins zukünftige College. Der Fahrer, ein Schwarzer, hatte den Wagen gestohlen, Elwood wird wegen Mittäterschaft ins »Nickel« verfrachtet. Whitehead schildert das lakonisch-knapp. Die Fallhöhe indes, die aus dummem Zufall, Willkür und rassistischem Exempel resultiert, das ausgerechnet am superbraven Elwood statuiert wird, ist enorm. Und folgerichtig zugleich: Es kann jeden Schwarzen treffen, immer und überall. Und das wirklich Tragische daran ist, dass man sich nicht einmal zwingend in der US-amerikanischen Vergangenheit wähnt.

Tuscheln, Flüstern, Blicke. »Taschenlampenstrahlen tanzten durch den Raum.« Man kann die Angst der Jungs im Schlafsaal riechen. Sie wissen um die Torturen, die ihnen bevorstehen. Whitehead macht das sehr geschickt: Er ist nah dran an den Geschehnissen, den Emotionen seiner Protagonisten, ihren Gedanken. Er schaut analytisch genau hin, sein nüchtern beschreibender Erzählton indes erzeugt eine gewisse Distanz – so kann man als Leser noch klarer sehen. Bisweilen klarer, als einem lieb ist. Schrille phantastische Szenen, wie Whitehead sie in seinem Zombieroman »Zone One« durchaus humorvoll in Szene zu setzen wusste, oder nachgerade monströse Gewaltexzesse, mit denen man in »Underground Railroad« mitunter zu kämpfen hat, vermeidet Whitehead in »Die Nickel Boys«. Gewalthandlungen werden angedeutet oder angerissen, worüber sich das Bedrohliche verstärkt. Rührselig wird das Buch an keiner Stelle, aufrüttelnd wirkt es die ganze Zeit. Dass Whitehead die Themen Pädosexualität und sexualisierte Gewalt nahezu vollständig ausspart, ihnen, warum auch immer, nicht den angemessenen Raum einräumt, darf man als Schwäche des Romans betrachten.

Im »Weißen Haus« stinkt es nach Urin und anderen Substanzen. 28 Hiebe für einen der Täter, 70 fürs Opfer – verabreicht mit einem schweren Lederriemen, in den man eine Kerbe geschnitten hat, die dafür sorgt, dass das Fleisch aufreißt, wenn man sich bewegt. Elwood kapiert das System nicht, nach dem die Schläge verteilt werden. Wie auch? Absolute Macht, wie sie hier ausgeübt wird, schließt Willkür und Unberechenbarkeit unbedingt mit ein, Ohnmacht und Scham der ihr Unterworfenen verstärken sich so beträchtlich. Ein riesiger Industrieventilator verbreitet einen Höllenlärm und übertönt die Schreie der Jungs. Der Name »Eiscremefabrik« ergibt sich aus der Farbigkeit der schweren Verletzungen schwarzer bzw. der Blessuren und leichten Verletzungen, die die weißen Jungs nach einem nächtlichen Aufenthalt in dem ehemaligen Arbeitsschuppen davontragen. Nichts und niemand ist gleich in der nach ihrem Gründer Trevor Nickel benannten Academy, erst recht nicht die Narben. Elwood erwacht in der Krankenstation – mit zerfetzten Beinen.

»Die Nickel Boys« wird gerahmt von Prolog, Epilog und Danksagung, die es dem 1969 in New York geborenen Autor erlauben, Sujet und Zugang des nah an historischen Tatsachen entlang verfassten Buches sachlich zu erläutern. In der Danksagung schreibt Whitehead: »Dieser Roman ist fiktiv, alle Charaktere sind erfunden, inspiriert wurde er jedoch durch die Geschichte der Dozier School for Boys in Marianna.« Erst im Jahr 2011 wurde sie geschlossen. 2014 entdeckte man auf dem ehemaligen Anstaltsgelände im Zuge von Baumaßnahmen einen geheimen Friedhof mit über 40 im Boden verscharrten Leichen. Zu Tode geschundene Körper – kindliche und jugendliche Skelette mit schwersten Knochenbrüchen, eingeschlagenen Schädeln, Brustkörben voller Schrotladungen. Ans Licht kam endlich, was nie ans Licht hätte kommen sollen. Was nicht gesehen wurde, nicht gesehen werden wollte. Oder aber begrüßt wurde – die Dozier School, nicht zuletzt eine Folteranstalt für Schwarze. Der erste Satz des Buches lautet: »Sogar als Tote machen die Jungs noch Ärger.«

Der Unterricht, von dem Elwood sich einiges verspricht, entpuppt sich als Farce. Hinnehmbares Essen bekommen allein die Weißen, die Lebensmittel für die schwarzen Jungs werden auf dem Schwarzmarkt verhökert, statt dessen gibt es nährstoffarme, ungenießbare Pampe, was zu gefährlicher Unterernährung führt. »Black Beauty«, die Pferdepeitsche, die zum Einsatz kommt, wenn es wieder einmal gilt, einen schwarzen Jungen für ein besonders schweres Vergehen zu Tode zu peitschen, ist Teil der erschöpft-fragilen Vorstellungswelten, eine permanente Bedrohung. Elwood arrangiert sich mit den Verhältnissen, so gut es geht. Nach einer Weile gibt er auf, völlig zerbrechen wird er aber nicht. In dem lebensklugen Streuner Turner findet er einen Freund, der Elwood einmal als ausgesprochen zäh charakterisieren wird, eine Eigenschaft, die sich im Verlauf der episodisch-anekdotisch erzählten und sich dramatisch zuspitzenden Handlung als überaus wichtig erweisen wird. Der Plan, den Elwood entwickelt, um der Anstalt zu entkommen und sein letztes bisschen Würde zu retten, erweist sich als fatal naiv, der zweite, etwas bessere, kommt von Turner. Einer von beiden wird das Nickel überleben.

Im Prolog erzählt Whitehead von Big John Hardy aus Omaha, Teppichhändler im Ruhestand, der eine Website mit Informationen für die vor vielen Jahren entlassenen Nickel-Jungs pflegt. Man schickt Big John eine E-Mail mit seiner Nickel-Geschichte, und er postet sie mit einem Porträtfoto. »Und wenn man der eigenen Familie einen Link schickte, war das die Möglichkeit, zu sagen: Dort wurde ich zu dem, der ich heute bin.« Man kann die Anstalt verlassen. Los wird man sie nie.

Colson Whitehead: Die Nickel Boys. Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens, Hanser-Verlag, München 2019, 224 Seiten, 23 Euro

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