Zurück in die Zukunft
Von Claudia WangerinWir leben im Jahr 2020 – damit sollte eigentlich alles gesagt sein, wenn wieder mal jemand mit Geschlechterrollenklischee um die Ecke kommt, gegen die sich Frauen schon vor 100 Jahren gewehrt haben. Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts sind ein Mythos, der heute noch viele fasziniert: Eine Art Prototyp der »neuen Frau« von damals verkörpert Liv Lisa Fries als Charlotte Ritter in der Fernsehserie »Babylon Berlin«, die auf den Kriminalromanen von Volker Kutscher basiert. Auch die weiblichen Kreativen, die sich seinerzeit im Bauhaus ausbilden ließen, wurden anlässlich des 100jährigen Bestehens der Kunstschule 2019 wiederentdeckt und mit einer Veranstaltungsreihe in Berlin sowie einem Themenabend im Ersten Deutschen Fernsehen gewürdigt. Weniger würdigt das Bildungsbürgertum heute den Kampf der proletarischen Frauenbewegung in der Weimarer Republik für Lohngleichheit und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
Die damalige Aufbruchstimmung feministischer, freigeistiger und sozialrevolutionärer Frauen wurde durch den Faschismus brutal abgewürgt, viele der Protagonistinnen wurden ab 1933 inhaftiert, ermordet oder ins Exil gejagt. Auch nach Jahrzehnten der Aufarbeitung und des Gedenkens sind ihre Ziele noch lange nicht verwirklicht. Frauen leisten immer noch einen wesentlich größeren Teil der unbezahlten Sorgearbeit und erhalten im Durchschnitt für eine Erwerbsarbeitsstunde 21 Prozent weniger Lohn als Männer, wie die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung vor wenigen Tagen monierte. Altersarmut ist vor allem wegen der Kindererziehungszeiten meist weiblich. Ärztinnen werden nach wie vor kriminalisiert, wenn sie auf ihren Internetseiten über Schwangerschaftsabbrüche informieren – nach Paragraph 219a im Strafgesetzbuch ist dies verbotene »Werbung« –, während die Patientinnen Pflichtberatungsgespräche mit ihnen meist fremden Personen erdulden müssen, um straffrei zu bleiben, wenn sie solche Eingriffe vornehmen lassen. Das geborene Leben ist dann aber den politisch Verantwortlichen doch nicht wichtig genug, um beispielsweise für ausreichend Personal auf Kinderkrebsstationen zu sorgen. Bevorzugt wird gesundes, belastbares »Menschenmaterial«, und sei es nur als Reservearmee. Eine steigende Geburtenrate in westlichen Industrieländern wird trotz Digitalisierung, Umweltkrise und drohender Ressourcenknappheit immer noch als erstrebenswert angesehen – und wenn eine bayerische Lehrerin dazu Gegenargumente in einem Buch veröffentlicht, wird sie gemobbt und von einem Journalisten gefragt, ob sie schon einmal daran gedacht habe, sich umzubringen. Kinder, die schon da sind und Angst um ihre Zukunft haben, können derweil mehr als ein Jahr lang jeden Freitag auf die Straße gehen und fordern, dass Politiker in Sachen Umwelt- und Klimaschutz endlich auf Wissenschaftler hören – wenn es »der Wirtschaft« schaden würde, dann geht das einfach nicht im Kapitalismus. Nur die Kontrolle über Frauenkörper will der Staat, der laut Grundgesetz die natürlichen Lebensgrundlagen »auch in Verantwortung für die künftigen Generationen« zu schützen hat, unbedingt behalten.
Weltweit gesehen sieht es noch düsterer aus. Beispielsweise in der Türkei droht Frauen ein weiterer Schritt zurück ins Mittelalter, während der NATO-Staat regelmäßig mit deutschen Waffen ausgerüstet wird. Die türkische AKP-Regierung will Vergewaltiger minderjähriger Mädchen straffrei ausgehen lassen, wenn sich die Täter mit den Angehörigen ihrer Opfer einigen können, diese zur »Ehrenrettung« der Familie zu heiraten. Wenn die türkische Armee die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien (Rojava) angreift und auch dort die noch jungen Rechte von Frauen gefährdet, sind nicht nur dschihadistische Hilfstruppen, sondern auch Panzer aus deutscher Produktion vorne mit dabei.
Kurz gesagt: Feministische Forderungen sind weder von der sozialen Frage noch von der Umwelt- und der Friedensfrage zu trennen.
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