Die rote Fahne auf dem Rathaus
Von Nico PoppDie 72 Tage der Pariser Kommune im März, April und Mai 1871: 72 Tage, in denen in einer Metropole der bürgerlichen Welt nicht ein Ausschuss der besitzenden Klassen, sondern ein Rat der Arbeiter, kleinen Handwerker und Krämer – nicht »bewusst« und zielstrebig, sondern tastend und suchend – die Geschäfte führte. 72 Tage, in denen auf dem Pariser Hôtel de Ville die rote Fahne wehte.
Aber auch 72 Tage, die heute – irgendwo unterhalb der erstarrten Schemen und Schlagworte – im Grunde vergessen sind. Es sind die Kämpfe (oder besser: die Niederlagen) des 20. Jahrhunderts, die den historischen Diskurs der politischen Linken strukturieren – so es den denn, was keineswegs sicher ist, überhaupt noch gibt.
Dabei war das, was in und mit der Kommune von Paris von Blanquisten, Proudhonisten, Neojakobinern und den Anhängern der Internationalen Arbeiterassoziation verhandelt wurde, im strengen Sinne des Wortes »modern«. Die Klassenkämpfe, die sich 1871 in der Kommune verdichteten, erfassen heute nicht mehr nur, wie damals noch, einige wenige kapitalistische Zentren, sondern beinahe alle Ecken der Welt, in denen gearbeitet wird: Überall stehen sich Eigentümerklasse und Arbeiterklasse gegenüber. Was nicht ansatzweise im gleichen Maße gewachsen ist, ist das Bewusstsein darüber, dass es nicht damit getan ist, einfach »andere Leute« in die Rathäuser und Ministerien zu setzen, die dann den Alltag der Lohnarbeit für die Arbeiterklasse eine Spur erträglicher machen. Heute ist diese Einsicht fast ganz verschüttet – vielen Kommunarden allerdings war sie nicht fremd. Von einem ist diese in einer Diskussion gestellte Frage überliefert: »Welchen Unterschied macht es für mich, dass wir Versailles besiegen, wenn wir keine Antwort auf die soziale Frage finden, wenn also der Arbeiter unter den gleichen Bedingungen weiterlebt?«
Die Kommune war, auch wenn sie keine Gelegenheit hatte, dieses Problem praktisch anzufassen, eine Kampfansage an die bürgerliche Ordnung des Eigentums. Und sie wurde von der Gegenseite auch sofort als solche verstanden – viel schneller, als ihre Akteure selbst davon einen Begriff hatten. Das erklärt die gelegentlich missbilligte »Gutmütigkeit« der Kommunarden: Sie ließen am Tag ihres Sieges Mitglieder und Mitarbeiter der gestürzten Regierung nach Versailles abreisen und unternahmen nichts, um den Aufmarsch der Gegenrevolution, den diese dort ins Werk setzten, zu stören. Fast nichts wurde getan, um die Pariser Bewegung auf den Rest des Landes auszudehnen. »Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstandes; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feind gemessen hat«, hatte Friedrich Engels schon 20 Jahre vor dem Massaker geschrieben, mit dem die »Kräfte der Ordnung« die Kommune zerschlugen.
Die schmale jW-Beilage kann und will das weithin verlorene Wissen um die Pariser Kommune nicht rekonstruieren, sondern Leserinnen und Leser anhand der hier versammelten, durchaus unterschiedlichen – und mitunter sicher kontroversen – Perspektiven anregen, sich gründlicher mit den Kämpfen im Frühjahr 1871 zu beschäftigen. Mag vieles davon vor allem den Historiker angehen: Nach der politischen Seite hin gehören sie zum immer wieder neu anzueignenden Erbe für alle, die die Klassengesellschaft und ihre politische Ordnung zum Teufel wünschen.
Engels hat über die Kommune geschrieben, sie habe gezeigt, wie der Arbeiterklasse die politische Herrschaft »ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß« fallen könne, aber eben auch, »wie unmöglich« damals »diese Herrschaft der Arbeiterklasse war«. Der heute erreichte Stand der materiellen und immateriellen Machtmittel des bürgerlichen Staates stellt sicher, dass »ganz von selbst« gar nichts mehr passieren wird. Ob die »Herrschaft der Arbeiterklasse« – oder wie immer man den damit gemeinten politischen Inhalt in Zukunft nennen wird – auch 150 Jahre später noch »unmöglich« ist, werden die vor uns liegenden Kämpfe zeigen. Dass sie kommen werden, ist sicher.
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